Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 94 I 551



94 I 551

76. Urteil vom 6. November 1968 i.S. K. gegen X. und Basel-Landschaft,
Staatsanwaltschaft und Obergericht. Regeste

    Staatsrechtliche Beschwerde.

    Zur Frage der Legitimation des Geschädigten im Strafprozess (Erw. 1).

    Inwieweit ist derjenige, der in der Sache selbst nicht legitimiert
ist, zur Rüge von Verfahrensmängeln legitimiert? (Erweiterung der
Rechtsprechung; Erw. 2).

    Rechtliches Gehör.

    Eine Rechtsmittelinstanz ist zum Eintreten auf Rügen und Anträge
nur insoweit verpflichtet, als sie zu deren Beurteilung zuständig ist
(Erw. 3).

    Strafverfahren im Kanton Basel-Landschaft:

    -  Zuständigkeit des Obergerichts als Beschwerdeinstanz gegenüber
Einstellungsbeschlüssen der Überweisungsbehörde (Erw. 3).

    - Stellung des Geschädigten im Untersuchungsverfahren (Erw. 4).

Sachverhalt

    A.- Der Beschwerdeführer K. leitete im Januar 1963 gegen N. in
Münchenstein eine Betreibung ein, die am 22. September 1965 zur Ausstellung
eines Verlustscheins führte.

    Am 20. Dezember 1966 reichte K. beim Statthalter- und Untersuchungsamt
des Bezirks Arlesheim gegen X., der in jenem Betreibungsverfahren
als Pfändungsbeamter tätig gewesen war, Strafklage wegen Betrugs,
Amtsmissbrauchs, ungetreuer Geschäftsführung und Pfändungsbetrugs
ein. Der Untersuchungsrichter zog die Betreibungsakten bei, vernahm die
Pfändungsbeamten X. und Y. als Angeschuldigte sowie K. als Geschädigten
ein und überwies die Akten hierauf der Staatsanwaltschaft. Auf deren
Antrag beschloss die Überweisungsbehörde des Kantons Basel-Landschaft am
25. August 1967, das Strafverfahren mangels eines strafbaren Tatbestandes
einzustellen und der Sache keine weitere Folge zu geben.

    Gegen diesen Beschluss führte K. beim Obergericht des Kantons
Basel-Landschaft Beschwerde mit dem Antrag, es habe die Überweisung des
Verfahrens an das zuständige Gericht zu erfolgen zur Beurteilung von X. und
Mitbeteiligte. Zur Begründung machte er geltend, er sei durch wesentliche
Verfahrensmängel benachteiligt worden. Der Untersuchungsrichter habe
einem von ihm gestellten Antrag um Beweissicherung nicht entsprochen;
ferner sei das Verfahren eingestellt worden, ohne dass ihm der Abschluss
der Untersuchung angezeigt oder Einsicht in die Akten gewährt worden
sei. In einer Beilage zur Beschwerde äusserte sich der Beschwerdeführer
zu den materiellen Fragen.

    Das Obergericht wies die Beschwerde mit Beschluss vom 27. Februar
1968 ab. In den Erwägungen führte es aus, dass das Betreibungsamt wohl
"auffallend unpräzis" gearbeitet habe, doch fehle es an den notwendigen
Tatbestandsvoraussetzungen für die eingeklagten Delikte. Zu den formellen
Rügen des Beschwerdeführers nahm das Obergericht weder in der Begründung
noch im Dispositiv Stellung.

    B.- Gegen diesen Beschluss erhob K. staatsrechtliche Beschwerde wegen
Verletzung des Art. 4 BV. Er beantragt, den Einstellungsbeschluss der
Überweisungsbehörde vom 25. April 1967, geschützt durch den Entscheid des
Obergerichts vom 27. Februar 1968, aufzuheben. Zur Begründung macht er im
wesentlichen geltend: Das Obergericht habe sich ausschliesslich mit den nur
einen Anhang zur Beschwerde bildenden Ausführungen des Beschwerdeführers
zu den materiellen Fragen befasst. Dagegen sei es auf die eigentlichen
Beschwerdegründe (Verweigerung der geforderten Beweissicherung und der
dem Beschwerdeführer gemäss den §§ 103 und 104 StPO zustehenden Rechte)
überhaupt nicht eingegangen und habe dem Beschwerdeführer damit das
rechtliche Gehör verweigert.

    C.- Das Obergericht des Kantons Basel-Landschaft beantragt Abweisung
der Beschwerde. Die Staatsanwaltschaft und der Beschwerdegegner X. haben
auf Vernehmlassung zur Beschwerde verzichtet. - Das Bundesgericht weist
die Beschwerde ab aus folgenden

Auszug aus den Erwägungen:

Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- Nachdem das Bundesgericht während Jahrzehnten auf staatsrechtliche
Beschwerden eingetreten war, die der Geschädigte im Strafprozess gegen
die Einstellung des Strafverfahrens oder gegen ein freisprechendes Urteil
erhoben hatte (BGE 21 S. 930, 33 I 762, 47 I 454, 66 I 262), änderte es
im Jahre 1943 seine Rechtsprechung und sprach seither dem Geschädigten
die Legitimation zu solchen Beschwerden ab ohne Rücksicht auf die
Rechtsstellung, die ihm das kantonale Recht im Strafverfahren einräumte
(BGE 69 I 18 und 90, 70 I 79, 72 I 293 und 90 I 66 Erw. 1). Massgebend
hiefür war die Überlegung, dass der Strafanspruch, um den es im
Strafverfahren geht, ausschliesslich dem Staate zustehe, nur dieser an der
Strafverfolgung unmittelbar interessiert sei und die staatsrechtliche
Beschwerde des Geschädigten auf eine nach Art. 88 OG unzulässige
Popularbeschwerde hinausliefe. Diese Rechtsprechung ist kritisiert worden
mit der Begründung, die Gegenüberstellung von öffentlichen und privaten
Interessen sei als Ausgangspunkt für die Zuerkennung der Legitimation zur
staatsrechtlichen Beschwerde ungeeignet, da sie übersehe, dass private
Interessen gleichzeitig auch öffentliche Interessen sein und dass im
öffentlichen Interesse private Interessen abgegrenzt sein können (MARTI,
Die staatsrechtliche Beschwerde, 1967, S. 106). In der Tat kann man sich,
was den Geschädigten im Strafprozess betrifft, fragen, ob der Umstand, dass
diesem in sozusagen allen kantonalen Strafprozessgesetzen eine besondere
Rechtsstellung im Strafverfahren eingeräumt wird, nicht auf der allgemeinen
Rechtsauffassung beruhe, dass auch er ein schutzwürdiges Interesse an
der Strafverfolgung habe, und ob eine Verletzung dieses Interesses nicht
mit staatsrechtlicher Beschwerde soll geltend gemacht werden können. Die
Frage kann offen bleiben, da auf die vorliegende Beschwerde auch dann
einzutreten ist, wenn dem Geschädigten die Legitimation zur Anfechtung
von Einstellungsbeschlüssen grundsätzlich abgesprochen wird.

Erwägung 2

    2.- In BGE 74 I 168 Erw. 3 hat das Bundesgericht unter Hinweis
auf frühere nichtveröffentlichte Urteile freilich erklärt, wenn dem
Beschwerdeführer die Legitimation in der Sache selbst fehle, so sei sie
auch nicht gegeben, um die Verletzung von Verfahrensvorschriften und
der vom kantonalen Recht gewährten Parteirechte zu rügen. Von dieser
in BGE 89 I 209 und 279 sowie in zahlreichen nichtveröffentlichten
Urteilen bestätigten Rechtsprechung ist das Bundesgericht indes in den
letzten Jahren immer weiter abgerückt. In BGE 90 I 66 Erw. 2 hat es
zunächst entschieden, zur Rüge, dass ein abgelehnter oder zum Ausstand
verpflichteter Richter an der Entscheidung teilgenommen habe, sei auch
eine Partei befugt, der die Legitimation in der Sache selbst abgehe, da der
unmittelbar aus Art. 4 BV folgende Anspruch auf ordnungsgemässe Besetzung
eines Gerichtes kein materielles Interesse voraussetze und es dabei nicht
um eine blosse Verfahrensfrage gehe. In der Folge wurde entsprechendes
angenommen für die Geltendmachung unmittelbar aus Art. 4 BV folgender
Verfahrensrechte wie das Recht auf Teilnahme an einem Augenschein und auf
prozessuale Gleichbehandlung (BGE 91 I 91 Erw. 1) sowie das Recht, ein im
Gesetz vorgesehenes Rechtsmittel zu ergreifen (BGE 92 I 15 Erw. 1 Abs. 2).
Die Begründung, mit der die Legitimation auf die Geltendmachung unmittelbar
aus Art. 4 BV folgender Verfahrensrechte beschränkt wurde, vermag jedoch
nicht zu überzeugen, wie gerade das zuletzt erwähnte Urteil zeigt, wo das
Recht zur Ergreifung der im (kantonalen) Gesetz vorgesehenen Rechtsmittel
als ein unmittelbar aus Art. 4 BV folgendes Recht bezeichnet wird. Zu
einer befriedigenden Lösung gelangt man nur dann, wenn man demjenigen,
dem das kantonale Recht Parteirechte einräumt, die Legitimation zur
Geltendmachung derselben mit staatsrechtlicher Beschwerde schlechthin
zugesteht ohne Rücksicht darauf, ob es sich um schon unmittelbar aus
Art. 4 BV folgende Ansprüche oder um solche handelt, die der Partei nur
nach dem kantonalen Recht zustehen. Als unerheblich erscheint es auch,
ob das kantonale Recht jemandem Parteistellung zur Wahrung rechtlicher
oder bloss tatsächlicher Interessen einräumt (vgl. BGE 91 I 92 Erw. 2
Abs. 1). Dagegen ist demjenigen, dem die Legitimation in der Sache
selbst abgeht, die Legitimation nicht zur Geltendmachung irgendwelcher
Verfahrensmängel zuzuerkennen, sondern nur zur Geltendmachung von Rechten,
die ihm das kantonale Recht wegen seiner Stellung als am Verfahren
beteiligter Partei einräumt und deren Missachtung einer formellen
Rechtsverweigerung gleich oder nahe kommt. Wer nach kantonalem Recht
als Geschädigter im Strafprozess befugt ist, Beweisanträge zu stellen,
kann daher mit staatsrechtlicher Beschwerde geltend machen, man habe
ihm in Missachtung kantonaler Vorschriften keine Gelegenheit zur Stellung
solcher Anträge gegeben oder habe solche Anträge übergangen, nicht dagegen,
sie seien zu Unrecht wegen Unerheblichkeit oder aufgrund antizipierter
Beweiswürdigung abgewiesen worden, und noch weniger, das Ergebnis des
abgenommenen Beweises sei willkürlich gewürdigt worden.

    Geht man hievon aus, so ist auf die vorliegende Beschwerde einzutreten,
denn mit ihr wirft der Beschwerdeführer dem Obergericht eine Verweigerung
des rechtlichen Gehörs und der Überweisungsbehörde Missachtung der ihm
als Geschädigten im Untersuchungsverfahren zustehenden Parteirechte vor.

Erwägung 3

    3.- Die Beschwerde erblickt die dem Obergericht vorgeworfene
Gehörsverweigerung darin, dass das Obergericht auf die gegenüber der
Überweisungsbehörde erhobenen formellen Rügen überhaupt nicht eingegangen
sei.

    Einer Verweigerung des rechtlichen Gehörs macht sich eine kantonale
Behörde dadurch, dass sie auf ihr mit einem Rechtsmittel unterbreitete
Rügen und Anträge nicht eintritt, nur dann schuldig, wenn deren
Beurteilung in ihre Zuständigkeit fällt, und diese Zuständigkeit hat der
Beschwerdeführer, der der Behörde Gehörsverweigerung vorwirft, darzutun
(vgl. BGE 87 I 246).

    In der vorliegenden Beschwerde wird mit keinem Worte darzutun
versucht, dass das Obergericht zuständig sei, die vom Beschwerdeführer
inbezug auf das Untersuchungsverfahren erhobenen Rügen formeller Art zu
beurteilen. Will man im Hinblick darauf, dass er rechtsunkundig ist,
über diesen Mangel hinwegsehen und die Zuständigkeit des Obergerichts
aufgrund der massgeblichen Vorschriften prüfen, so ist sie zu verneinen.

    Das Obergericht übt zwar nach § 3 des Gerichtsverfassungsgesetzes
vom 30. Oktober 1941 die Aufsicht über die untern Gerichte und die
Überweisungsbehörde aus. Dabei handelt es sich jedoch um die allgemeine
Aufsicht über die Geschäftsführung dieser Behörden. Die Zuständigkeit des
Obergerichts als Rechtsmittelinstanz bestimmt sich nach den einschlägigen
Vorschriften der ZPO und der StPO. In welchen Fällen gegenüber den
Beschlüssen der Überweisungsbehörde beim Obergericht Beschwerde geführt
werden kann, ist in § 111 StPO abschliessend umschrieben. Danach ist die
Beschwerde im Falle der Einstellung des Verfahrens ausser im Kostenpunkt
(Ziff. 4) zulässig, "wenn die Staatsanwaltschaft oder der Verletzte
dartun will, es habe eine Überweisung stattzufinden" (Ziff. 2). Daraus
ist zu schliessen, dass das Obergericht seinen Entscheid aufgrund der
Akten zu fällen hat und dass dieser Entscheid nur auf Gutheissung der
Beschwerde und Überweisung des Falles an das zuständige Gericht oder aber
auf Abweisung der Beschwerde lauten kann. Dagegen steht es ihm offenbar
nicht zu, die Akten zur Ergänzung der Akten an die Überweisungsbehörde,
die Staatsanwaltschaft oder den Untersuchungsbeamten zurückzuweisen. Der
Beschwerdeführer hat denn auch mit seiner Beschwerde an das Obergericht
lediglich die Überweisung des Falles an das zuständige Gericht verlangt,
nicht aber, und zwar auch nicht eventuell, Rückweisung zur Behebung der
gerügten Verfahrensmängel. War aber das Obergericht nicht zuständig, die
Rügen formeller Natur zu beurteilen und die Ergänzung der Untersuchung
anzuordnen, so hat es dem Beschwerdeführer das rechtliche Gehör nicht
verweigert, wenn es sich mit diesen Rügen nicht auseinandergesetzt hat.

Erwägung 4

    4.- Die staatsrechtliche Beschwerde richtet sich nach Antrag und
Begründung nicht nur gegen den Entscheid des Obergerichts vom 27. Februar
1968, sondern auch gegen den Beschluss der Überweisungsbehörde vom
25. August 1967 und wirft auch dieser Behörde vor, dass sie gegen den
unkorrekten Abschluss des Untersuchungsverfahrens nicht eingeschritten
sei. Das ist zulässig, da nach der neusten Rechtsprechung des
Bundesgerichts mit der staatsrechtlichen Beschwerde gegen den Entscheid
einer kantonalen Rechtsmittelinstanz, deren Prüfungsbefugnis beschränkt
ist, gleichzeitig auch noch der Entscheid der untern kantonalen Instanz
angefochten werden kann, und zwar auch mit Rügen, welche, wie hier, bei der
kantonalen Rechtsmittelinstanz nicht erhoben werden konnten (BGE 94 I 460).

    a) Der Beschwerdeführer beanstandet als Verweigerung des rechtlichen
Gehörs, dass das Verfahren eingestellt wurde, ohne dass ihm der Schluss der
Untersuchung angezeigt und gemäss § 104 StPO Einsicht in die Akten gewährt
worden sei. Die Rüge ist unbegründet. Aus den Akten ergibt sich, dass der
Beschwerdeführer bei seiner Einvernahme vom 23. Juni 1967 eingehend über
die Aussagen der Angeschuldigten X. und Y. unterrichtet worden ist; der
Inhalt ihrer Aussagen wurde ihm wörtlich bekannt gegeben. Er konnte sich
dazu äussern und hat dies bei seiner Einvernahme auch sofort mündlich
getan. Überdies hat er in einem Schreiben vom 29. Juni 1967 zu jenen
Aussagen Stellung genommen. In diesem Schreiben stellte er nicht etwa das
Gesuch um (erneute) Akteneinsicht, ging also offenbar selber davon aus,
die Akten seien ihm bekannt gewesen. Bei dieser Sachlage hat die Behörde
weder § 104 StPO verletzt noch dem Beschwerdeführer das rechtliche Gehör
verweigert, wenn sie davon absah. ihm vom Schluss des Verfahrens durch
eine formelle Anzeige Kenntnis zu geben.

    b) Der Beschwerdeführer rügt weiter, dass seinem in der Eingabe vom
29. Juni 1967 gestellten Antrag um "Beweissicherung" nicht entsprochen
worden sei. Der Untersuchungsbeamte hat zu diesem Antrag nicht ausdrücklich
Stellung genommen. Er hat ihn aber dadurch stillschweigend abgewiesen, dass
er die Akten am 20. Juli 1967 der Staatsanwaltschaft übermittelte und damit
zum Ausdruck brachte, dass er die Untersuchung für vollständig erachte (§
106 StPO). Dieses Vorgehen ist aus dem Gesichtspunkt des Art. 4 BV nicht
zu beanstanden. Der Angeschuldigte X. hatte eine ihm vom Beschwerdeführer
vorgeworfene Nachlässigkeit beim Pfändungsvollzug als "üblich", "nach
Usanz" bezeichnet. Unter Bezugnahme hierauf ersuchte der Beschwerdeführer
um "Beweissicherung" dafür, dass sich die Betreibungsämter usancegemäss
gegen das SchKG vergehen. Anlass zu Erhebungen darüber, ob allenfalls auch
andere Betreibungsbeamte sich die gleiche Nachlässigkeit zuschulden kommen
lassen, bestand indes nicht, da dies für die (in der Folge sowohl von der
Staatsanwaltschaft als auch von der Überweisungsbehörde verneinte) Frage,
ob X. eine strafbare Handlung begangen habe, offensichtlich bedeutungslos
gewesen wäre. Jedenfalls hat der Untersuchungsbeamte dadurch, dass er
dem Antrag des Beschwerdeführers um "Beweissicherung" nicht entsprach,
im Rahmen des ihm zustehenden Ermessens (§ 104 Abs. 3 StPO) gehandelt
und dem Beschwerdeführer das rechtliche Gehör nicht verweigert.