Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 94 I 138



94 I 138

21. Auszug aus dem Urteil vom 24. Januar 1968 i.S. Zarotti gegen
Regierungsrat des Kantons Schaffhausen. Regeste

    1.  Art. 88 OG. Der Baugesuchsteller, der nicht Eigentümer des
Baugrundstücks ist und keine anderweitigen Rechte daran hat, kann gegen
die Abweisung seines Baugesuches staatsrechtliche Beschwerde führen
(Anderung der Rechtsprechung).

    2.  Eigentumsgarantie; Verweigerung der Baubewilligung für
eine Tankstelle. Gewohnheitsrecht als gesetzliche Grundlage
öffentlichrechtlicher Eigentumsbeschränkungen; die Normblätter
der Vereinigung Schweizerischer Strassenfachmänner beinhalten kein
Gewohnheitsrecht. Bedeutung von Art. 3 Abs. 4 SVG. Voraussetzungen für
den Erlass einer Polizeinotverfügung.

Sachverhalt

    Zarotti will auf der Westseite der Klettgauerstrasse in Neuhausen
auf dem Grundstück GB Nr. 1954, das derzeit Heinrich Benz gehört, eine
Benzintankstelle bauen. Der Regierungsrat des Kantons Schaffhausen hat
das Baugesuch am 20. April 1967 "aus Gründen der Verkehrssicherheit"
abgewiesen. Er hat dazu ausgeführt, im Baubewilligungsverfahren könnten
unter dem Gesichtspunkt des öffentlichen Wohles Gründe der Verkehrspolizei
berücksichtigt werden, ohne dass es dafür einer gesetzlichen Grundlage
bedürfe. Die Verhinderung eines Bauvorhabens aus solchen Gründen
verstosse weder gegen die Eigentumsgarantie noch gegen die Handels- und
Gewerbefreiheit, wenn bei Erteilung der Baubewilligung mit offensichtlich
unhaltbaren Zuständen gerechnet werden müsste, wie das hier zutreffe. Die
projektierte Tankstelle käme an die stark befahrene Klettgauerstrasse und
in den Vorsortierungsbereich einer sehr belasteten Verkehrskreuzung zu
liegen. Aus Gründen der Verkehrssicherheit und um die Leistungsfähigkeit
des Knotenpunktes nicht zu beeinträchtigen, sei das Baugesuch abzulehnen.

    Zarotti hat hiergegen staatsrechtliche Beschwerde wegen Verletzung
der Eigentumsgarantie und des Art. 4 BV erhoben. Der Regierungsrat hat
die Abweisung der Beschwerde beantragt. Das Bundesgericht hat nach einem
Meinungsaustausch mit dem Bundesrat über die Zuständigkeit zur Beurteilung
der Beschwerde diese gutgeheissen und den Beschluss des Regierungsrates
vom 20. April 1967 aufgehoben.

Auszug aus den Erwägungen:

                       Aus den Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- Das Grundstück GB 1954 in Neuhausen, worauf sich das vom
Regierungsrat abgewiesene Baugesuch bezieht, gehört einem Dritten. Der
Beschwerdeführer behauptet nicht, es stehe ihm eine Dienstbarkeit
(wie beispielsweise ein Baurecht) an der Liegenschaft zu, er habe
einen obligatorischen Anspruch auf Übertragung des Grundstücks oder
auf Einräumung eines Baurechts oder er besitze ein Kaufsrecht und könne
sich durch dessen Ausübung das Eigentum am Grundstück verschaffen. Das
Bundesgericht hat in BGE 86 I 102 Erw. 3 erkannt, ein Baugesuchsteller,
der weder Eigentümer des zu überbauenden Grundstücks ist noch einen der
genannten weiteren Rechtstitel daran hat, werde durch die Abweisung
seines Baugesuches nicht in seinen eigenen, rechtlich erheblichen
Interessen berührt, weshalb er nicht befugt sei, gegen diesen Entscheid
staatsrechtliche Beschwerde zu erheben. Diese Betrachtungsweise
ist kritisiert worden (vgl. HANS HUBER, ZBJV 97 S. 339); sie hält
einer Überprüfung nicht stand. Räumt das kantonale Recht auch dem
Nichteigentümer die Befugnis ein, mit Zustimmung des Eigentümers ein
Baugesuch zu stellen, dann hat jener einen Anspruch darauf, dass die
zuständige Behörde nach dem Gesetz und in pflichtgemässer Handhabung des
ihr eingeräumten Ermessens über das Gesuch entscheidet. Hält die Behörde
sich nicht daran, so wird der Baugesuchsteller dadurch in seinem Anspruch
auf gesetzmässige und ermessensfehlerfreie Entscheidung verletzt. Hierin
liegt eine Beeinträchtigung rechtlich erheblicher Interessen, gegen die der
Baugesuchsteller sich mit der staatsrechtlichen Beschwerde zur Wehr setzen
kann (vgl. ZSR 86 II S. 471/72). Er kann sich dabei nicht nur auf Art. 4
BV berufen, der die Interessen des Einzelnen auf allen Rechtsgebieten
beschlägt, sondern kann zudem eine Verletzung der Eigentumsgarantie geltend
machen, da die Baubewilligungsbehörde das Baugesuch auch nach Massgabe der
Rechtsgrundsätze zu prüfen hat, die aus diesem Verfassungsrecht fliessen.

    Der Beschwerdeführer hat das Projekt zur Überbauung der Parzelle
GB Nr. 1954 in Neuhausen mit Zustimmung des Grundstückeigentümers
ausgearbeitet und den Behörden unterbreitet. Nach kantonaler
Verwaltungsübung stand ihm das Recht zur Einholung der Baubewilligung
zu. Er ist mithin nach dem Gesagten befugt, die Verweigerung der
Baubewilligung mit der staatsrechtlichen Beschwerde anzufechten.

Erwägung 2

    2.- Der Regierungsrat geht im angefochtenen Beschluss selber davon aus,
das kantonale Recht enthalte keine gesetzlichen Vorschriften, worauf sich
die Verweigerung der Baubewilligung stützen liesse. Diese Annahme erweist
sich als richtig.

    a) Der Regierungsrat macht mit Fug nicht geltend, Art. 38 des
kantonalen Baugesetzes erlaube das Verbot. Diese Bestimmung umschreibt
die Anforderungen, die an "Ausmündungen und Ausgänge" auf öffentliche
Strassen und Plätze zu stellen sind; sie sagt nicht, wie es zu halten ist,
wenn keine Möglichkeit zur Anlegung verkehrsgerechter Zu- und Wegfahrten
besteht.

    b) Der Regierungsrat nimmt in der Vernehmlassung auf das Normblatt
SNV 40 628 der Vereinigung Schweizerischer Strassenfachmänner (VSS)
Bezug. Diese von einem privaten Verein herausgegebenen Richtlinien
vermöchten nur dann die gesetzliche Grundlage für einen Eingriff in das
Eigentum abzugeben, wenn ihr Inhalt Gewohnheitsrecht wäre (vgl. BGE 81 I
34, 88 I 176). Das trifft indessen nicht zu, da die beiden Voraussetzungen
für die Bildung von Gewohnheitsrecht - die lange dauernde, regelmässige
Übung und die sie tragende allgemeine Rechtsüberzeugung (BGE 81 I 34 mit
Verweisungen, 83 I 246/47, 84 I 95 Erw. 4) - fehlen. Das Bundesgericht
würdigt denn auch in ständiger Rechtsprechung die Normblätter der VSS
nicht als Ersatz für eine gesetzliche Grundlage, sondern lediglich als
Hilfsmittel für die Prüfung der sich bei der Abklärung des öffentlichen
Interesses stellenden Frage, ob eine bestimmte Anlage den Anforderungen
der Verkehrssicherheit genüge (vgl. BGE 83 I 151/52, 87 I 353/54; ZBl
1960 S. 83, 1961 S. 379, 1965 S. 254, 1966 S. 239 Erw. 5).

    c) Die gesetzliche Grundlage des angefochtenen Beschlusses kann
auch nicht in Art. 3 SVG erblickt werden. Laut Abs. 4 dieser Bestimmung
können die Kantone den Motorfahrzeug- und Fahrradverkehr auf öffentlichen
Strassen "Beschränkungen" und anderweitigen "Anordnungen" unterwerfen,
"soweit die Sicherheit, die Erleichterung oder die Regelung des Verkehrs,
der Schutz der Strasse oder andere in den örtlichen Verhältnissen liegende
Gründe dies erfordern". Der Bundesrat, der auf Beschwerde hin zur Prüfung
der Auslegung dieser Vorschrift des eidgenössischen Verwaltungsrechtes
zuständig ist (Art. 125 Abs. 1 lit. b OG), hat im Meinungsaustausch
festgestellt, dass sich die Gebote und Verbote gemäss Art. 3 SVG nur an
die Verkehrsteilnehmer richten können. Die streitige Verweigerung der
Baubewilligung ist gegenüber dem Beschwerdeführer als Bauinteressenten
und nicht gegenüber den künftigen Benützern der Tankstelle ausgesprochen
worden. Die Adressaten des angefochtenen Beschlusses sind demnach nicht
die Verkehrsteilnehmer, was es nach der Auffassung des Bundesrates
ausschliesst, die Verfügung als "Beschränkung" oder "Anordnung" im Sinne
von Art. 3 Abs. 4 SVG aufzufassen.

Erwägung 3

    3.- Die Ablehnung des Baugesuches lässt sich mithin weder
auf kantonales noch auf eidgenössisches Gesetzesrecht stützen. Die
Voraussetzungen, worunter der Regierungsrat auch ohne eine gesetzliche
Grundlage kraft der allgemeinen Polizeiklausel der Verfassung (Art. 66
Ziff. 15 KV) auf dem Wege der Polizeinotverfügung (BGE 83 I 118, 88 I 176;
für den Kanton Schaffhausen: Urteil vom 18. Oktober 1961 i.S. Günter,
Erw. 3) in die Baufreiheit eingreifen dürfte, sind nicht gegeben. Der
Bundesrat weist im Meinungsaustausch darauf hin, dass die Gewährleistung
der Verkehrssicherheit, die der Regierungsrat mit baupolizeilichen Mitteln
anstrebt, auch mit Hilfe von Verkehrsmassnahmen erreicht werden kann,
indem Art. 3 Abs. 4 SVG es gestattet, den Fahrverkehr "über die Grenze
zwischen der Strasse und dem betreffenden Grundstück" zu untersagen,
falls sich sonst eine untragbare Beeinträchtigung des Strassenverkehrs
einstellen würde. Steht aber dem Regierungsrat dieses gesetzliche Mittel
zur Verhinderung eines polizeilichen Notstandes zur Verfügung, so entfällt
die Möglichkeit des Erlasses einer Polizeinotverfügung.

    Der angefochtene Beschluss ist mangels gesetzlicher Grundlage
verfassungswidrig. Er ist deshalb aufzuheben.