Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 94 I 351



94 I 351

49. Auszug aus dem Urteil vom 18. September 1968 i.S. Ortsgemeinde
Krillberg gegen den Grossen Rat des Kantons Thurgau. Regeste

    Änderungen der Gemeindegebietseinteilung.

    Legitimation der Gemeinde zur staatsrechtlichen Beschwerde gegen den
Entscheid, durch den sie von einer kantonalen Behörde mit andern Gemeinden
vereinigt wird (Erw. 2).

    Änderungen der Gemeindegebietseinteilung. Voraussetzungen nach §
45 thurg. KV. Verfassungsmässigkeit und Auslegung von § 2 Abs. 2 des
Gemeindeorganisationsgesetzes, wonach der Grosse Rat Änderungen der
Gebietseinteilung auch dann beschliessen kann, wenn nicht alle beteiligten
Gemeinden zustimmen. Anwendung auf die Vereinigung von vier Gemeinden
gegen den Widerstand von zwei derselben (Erw. 3 und 4).

Sachverhalt

    A.- Das thurg. Gesetz vom 4. April 1944 über die Organisation der
Gemeinden und das Bürgerrecht (GOG) be stimmt in

    § 1. Die Orts-, Munizipal- und Schulgemeinden bilden die Grundlage
der örtlichen und staatlichen Verwaltung des Kantons Thurgau.

    Die Ortsgemeinden bilden die Grundlage für die politische
Gemeindeeinteilung des Kantons.

    Die Munizipalgemeinden umfassen das Gebiet je einer oder mehrerer
Ortsgemeinden.

    § 2. Änderungen der Gebietseinteilung können vom Grossen Rate
beschlossen werden, wenn alle beteiligten Orts- und Munizipalgemeinden
zugestimmt haben.

    Wo sich aus triftigen Gründen Änderungen der Gebietseinteilung
aufdrängen, kann der Grosse Rat solche auf Antrag des Regierungsrates
auch dann beschliessen, wenn nicht alle beteiligten Gemeinden zustimmen.

    Der Grosse Rat regelt auf Antrag des Regierungsrates die rechtlichen
Wirkungen der Änderungen.

    B.- Die Munizipalgemeinde Wängi umfasst die vier Ortsgemeinden Wängi,
Anetswil, Tuttwil und Krillberg. Nach der Volkszählung von 1960 hatte die
Ortsgemeinde Wängi 1681 Einwohner, während die drei übrigen Ortsgemeinden
zusammen 907 Einwohner zählten.

    Am 8. April 1964 ersuchten die Vorstände der politischen Vereinigungen
und Parteien der Munizipalgemeinde Wängi den Gemeinderat, an der nächsten
Munizipalgemeindeversammlung eine Kommission bestellen zu lassen mit dem
Auftrag, alle mit der Bildung einer Einheitsgemeinde zusammenhängenden
Fragen abzuklären. Die Munizipalgemeindeversammlung beschloss am 15. April
1964 in geheimer Abstimmung die Bildung einer solchen Kommission. Diese
veröffentlichte über ihre Erhebungen im Frühjahr 1965 einen Bericht,
der die finanziellen, administrativen und sonstigen Vorteile eines
Zusammenschlusses aller Ortsgemeinden und der Munizipalgemeinde zu einer
Einheitsgemeinde erörterte und mit dem Entwurf eines Vereinigungsvertrages
sowie mit 8 Anträgen über das weitere Vorgehen schloss. Danach sollte
zunächst in allen vier Ortsgemeinden und hernach in der Munizipalgemeinde
über die Annahme oder Ablehnung des Vereinigungsvertrages geheim abgestimmt
werden; bei Annahme des Vertrages durch alle Gemeinden sei die Genehmigung
des Grossen Rates einzuholen, bei teilweiser Ablehnung dagegen dem
Regierungsrat ein "Situationsbericht" unter Beilage sämtlicher Akten
zu erstatten. Eine ausserordentliche Versammlung der Munizipalgemeinde
stimmte am 2. Oktober 1965 den 8 Anträgen der Kommission zu.

    Am 27. November 1965 wurde in den vier Ortsgemeinden über den
Zusammenschluss abgestimmt. Dabei ergaben sich in Wängi und Tuttwil
annehmende, in Anetswil und Krillberg ablehnende Mehrheiten. In Krillberg,
wo von 43 Stimmberechtigten 39 anwesend waren, stimmten 15 für und 23
gegen den Zusammenschluss. Bei der am 19. Februar 1966 durchgeführten
Abstimmung in der Versammlung der Munizipalgemeinde Wängi sprachen sich
216 Stimmberechtigte für und 111 gegen den Zusammenschluss aus.

    Am 30. März 1967 erstattete der Regierungsrat dem Grossen Rate einen
umfangreichen Bericht über die Vor- und Nachteile des Zusammenschlusses
und kam dabei zum Ergebnis, dass sich der Zusammenschluss aufdränge aus
einer ganzen Reihe von Gründen, die als "triftig" zu bezeichnen seien
und schwerer wögen als die dagegen angerufenen Vorzüge der kleinen und
kleinsten Gemeinden als selbständige Zellen des Staates.

    Nachdem der Grosse Rat des Kantons Thurgau in drei Sitzungen darüber
beraten hatte, beschloss er am 2. November 1967:

    "Die Ortsgemeinden Anetswil, Krillberg, Tuttwil und Wängi sowie
die Munizipalgemeinde Wängi werden auf den 1. Januar 1969 zu einer
Einheitsgemeinde Wängi vereinigt."

    C.- Gegen diesen Beschluss führt die Ortsgemeinde Krillberg
staatsrechtliche Beschwerde mit dem Antrag, ihn aufzuheben. Sie wirft dem
Regierungsrat Verletzung des § 45 KV sowie willkürliche Auslegung des §
2 GOG vor....

    D.- Der Grosse Rat des Kantons Thurgau beantragt die Abweisung der
Beschwerde.

Auszug aus den Erwägungen:

              Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- (Prozessuales)

Erwägung 2

    2.- Der angefochtene Beschluss trifft die Ortsgemeinde Krillberg
rechtlich nicht wie eine Privatperson, sondern in ihrer Eigenschaft als
Trägerin öffentlicher Gewalt, als Inhaberin der Gebietshoheit. Als solche
ist eine Gemeinde zur staatsrechtlichen Beschwerde nur in beschränktem
Umfange legitimiert. Sie ist es vor allem, wenn sie sich gegen Eingriffe
des Staates in ihre Autonomie, d.h. in den Bereich ihres freien Ermessens
in Rechtsetzung und Verwaltung wehrt (BGE 93 I 157 ff. und 431 ff. mit
Verweisungen auf frühere Urteile). Ferner steht ihr das Beschwerderecht
zu, wenn sie ihren Gebietsbestand verteidigt, und ganz besonders,
wenn sie sich um ihre Existenz wehrt (BGE 89 I 206/7, 93 I 445/6). Die
Gemeinde ist daher legitimiert zur Anfechtung von Entscheidungen, durch
welche sie in mehrere neue Gemeinden aufgeteilt oder, wie im vorliegenden
Falle, mit andern Gemeinden zu einer neuen Gemeinde vereinigt wird (nicht
veröffentl. Urteile vom 5. März 1943 i.S. Kathol. Kirchgemeinde Busskirch
Erw. 1 und vom 14. Juli 1949 i.S. Munizipalgemeinde Sirnach Erw. 2).

Erwägung 3

    3.- Nach Auffassung der Beschwerdeführerin verstösst der angefochtene
Beschluss gegen § 45 KV, welcher bestimmt:

    Im allgemeinen bilden die gegenwärtig bestehenden Ortsgemeinden die
Grundlage für die Gemeindegebietseinteilung.

    Wo die Munizipalgemeinde und die Ortsgemeinde über das nämliche
Gebiet sich erstrecken, da soll die Vereinigung ihrer bisher getrennten
Verwaltungen stattfinden.

    Die Gesetzgebung wird weitere, durch die beteiligten Einwohnerschaften
angeregte Vereinfachungen unterstützen.

    Abs. 1 erwähnt zwar die Ortsgemeinden, enthält aber keine
Bestandesgarantie für sie. Die Ortsgemeinden dienen danach nur "im
allgemeinen" als Grundlage der Gebietseinteilung des Kantons. Damit
sind Veränderungen dieser Einteilung nicht nur nicht ausgeschlossen,
sondern ausdrücklich vorbehalten. Abs. 2 schreibt für einen bestimmten
hier nicht vorliegenden Fall eine Änderung vor, während Abs. 3 andere
Änderungen ermöglicht und überdies durch seine Formulierung ("Die
Gesetzgebung wird... Vereinfachungen unterstützen") klar zum Ausdruck
bringt, dass Vereinfachungen der Gebietseinteilung erwünscht und daher
durch den Gesetzgeber zu begünstigen sind.

    Die Beschwerdeführerin will das nicht gelten lassen. Nach ihrer Meinung
bezieht sich der in Abs. 1 enthaltene Vorbehalt von Änderungen im Bestand
der Ortsgemeinden ausschliesslich auf den in Abs. 2 erwähnten Fall und
sind mit den nach Abs. 3 zulässigen "Vereinfachungen" jedenfalls keine
zwangsweisen Vereinigungen von Ortsgemeinden gemeint.

    Diese beiden Thesen tun indessen dem Text des § 45 KV Zwang
an. Ertrüge die "im allgemeinen" geltende Regel des Abs. 1 nur die
in Abs. 2 vorgesehene Ausnahme, so wären die Worte "im allgemeinen"
überflüssig. Denn diese Ausnahme hätte, als Verfassungsgrundsatz, auch
Bestand, ohne dass sie in Abs. 1 durch die Worte "im allgemeinen" erst
hätte vorbehalten werden müssen. Es drängt sich daher die Annahme auf, dass
der Vorbehalt in Abs. 1 sich auf alle in den beiden folgenden Absätzen
erwähnten Ausnahmen bezieht, und zwar insbesondere auf diejenigen des
Abs. 3, weil sie durch einfaches Gesetz ermöglicht werden können. Wieso
sich Abs. 3 nur auf solche Vereinfachungen, die nicht Vereinigungen sind,
beziehen sollte, ist angesichts des sehr allgemein gefassten und nicht
schwer verständlichen Wortlautes der Bestimmung nicht einzusehen. Die
dem angefochtenen Beschluss zugrunde liegende gegenteilige Auslegung
lässt sich jedenfalls zwangslos mit dem Text vereinbaren, so dass für
das Bundesgericht, das der Auslegung namentlich der organisatorischen
Bestimmungen kantonaler Verfassungen durch das kantonale Parlament
besonderes Gewicht beilegt (BGE 90 I 239/40 mit Hinweisen auf zahlreiche
frühere Urteile), kein Anlass besteht, von ihr abzuweichen.

Erwägung 4

    4.- Nach § 45 Abs. 3 KV sind Ausnahmen von dem in Abs. 1 aufgestellten
Grundsatz zulässig, wenn sie aufgesetzlicher Grundlage beruhen, auf
Anregung der beteiligten Einwohner erfolgen und der Vereinfachung dienen.

    a) Die beiden letzten Erfordernisse sind unbestrittenermassen
erfüllt. Die angefochtene Vereinigung wurde angeregt durch
Stimmberechtigte aus allen beteiligten Ortsgemeinden und sie
vereinfacht die Gemeindeverwaltung, da an die Stelle von 5 verschiedenen
Gemeindeverwaltungen eine einzige tritt, die sämtliche Geschäfte der
bisherigen Munizipalgemeinde Wängi und der von ihr umfassten vier
Ortsgemeinden übernimmt.

    b) Der Grosse Rat erblickt die gesetzliche Grundlage der angefochtenen
Vereinigung in § 2 Abs. 2 GOG, der es ihm erlaubt, auf Antrag des
Regierungsrates Änderungen der Gebietseinteilung dort, wo sie sich
"aus triftigen Gründen aufdrängen", auch dann zu beschliessen, wenn
"nicht alle beteiligten Gemeinden zustimmen". Das Bundesgericht kann die
Auslegung und Anwendung dieser kantonalen Gesetzesbestimmung nicht frei,
sondern nur unter dem beschränkten Gesichtswinkel der Willkür überprüfen,
d.h. nur daraufhin, ob sie mit dem klaren Wortlaut und Sinn der Bestimmung
unvereinbar, mit keinen sachlichen Gründen zu vertreten sei (zit. Urteil
vom 14. Juli 1949 i.S. Sirnach Erw. 4). Das ist hier nicht der Fall.

    aa) § 2 Abs. 2 GOG gestattet eine Änderung der Gebietseinteilung,
wo triftige Gründe sie aufdrängen. Dieses Erfordernis ist dann erfüllt,
wenn die Abwägung der Gründe und Gegengründe ein klaresÜbergewicht der für
die Änderung sprechenden Argumente ergibt (Urteil i.S. Sirnach Erw. 6). Der
Regierungsrat und ihm folgend der Grosse Rat haben angenommen, dass das im
vorliegenden Falle zutreffe. Die Beschwerdeführerin hat diese Feststellung
nicht bestritten, geschweige denn darzutun versucht, dass sie mit keinen
sachlichen Gründen zu vertreten, geradezu unhaltbar und willkürlich sei.

    bb) Indem § 2 Abs. 2 GOG eine Änderung der Gebietseinteilung auch dann
zulässt, wenn "nicht alle beteiligten Gemeinden zustimmen", schliesst er es
aus, dass der Grosse Rat eine Änderung gegen den Willen aller beteiligten
Ortsgemeinden anordnen könnte. Dagegen erheischt er keine Mehrheit und
erst recht keine qualifizierte Mehrheit der beteiligten Ortsgemeinden
für einen solchen Beschluss.

    Die Beschwerdeführerin behauptet nicht, dass diese dem angefochtenen
Beschluss zugrunde liegende Auslegung von § 2 Abs. 2 GOG willkürlich sei.
Dagegen macht sie geltend, dass § 2 Abs. 2 GOG, so ausgelegt, gegen
§ 45 KV verstosse, weil diese Verfassungsbestimmung die Zustimmung
aller betroffenen Ortsgemeinden erfordere. Eventuell, so erklärt die
Beschwerdeführerin unter Hinweis auf die Botschaft des Regierungsrates
zur Volksabstimmung über das GOG (S. 6), hätte der angefochtene Beschluss
höchstens gegen den Widerstand einer einzigen Gemeinde gefasst werden
dürfen, nicht aber, wie es hier geschah, gegen den Widerstand von
zwei Ortsgemeinden. Und wenn die Beschwerdeführerin im Ingress der
Beschwerde (irrtümlich) auf Art. 85 lit. a OG hinweist und sich in der
Beschwerdebegründung auf ihr "Selbstbestimmungsrecht" beruft, so kann
auch das nichts anderes heissen, als dass der angefochtene Beschluss
entgegen ihrem durch Volksentscheid kundgegebenen Willen nicht hätte
gefasst werden dürfen.

    Das Bundesgericht hatte sich bereits im Urteil vom 14. Juli 1949 i.S.
Sirnach mit dem Einwand zu befassen, dass Gebietsveränderungen nur mit
Zustimmung der Mehrheit der beteiligten Gemeinden zulässig seien. Es hat
dabei anerkannt, dass nach den Materialien zum GOG einzelne Ratsmitglieder
sich in diesem Sinne äusserten. Es hat aber auf den klaren Wortlaut von § 2
Abs. 2 GOG abgestellt und erklärt, dass er Gebietsveränderungen auch gegen
den Widerstand der Mehrheit der beteiligten Gemeinden zulasse (Erw. 4 b)
und der § 45 KV dem nicht entgegenstehe (Erw. 5 b unter Hinweis auf BGE
38 I 141). Hieran ist festzuhalten. § 45 Abs. 3 KV bestimmt lediglich das
Ziel von Gebietsveränderungen, nämlich "Vereinfachungen", lässt aber dem
Gesetzgeber freie Hand bezüglich der Mittel und des Verfahrens. Ist aber
eine Änderung der Gebietseinteilung sogar gegen den Widerstand der Mehrheit
der beteiligten Gemeinden zulässig, dann kann erst recht der Widerstand
von mehr als einer Gemeinde oder gar der Widerstand einer einzigen
Gemeinde kein Hindernis bilden. Die hier streitige Änderung, der von
vier beteiligten Ortsgemeinden zwei zustimmen und zwei sich widersetzen,
ist daher zulässig. Von der in BGE 38 I 141 und im Urteil i.S. Sirnach
vertretenen Auffassung abzugehen, besteht im vorliegenden Fall umso weniger
Anlass, als sonst die nur aus 8 Stimmberechtigten bestehende Mehrheit
in der kleinsten Ortsgemeinde eine Änderung verunmöglichen könnte, die
selbst die Beschwerdeführerin im sachlichen Ergebnis nicht kritisiert....

Entscheid:

Demnach erkennt das Bundesgericht:

    Die Beschwerde wird abgewiesen.