Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 94 I 63



94 I 63

10. Auszug aus dem Urteil vom 24. Januar 1968 i.S. Stadtgemeinde Chur
gegen Curiaedes AG und Grosser Rat des Kantons Graubünden. Regeste

    Gemeindeautonomie.

    Ist die in BGE 93 I 154 ff. und 427 ff. erfolgte Änderung der
Rechtsprechung darüber, wann eine Gemeinde in bezug auf die Rechtsetzung
autonom sei und wann diese Autonomie verletzt sei, auf die Rechtsanwendung
(Anwendung von Gemeinderecht durch die Gemeindebehörden) auszudehnen? Frage
offen gelassen.

Sachverhalt

                       Aus dem Tatbestand:

    Am 10. April 1959 erhielt die Curiaedes AG vom Stadtpräsidium
Chur die Bewilligung, auf einer Liegenschaft im Stadtzentrum ein Wohn-
und Geschäftshaus mit sechs Geschossen und einem Walmdach zu bauen. Am
6. April 1960 erteilte ihr das Stadtpräsidium die Bewilligung, statt des
Walmdachs ein Flachdach mit einem Attikageschoss zu erstellen. In der Folge
ersuchte sie um die Bewilligung, im Attikageschoss anstelle von Estrich-
und Archivräumen Wohn- und Arbeitsräume einzurichten, wurde aber vom
Stadtrat durch Entscheid vom 13. Oktober 1965 unter Hinweis auf Art. 63
des städtischen Baugesetzes vom 27. Februar 1960 (BG), der jeden Ausbau
des Dachstockes ausschliesse, abgewiesen. Einen Rekurs hiegegen hiess der
Kleine Rat des Kantons Graubünden dahin gut, dass er den Stadtrat anwies,
alle Räume des Attikageschosses als Wohn- und Arbeitsräume benutzen
zu lassen, sofern sie den einschlägigen Vorschriften des BG (minimale
Raummasse, Fensterflächen usw.) entsprechen. Die Stadt Chur rekurrierte
hiegegen erfolglos an den Grossen Rat und führt gegen dessen Beschluss
staatsrechtliche Beschwerde, mit der sie Verletzung des Art. 4 BV durch
willkürliche Anwendung des BG und, dem Sinne nach, auch Verletzung der
Gemeindeautonomie geltend macht. Das Bundesgericht weist ab.

Auszug aus den Erwägungen:

                       Aus den Erwägungen:

    Wie das Bundesgericht in BGE 91 I 42 Erw. 4 und 92 I 375 Erw. 2
festgestellt hat und unbestritten ist, fällt das öffentliche Baurecht
im Kanton Graubünden grundsätzlich in den Bereich der den Gemeinden in
Art. 40 Abs. 2 KV gewährleisteten Autonomie. Die Gemeinden haben daher
auf diesem Gebiet, wie es dort heisst, das "Recht der selbständigen
Gemeindeverwaltung mit Einschluss der niedern Polizei" und sind "befugt,
die dahin einschlagenden Ordnungen festzusetzen".

    Die Beschwerdeführerin nimmt ohne weiteres an, dass diese Autonomie
verletzt werde, wenn der Grosse Rat eine Vorschrift ihres BG in
willkürlicher Weise (anders als der Stadtrat) auslege. Damit setzt sie
sich jedoch in Widerspruch zur bisherigen langjährigen Rechtsprechung des
Bundesgerichts, ohne sich mit dieser irgendwie auseinanderzusetzen. Das
Bundesgericht hat in seiner neuern Rechtsprechung angenommen, dass die
Frage der Gemeindeautonomie eine solche der Zuständigkeit sei, dass eine
Gemeinde insoweit autonom sei, als ihr durch Verfassung oder Gesetz freies
Ermessen in Rechtsetzung und Verwaltung eingeräumt werde und sie dieses
Ermessen frei von staatlicher Kontrolle betätigen dürfe; eine kantonale
Behörde verletze die Gemeindeautonomie nur, wenn sie sich eine ihr nicht
zustehende Entscheidungsbefugnis anmasse oder ihre Zuständigkeit formell
überschreite (vgl. BGE 65 I 131 Erw. 2 und 3, 68 I 86, 83 I 123/4,
84 I 203, 89 I 111/2, 91 I 42 Erw. 3). Nach dieser Rechtsprechung, die
freilich kritisiert worden ist (IMBODEN, Gemeindeautonomie und Rechtsstaat,
Festgabe für Giacometti, 1953, S. 103; HANS HUBER, ZBJV 94/1958 S. 469/70,
100/1964 S. 339 und 419/20), ist die Gemeindeautonomie nicht verletzt,
wenn eine kantonale Instanz, die zur freien Überprüfung einer von einer
Gemeindebehörde in Anwendung von Gemeinderecht erlassenen Verfügung befugt
ist, sich dabei irrt, das Gemeinderecht falsch oder gar willkürlich auslegt
(BGE 83 I 123 Erw. 3 und 4, 89 I 113/5). Geht man hievon aus, so ist die
vorliegende Beschwerde ohne weiteres abzuweisen, da der Grosse Rat, wie im
angefochtenen Entscheid festgestellt und in der Beschwerde nicht bestritten
wird, die Auslegung und Anwendung des BG frei überprüfen durfte (Art. 4
der VO vom 1. Dezember 1942 über das Verfahren in Verwaltungsstreitsachen
vor dem Kleinen Rat), so dass er seine Zuständigkeit auch dann nicht
überschritten hat, wenn die von ihm vertretene Auslegung des BG unrichtig
oder, wie die Beschwerdeführerin behauptet, willkürlich sein sollte.

    Nun hat das Bundesgericht aber neuestens seine Rechtsprechung
geändert und inbezug auf die Überprüfung der kommunalen Rechtsetzung
durch kantonale Behörden die Zuständigkeit dieser Behörden (bzw. den
Umfang ihrer Prüfungsbefugnis) als Kriterium zur Bestimmung des Umfangs
der Gemeindeautonomie aufgegeben; es hat angenommen, eine Gemeinde sei
ohne Rücksicht darauf, ob dem Kanton die Rechts- oder Ermessenskontrolle
zusteht, insoweit autonom, als das kantonale Recht sie zur Rechtsetzung
ermächtige und ihr dabei eine relativ erhebliche Entscheidungsfreiheit
lasse; die Gemeindeautonomie sei schon verletzt, wenn eine an sich zur
Überprüfung des kommunalen Erlasses zuständige kantonale Behörde denselben
rechtswidrig aufhebt, weil sie eine in Wirklichkeit nicht bestehende
Rechtsverletzung annimmt oder sonstwie ihre Rechtskontrolle oder die ihr
gegebenenfalls zustehende Ermessenskontrolle willkürlich handhabt (BGE 93 I
160 Erw. 5 und 431 Erw. 3). Angesichts dieser Änderung der Rechtsprechung
liegt es nahe, auch in bezug auf die kommunale Verwaltungstätigkeit nicht
mehr an der Auffassung festzuhalten, dass die Gemeindeautonomie nur durch
eine formelle Überschreitung der Zuständigkeit der kantonalen Behörde,
nicht aber durch den materiellen Inhalt ihres Entscheids verletzt
werden könne. Die einer Gemeinde eingeräumte Autonomie erscheint als
fragwürdig, wenn sie zwar eigenes Recht setzen darf und sich gegen
Eingriffe in diese Befugnis wehren kann, aber zusehen muss, wie das
von ihr gesetzte Recht von einer kantonalen Behörde dadurch missachtet
wird, dass diese es unrichtig oder willkürlich oder überhaupt nicht
anwendet (vgl. hinsichtlich des kantonalen Rekursrechts der Gemeinde:
IMBODEN, Schweiz. Verwaltungsrechtsprechung, Ergänzungsheft 1 Bem. V
zu Nr. 106; ZBl 1964 S. 324). Doch lässt sich auch die Auffassung
vertreten, eine für den Einzelfall getroffene Verfügung einer kommunalen
Verwaltungsbehörde verdiene nicht im gleichen Masse Schutz wie die autonome
Satzung, die eine allgemeine Ordnung zum Inhalt hat und das Ergebnis
demokratischer Willensbildung ist; die Gemeinde habe in den Fällen, wo
die von der kantonalen Behörde vertretene Auslegung auf Unklarheit oder
Lückenhaftigkeit des Gemeinderechts zurückzuführen ist, die Möglichkeit,
den Gemeindeerlass zu ändern oder zu ergänzen und damit ihrer Auffassung
für die Zukunft zum Durchbruch zu verhelfen. Sodann erscheint das
Rechtsschutzbedürfnis der Gemeinde auch deshalb kleiner, weil infolge
des fortschreitenden Ausbaus der kantonalen Verwaltungsgerichtsbarkeit
immer mehr Streitigkeiten zwischen Bürger und Gemeinde von richterlichen
statt von politischen Behörden beurteilt werden. Ob und inwieweit es
sich rechtfertigt, die in BGE 93 I 154 ff. und 427 ff. in bezug auf die
kommunale Rechtsetzung vorgenommene Änderung der Rechtsprechung auf
die Rechtsanwendung auszudehnen, braucht indes im vorliegenden Falle
nicht entschieden zu werden. Da das Bundesgericht die Auslegung und
Anwendung von Gemeinderecht nur unter dem beschränkten Gesichtswinkel der
Willkür überprüfen kann, könnte es gegen die fehlerhafte Anwendung durch
eine kantonale Behörde auf jeden Fall nur dann zugunsten der Gemeinde
einschreiten, wenn diese Anwendung willkürlich, d.h. mit dem Wortlaut
und Sinn der in Betracht fallenden Bestimmungen unvereinbar, mit keinen
vernünftigen Gründen zu vertreten wäre. Dem von der Beschwerdeführerin
erhobenen Vorwurfe der Willkür hält aber, wie sich aus den folgenden
Erwägungen ergibt, die vom Kleinen und vom Grossen Rat vertretene Auslegung
des BG der Stadt Chur stand.