Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 94 I 312



94 I 312

44. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung als Staatsrechtlicher
Kammer vom 7. Mai 1968 i.S. Albert Brudermann gegen Leopold Eckert und
das Obergericht des Kantons Thurgau. Regeste

    Zivilprozessrecht, Art. 4 BV.

    Nicht willkürlich ist die Auslegung von § 31 der thurgauischen ZPO,
wonach die Legitimation zur Sache üblicherweise dem Veräusserer erhalten
bleibt, der Prozess also zwischen den bisherigen Parteien fortzusetzen ist.

    Begriff der Prozesstandschaft, bzw. der Befugnis zur Prozessführung
(Erw. b).

Sachverhalt

    A.- Käsermeister Albert Brudermann betreibt an seinem Wohnort
Donzhausen eine Käserei und eine Schweinemästerei. Im Jahre 1965 erwarb
er von den Erben des Paul Heeb das Grundstück Nr. 59 in Riedt bei Erlen
im Halte von rund 48 Aren. Auf dieser Liegenschaft betreibt Brudermann
eine Schweinezüchterei mit etwa 60 Muttersauen und einem Eber. Der
Schweinebestand, inbegriffen die Ferkel, beträgt durchschnittlich 250
und höchstens 400 Tiere.

    Im Norden und Osten grenzt das Grundstück Brudermanns an das Grundstück
Nr. 57. Auf dieser Liegenschaft wird im Gebäude Nr. 501 der Hotel- und
Restaurationsbetrieb "zum Quellenbad" geführt, wozu auch eine offene
Badeanlage mit einer Liegewiese gehören. Im Jahre 1965 erwarb Leopold
Eckert die Hotelliegenschaft, verkaufte sie jedoch nach Einleitung des
Prozesses gegen Brudermann einem Michel.

    B.- Eckert reichte am 8. Juli 1966 beim Bezirksgericht Bischofszell
eine Klage ein mit dem Begehren, Brudermann sei zum sofortigen Abbruch
seiner Schweinestallungen zu verpflichten, eventuell sei ihm die weitere
Schweinehaltung in diesen Ställen zu verbieten. Brudermann bestritt
insbesondere die Aktivlegitimation des Eckert, weil dieser seine
Liegenschaft nach Prozessbeginn verkauft hatte.

    Das Bezirksgericht hiess die Klage am 3. April/11. Mai 1967 dahin gut,
dass dem Beklagten die Schweinehaltung in den Gebäuden Nr. 619 und 632
untersagt wurde.

    C.- Auf Appellation des Beklagten hin bestätigte das Obergericht des
Kantons Thurgau am 7. November 1967 das bezirksgerichtliche Urteil mit
dem Zusatz, dass die Schweinehaltung dem Beklagten "im Sinne der Motive"
untersagt werde.

    In Bezug auf die Aktivlegitimation des Klägers ging die Vorinstanz
davon aus, dass sie grundsätzlich vom Bundesrecht geregelt wird und somit
aus Art. 679 ZGB anspruchsberechtigt nur Nachbarn, d.h. Eigentümer und
allenfalls dinglich oder obligatorisch Berechtigte von Nachbargrundstücken
sind. Da dem Kläger diese Eigenschaft im Urteilszeitpunkt nicht mehr zukam,
wäre er an sich nicht mehr zur Sache legitimiert. § 31 der Thurgauer ZPO
sei jedoch dahin auszulegen, dass die Sachlegitimation bei Veräusserung
des Streitobjektes erhalten bleibe, wenn der Prozess zwischen den
ursprünglichen Parteien fortgesetzt werde.

    In der Sache selber entschied die Vorinstanz grundsätzlich wie das
Bezirksgericht.

    D.- Brudermann hat gegen das Urteil des Obergerichts des Kantons
Thurgau eine staatsrechtliche Beschwerde eingereicht. Er beantragt,
das angefochtene Urteil sei aufzuheben und es sei die Streitsache zur
Neubeurteilung an das Obergericht zurückzuweisen.

    E.- Das Obergericht und Eckert beantragen, die Beschwerde sei
abzuweisen.

Auszug aus den Erwägungen:

              Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Der Beschwerdeführer rügt in erster Linie eine willkürliche
Auslegung der thurgauischen Zivilprozessordnung vom 29. April 1928. Dazu
beruft er sich auf § 174 dieser Zivilprozessordnung. § 174 ZPO bestimmt
dem Sinne nach, dass die Rechtshängigkeit nicht die Festlegung des
Sachverhalts auf den Zeitpunkt der Klageeinreichung zur Folge hat. Die
Parteien können demnach ihre Vorkehren bis zum Schluss ihres letzten
Vortrages in der Hauptverhandlung ergänzen. Diese Ergänzung ist sogar in
jedem Stadium des Prozesses zulässig, wenn die Partei glaubhaft macht,
dass sie die neu vorgebrachten Tatsachen früher nicht gekannt oder trotz
aller Anstrengungen nicht habe anrufen können (vgl. § 287 ZPO). Daraus
leitet der Beschwerdeführer ab, der Verlust der Sachlegitimation durch
Veräusserung des Streitgegenstandes sei während des Prozesses zu beachten;
die Partei, die sich darauf berufe, sei berechtigt, ihre Rechtsvorkehren
entsprechend zu ergänzen. Das Obergericht habe diesen Grundsatz willkürlich
verletzt und sich auf den Standpunkt gestellt, § 31 ZPO begründe eine
Ausnahme von der Regel des § 174 ZPO in dem Sinne, dass die Veräusserung
des Streitgegenstandes während der Rechtshängigkeit keinen Einfluss auf
die Legitimation zur Sache habe.

    a) § 31 der thurgauischen Zivilprozessordnung lautet:

    "Wenn während der Dauer des Prozesses das Streitobjekt veräussert wird,
so kann der Erwerber nur mit Zustimmung der Gegenpartei an Stelle seines
Rechtsvorgängers in den Prozess eintreten."

    Diese Bestimmung schafft ihrem Wortlaut nach bloss die Möglichkeit,
dass der Erwerber bei Veräusserung des Streitgegenstandes während der
Dauer des Prozesses an Stelle seines Rechtsvorgängers eintreten kann,
wenn die Gegenpartei damit einverstanden ist. Wie es sich verhält,
wenn entweder der Erwerber - z.B. auf Grund einer Abmachung mit dem
Rechtsvorgänger - nicht in den Prozess einzutreten wünscht oder wenn die
Gegenpartei sich seinem Eintritt widersetzt, lässt sich diesem Wortlaut
nicht entnehmen. Das Obergericht ist jedoch auf dem Wege der Auslegung
zum Schluss gekommen, in einem solchen Fall bleibe die Legitimation
zur Sache dem Veräusserer erhalten, der Prozess sei daher zwischen den
bisherigen Parteien fortzusetzen. Andernfalls würde es vom Belieben der
Gegenpartei abhängen, einen zweiten Prozess zu veranlassen, obschon die
Rechtslage im übrigen in der Regel gleich bliebe. Der Veräusserer könnte
diese Folge nur dann vermeiden, wenn er die Veräusserung bis nach dem
Ende des Prozesses aufschöbe, was praktisch einem Veräusserungsverbot
während des Prozesses gleichkäme.

    b) Wie GULDENER (Schweizerisches Zivilprozessrecht, 176) ausführt, kann
bei der sogenannten Prozesstandschaft ein Dritter aus besonderen Gründen
befugt sein, an Stelle des materiell Berechtigten oder Verpflichteten
den Prozess in eigenem Namen und als Partei zu führen. Dieser Fall trete
u.a. dann ein, wenn das Streitobjekt nach Eintritt der Rechtshängigkeit
veräussert werde und der Veräusserer zur Weiterführung des Prozesses befugt
bleibe. Auf Seite 332 fügt dann GULDENER freilich bei, die Tragweite dieses
Grundsatzes sei zweifelhaft "für diejenigen Prozessgesetze, nach denen sich
das Urteil über die Rechtslage zur Zeit der Urteilsfällung ausspricht". Es
sollte seines Erachtens in solchen Fällen "nicht unberücksichtigt bleiben,
dass das eingeklagte Recht nicht mehr dem Kläger zusteht oder nicht mehr
dem Beklagten gegenüber besteht". Mit andern Worten, wenn eine Partei
infolge Veräusserung des Streitobjektes ihre Sachlegitimation verloren hat
und ihr Rechtsnachfolger nicht in den Prozess eintreten kann oder will,
wäre die Klage abzuweisen. Bei näherer Betrachtung erweist sich diese
Auffassung als unzutreffend.

    Es hat keinen Sinn, von "Prozesstandschaft" bei der Veräusserung des
Streitobjektes zu sprechen, wenn nach der betreffenden Zivilprozessordnung
für das Urteil die Rechtslage zur Zeit des Eintritts der Rechtshängigkeit
massgebend ist. Da das Streitobjekt in diesem Zeitpunkt noch der
Partei gehört, kann dessen spätere Veräusserung und der sich daraus
ergebende Verlust der Sachlegitimation für das zu erlassende Urteil
keine Rolle spielen. Anders verhält es sich unter der Herrschaft von
Prozessgesetzen, welche die Berücksichtigung von Tatsachen, die erst
im Verlaufe des Prozesses eintreten, gestatten. Die Sachlegitimation
wird vom materiellen Recht beherrscht (GULDENER, aaO, S. 173; ROSENBERG,
Lehrbuch des deutschen Zivilprozessrechts, 8. Aufl., S. 193). Dann aber
kann ein Prozessgesetz nicht vorschreiben, sie bleibe dem Veräusserer
erhalten; denn wer eine Sache veräussert, der gibt sein subjektives Recht
auf und verliert damit die Sachlegitimation. In Wirklichkeit handelt es
sich jedoch nicht um eine Frage der "Erhaltung" der Sachlegitimation,
sondern - wie GULDENER es bezeichnet - der Prozesstandschaft oder der
Befugnis zur Prozessführung. Diese verfahrensrechtliche Frage können
die Prozessgesetze regeln und z.B. vorschreiben, dass die Befugnis, den
Prozess an Stelle des nunmehr materiell Berechtigten in eigenem Namen
weiterzuführen, dem Veräusserer erhalten bleibt. Es handelt sich nicht
um eine Frage der Begründetheit, sondern der Zulässigkeit der Klage
(vgl. ROSENBERG, aaO, S. 193). Entsprechende Bestimmungen finden sich
in ausländischen Zivilprozessordnungen, so in § 265 der deutschen, in §
234 der österreichischen und in Art. 111 der italienischen (vgl. dazu:
STEIN/JONAS, Bemerkungen IV/2 zu § 265, S.1066; FASCHING, Kommentar
zu den Zivilprozessgesetzen, Bd. III S. 95 ff.; SATTA, Commentario al
Codice di Procedura Civile, Bd. I S. 414 ff.). Dem gleichen Grundgedanken
verpflichtet ist auch Art. 21 Abs. 2 zweiter Satz des Bundeszivilprozesses,
obschon dort ungenau von der Legitimation zur Sache die Rede ist. Eine
ähnliche Vorschrift findet sich in § 47 der Zürcher Zivilprozessordnung.

    c) Da es sich somit um eine Frage des materiellen Prozessrechts
handelt, sind die Kantone zuständig, sie zu regeln (so auch Votum
HINDERLING, ZSR 1961 II S. 434 Ziff. 2; nicht veröffentlichtes Urteil
des Bundesgerichts vom 5. Oktober 1967 i.S. Marx u. Cie in Liq. c. Longhi
und Christen AG). Falls die betreffende Zivilprozessordnung darüber keine
ausdrückliche Vorschrift enthält, sind die mit ihrer Handhabung betrauten
kantonalen Gerichte befugt, auf dem Wege der Auslegung oder Lückenfüllung
die zutreffende Lösung zu finden. So ist im vorliegenden Fall auch das
Obergericht vorgegangen. Dabei wird man ihm nur dann den Vorwurf der
Willkür machen dürfen, wenn sowohl die gegebene Begründung unhaltbar
als auch der Entscheid im Ergebnis willkürlich ist (BGE 86 I 269, 90 I
142). Davon kann keine Rede sein.

    Schon der Wortlaut des § 31 der Thurgauer ZPO, wonach der Erwerber
der veräusserten Sache nur mit Zustimmung der Gegenpartei in den Prozess
eintreten kann, lässt darauf schliessen, dass die ursprüngliche Partei
im Falle des Nichteintrittes des Erwerbers berechtigt ist, den Prozess
weiterzuführen. Das ist auch die Ansicht BÖCKLIS (Zivilprozess-Ordnung
für den Kanton Thurgau mit Anmerkungen, Anhang und Sachregister, Anm. 3
zu § 31), der sich auf die Entstehungsgeschichte, nämlich das Protokoll
der Expertenkommission vom 23. Oktober 1920, berufen kann. Auch GULDENER
(aaO, Fussnote 3 S. 329) hat gestützt auf § 31 den Kanton Thurgau zu jenen
Kantonen gezählt, in denen der Veräusserer die Befugnis zur Prozessführung
nicht verliert. Es sprechen gewichtige prozessökonomische Gründe dafür,
den Verlust der Sachlegitimation während des Prozesses nicht nach der
Regel der §§ 174 und 287 der Thurgauer ZPO zu behandeln. Die modernen
Prozessgesetze neigen dazu, den Prozessaufwand zu vereinfachen. Damit
stünde in Widerspruch, wenn wegen der Veräusserung des Streitobjektes
und mangels Beteiligung des Erwerbers bei gleicher Rechtslage ein neuer
Prozess durchgeführt werden müsste. Die Behauptung des Beschwerdeführers,
dieser Grund sei im vorliegenden Fall nicht stichhaltig, weil dem Erwerber
die Haupt-oder Nebenintervention gemäss §§ 34 ff. ZPO offen stehe,
ist schon deshalb unbehelflich, weil der Erwerber - selbst wenn diese
Möglichkeit bestünde - nicht gezwungen werden könnte, davon Gebrauch zu
machen. Ausserdem wäre die Hauptintervention nach § 34 ZPO schon deswegen
nicht zulässig, weil Rechtsnachfolger nicht Dritte im Sinne dieser
Bestimmung sind. Als Nebenintervenient endlich könnte der Erwerber den
Prozess an Stelle des Veräusserers nur führen, wenn - neben dem Veräusserer
selber - auch die Gegenpartei einverstanden wäre (§ 37 Abs. 3 ZPO).

    Ähnliche Überlegungen wie sie das Obergericht angestellt hat,
führten z.B. auch im Kanton Bern Lehre und Rechtsprechung zum Schluss,
der Verlust der Aktiv- oder Passivlegitimation nach der Rechtshängigkeit
sei grundsätzlich nicht zu berücksichtigen, obschon nach Art. 41 der
Berner ZPO die Gegenpartei sich dem Eintritt des Erwerbers in den Prozess
nicht widersetzen, sondern nur verlangen kann, dass er Sicherheit leiste
(vgl. LEUCH, Die Zivilprozessordnung für den Kanton Bern, 3. Aufl. 1956,
N. 1 zu Art. 41 und N. 1 zu Art. 160 ZPO).

Erwägung 2

    2.- ....

Entscheid:

Demnach erkennt das Bundesgericht

    Die Beschwerde wird abgewiesen.