Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 94 I 143



94 I 143

22. Auszug aus dem Urteil vom 6. März 1968 i.S. Müller gegen
Güterzusammenlegungsgenossenschaft Winikon und Regierungsrat des Kantons
Luzern. Regeste

    Art. 86 Abs. 2, Art. 87 und 90 lit. b OG.

    Inwieweit sind neue Vorbringen zulässig zur Begründung
staatsrechtlicher Beschwerden, welche die Erschöpfung des kantonalen
Instanzenzuges voraussetzen?

Sachverhalt

                       Aus dem Tatbestand:

    Der Beschwerdeführer Leonz Müller, dessen landwirtschaftliches
Heimwesen in Winikon in eine Güterzusammenlegung einbezogen wurde,
rekurrierte gegen die Neuzuteilung an den Regierungsrat des Kantons Luzern,
indem er vor allem geltend machte, dass ihm unverhältnismässig vielsteiles
Land zugewiesen werde. Der Regierungsrat unterbreitete den Rekurs einer
Expertenkommission, die er für die Begutachtung der zahlreichen, gegen
Einspracheentscheide des Gemeinderates erhobenen Rekurse eingesetzt
hatte. Auf Antrag dieser Expertenkommission änderte er mit Entscheid vom
9. Juni 1967 die angefochtene Neuzuteilung in mehrfacher Hinsicht zugunsten
des Beschwerdeführers ab. Nachdem diesem der Entscheid am 6. Juli
1967 eröffnet worden war, holte er ein Gutachten des Schätzungsamtes
des Schweiz. Bauernverbandes in Brugg ein, das ihm am 7. August 1967
erstattet wurde und zum Schlusse kam, dass sich der Ertragswert des
Heimwesens infolge der Güterzusammenlegung von Fr. 126'200.-- auf Fr.
105'200.-- vermindert habe.

    Leonz Müller führt gegen den Entscheid des Regierungsrates
staatsrechtliche Beschwerde wegen Verletzung des Art. 4 BV und der
Eigentumsgarantie. Das Bundesgericht lehnt die Berücksichtigung des
genannten Gutachtens ab aus folgenden

Auszug aus den Erwägungen:

                           Erwägungen:

    Die Begründung der Beschwerde stützt sich weitgehend auf das erwähnte
Gutachten des Schätzungsamtes des Schweizerischen Bauernverbandes. Es
ist daher vorweg zu prüfen, ob dieses Gutachten vom Bundesgericht zu
berücksichtigen ist.

    Staatsrechtliche Beschwerden wegen Verletzung des Art. 4 BV und
der Eigentumsgarantie sind gemäss Art. 86 Abs. 2 und Art. 87 OG erst
zulässig, nachdem von den kantonalen Rechtsmitteln Gebrauch gemacht
worden ist. Das bedeutet, dass der Beschwerdeführer nicht nur jedes
Rechtsmittel zu ergreifen hat, womit die gerügte Verfassungsverletzung
geltend gemacht werden kann, sondern dass er dabei auch alle Einwendungen
tatsächlicher und rechtlicher Natur vorbringen muss, die er mit
diesem Rechtsmittel erheben kann. Nach feststehender Rechtsprechung
des Bundesgerichts, auf die zurückzukommen kein Anlass besteht, sind
daher bei staatsrechtlichen Beschwerden, welche die Erschöpfung des
kantonalen Instanzenzuges voraussetzen, neue Behauptungen, Bestreitungen
und Beweismittel grundsätzlich ausgeschlossen (BGE 73 I 112; 87 I 99
Erw. 2, 178 Erw. 3; 89 I 244/5; 90 I 148, 158, 356 Erw. 3; 91 I 166 Erw.
2). Mit Bezug auf Beschwerden wegen Verletzung des Art. 4 BV durch Willkür
ergibt sich die Unzulässigkeit neuer Vorbringen ausser aus dem erwähnten
verfahrensrechtlichen Grunde auch aus der materiellrechtlichen Erwägung,
dass einer Behörde regelmässig nicht Willkür vorgeworfen werden kann, wenn
sie Argumente ausser Betracht lässt, die ihr an sich hätten unterbreitet
werden können, aber nicht geltend gemacht worden sind (BGE 77 I 9, 83 I
237 Nr. 30, 84 I 164 Erw. 1; nicht veröffentlichtes Urteil vom 6. April
1966 i.S. Engeler und Hagen, Erw. 1). Das muss auch gelten für Beschwerden
wie die vorliegende, wo zwar auch die Eigentumsgarantie angerufen wird,
diese Rüge aber mit derjenigen der Willkür zusammenfällt. Eine Ausnahme
vom Verbot neuer Vorbringen ist immerhin für solche Vorbringen zu machen,
zu deren Geltendmachung dem Beschwerdeführer erst die Begründung des
angefochtenen Entscheids Anlass gibt (BGE 77 I 9, 89 I 250 b).

    Das Gutachten des Schätzungsamtes enthält nicht nur eine Beschreibung
des Heimwesens des Beschwerdeführers, wie es sich den Organen der
Güterzusammenlegungsgenossenschaft, der Expertenkommission und der
Delegation des Regierungsrats bei ihren Augenscheinen darbot, sondern auch
eingehende Berechnungen der Roherträge und der Ertragswerte des alten und
des neuen Besitzes. Diese Berechnungen und ihr Ergebnis, dass sich der
Ertragswert des Heimwesens durch die Güterzusammenlegung um Fr. 21'000.--
vermindere, sind neue tatsächliche Vorbringen. Der Beschwerdeführer
hat freilich schon in der Einsprache und im Rekurs geltend gemacht,
sein Heimwesen werde durch die Neuzuteilung stark entwertet. Doch hat
er keinerlei ziffernmässige Angaben über das Ausmass dieser Entwertung
gemacht. Dazu kommt, dass die vom Regierungsrat mit der Prüfung des
Rekurses beauftragte Expertenkommission wesentliche Verbesserungen der
ursprünglichen, durch Einsprache und Rekurs angefochtenen Neuzuteilung
vorgeschlagen hat, nämlich einerseits die Abtrennung des steilen Landes im
nordwestlichen Zipfel und des südlichen, vom Hof entferntesten Teils der
Parzelle Nr. 102.01, anderseits die Erweiterung der Parzelle Nr. 102.02
um 27 a ebenes Land und die Zuteilung von weiteren 146,4 a ebenem Land
in der Surenebene, ausserdem die Erstellung eines Erschliessungs-
und eines Rasenweges durch die Parzelle Nr. 102.01 auf Kosten der
Güterzusammenlegungsgenossenschaft. Wenn der Beschwerdeführer, dem
diese Vorschläge der Expertenkommission am 28. Juni 1966 bekannt gegeben
worden waren, der Auffassung war, dass die Neuzuteilung gleichwohl eine
unzumutbare Wertverminderung des Heimwesens zur Folge habe, so hätte
er schon damals allen Anlass gehabt, ein Gutachten des Schätzungsamtes
über das Ausmass dieser Entwertung einzuholen und es dem Regierungsrat
zu unterbreiten. Nachdem er das unterlassen und sich das Gutachten erst
nach dem Entscheid der letzten kantonalen Instanz verschafft hat, kann
das Bundesgericht dieses Gutachten und die daraus abgeleiteten Argumente
nicht mehr berücksichtigen.