Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 94 IV 60



94 IV 60

17. Urteil des Kassationshofes vom 8. März 1968 i.S. Glaas gegen
Staatsanwaltschaft des Kantons Basel-Stadt. Regeste

    Art. 129 Abs. 1 StGB, Gefährdung des Lebens.

    1.  Unmittelbare Lebensgefahr (Erw. 2).

    2.  Wissentlichkeit (Erw. 3)

    a)  Wille ebenfalls erforderlich,

    b)  Eventualvorsatz genügt nicht.

    3.  Gewissenlosigkeit (Erw. 4).

Sachverhalt

    A.- Der 1944 geborene Beschwerdeführer Charles Glaas, der bei
seinen Eltern wohnt, hatte mit dem Vater schon seit längerer Zeit
Zwistigkeiten. Am Abend des 31. Dezember 1966 befand er sich, nachdem
er schon vorher reichlich dem Alkohol zugesprochen hatte, mit seinem
Freund Erwin Anneler in der von ihm eingerichteten Kellerbar. Gegen
20.30 Uhr erschien auch Vater Glaas in der Bar, worauf es zwischen ihm
und dem Sohn wieder zu einer Auseinandersetzung kam. Als der Sohn sich
kurz entfernte und dann zurückkam, verliess der Vater die Bar und begab
sich in die Wohnung hinauf. Anneler berichtete hierauf dem Sohn, dass
sich der Vater abfällig über ihn geäussert habe. Glaas geriet in Wut,
leerte in kürzester Zeit eine Flasche Bier und holte im Zimmer der
Schwester Beatrice sein Sturmgewehr, das er zuerst mit einer und dann
mit elf weitern Patronen lud. Mit der Schwester wieder in den Keller
hinabgestiegen, wies er diese an, den Vater zu holen.

    Als er Schritte auf der Treppe hörte, nahm er das Gewehr in Anschlag,
entsicherte es und umspannte mit dem Zeigfinger den Abzug. Die Kellertüre
öffnend, blickte Vater Glaas direkt in den Gewehrlauf. Der Sohn erklärte,
jetzt könne man miteinander reden, und auf die Aufforderung des Vaters,
doch abzudrücken, fragte er ihn, ob er denn nicht glaube, dass das Gewehr
geladen sei. Noch bevor der Vater antworten konnte, schwenkte der Sohn
den Gewehrlauf leicht nach rechts und drückte ab. Der Schuss drang auf
Brusthöhe etwa 1,2 m neben dem Vater in die Mauer ein. Unmittelbar darauf
schwenkte Glaas das Gewehr, den Finger immer noch am Abzug, auf den Vater
zurück. Dieser sprang im gleichen Augenblick die Treppe hinauf und brachte
sich in Sicherheit.

    B.- Das Strafgericht Basel-Stadt sprach Charles Glaas am 27. Juli 1967
der Gefährdung des Lebens (Art. 129 Abs. 1 StGB) sowie des Missbrauchs
und der Verschleuderung von militärischem Material (Art. 73 MStG) schuldig
und verurteilte ihn zu sechs Monaten Gefängnis mit bedingtem Strafvollzug
bei zwei Jahren Probezeit.

    Das Appellationsgericht des Kantons Basel-Stadt bestätigte am
8. November 1967 das erstinstanzliche Urteil gestützt auf dessen
tatsächliche und rechtliche Ausführungen.

    C.- Gegen das Urteil des Appellationsgerichts führt Glaas
Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Hauptantrag auf Freisprechung von der
Anklage der Gefährdung des Lebens.

    Das Appellationsgericht und die Staatsanwaltschaft beantragen Abweisung
der Beschwerde.

Auszug aus den Erwägungen:

               Der Kassationshofzieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Nach Art. 129 Abs. 1 StGB ist strafbar, wer einen Menschen
wissentlich und gewissenlos in unmittelbare Lebensgefahr bringt.

Erwägung 2

    2.- Der Begriff unmittelbare Lebensgefahr ist nicht ohne weiteres
klar. Es kann sich nur um eine konkrete Gefahr handeln. Diese ist
ein Zustand, aufgrund dessen nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge die
Wahrscheinlichkeit oder nahe Möglichkeit der Verletzung des geschützten
Rechtsgutes besteht (BGE 71 IV 100, 72 IV 27, 73 IV 101 f., 80 IV 182,
83 IV 30), wobei nicht eine mathematische Wahrscheinlichkeit von mehr als
50% vorausgesetzt ist (BGE 61 I 206). Die unmittelbare Gefahr muss mehr
sein. Anderseits muss der Eintritt der Rechtsgutverletzung, des Todes,
nicht unausweichlich erscheinen, sonst würde Art. 129 vom Gefährdungs-
zum Verletzungstatbestand. Innerhalb dieser Grenzen lässt sich die
Höhe der Gefahr näher bestimmen, indem man das Tatbestandsmerkmal
der Gewissenlosigkeit heranzieht. Die beiden Tatbestandselemente der
vorgestellten Gefahr und der Gewissenlosigkeit des Trotzdemhandelns stehen
zueinander in so enger Beziehung, dass das eine sich nicht ohne den Blick
auf das andere beurteilen lässt. Eine unmittelbare Lebensgefahr im Sinne
von Art. 129 besteht somit nicht erst dann, wenn die Wahrscheinlichkeit
des Todes grösser ist als die Wahrscheinlichkeit seiner Vermeidung,
sondern schon dann, wenn überhaupt eine nahe Möglichkeit der Tötung
vorliegt, eine Möglichkeit, über die wissentlich sich hinwegzusetzen als
gewissenlos erscheint (NOLL, ZStrR 1954 S. 22 f.).

    Wer, wie der Beschwerdeführer, mit geladener und entsicherter
Schusswaffe, den Finger am Abzug, auf einen lebenswichtigen Körperteil wie
Kopf oder Brust eines Menschen zielt, setzt damit dessen Leben einer sehr
nahen Gefahr aus. Das traf hier umsomehr zu, als sich der Beschwerdeführer
in angetrunkenem und stark erregtem Zustande befand, bei dem der leiseste
äussere oder innere Anlass genügen konnte, um den Druck auf den Abzug
auszulösen. Der Schuss 1,2 m neben dem Vater gegen die Mauer aber rückte
wegen der Möglichkeit des Rikoschettierens den Tod in äusserst bedrohliche
Nähe. Diese hochgradigen Gefahren hat der Beschwerdeführer wissentlich
(s. unten) geschaffen. Das war gewissenlos. Damit sind die Voraussetzungen
der unmittelbaren Lebensgefahr erfüllt.

Erwägung 3

    3.- Weiter fordert Art. 129 Abs. 1 eine wissentliche Gefährdung.

    a) In BGE 73 IV 230 (zu Art. 230 Ziff. 1 StGB) und 85 IV 132
(zu Ar t. 221 Abs. 2; auch 76 IV 247 oben zu Art. 237 Ziff. 1) wurde
ausgeführt, dass nur dort, wo das Gesetz die Gefährdung als objektives
Tatbestandsmerkmalnenne, ohne sich über den subjektiven Tatbestand
besonders auszusprechen, der Täter nicht nur um die Gefährdung wissen,
sondern sie auch wollen müsse. Für Fälle, in denen die subjektiven
Erfordernisse der Tat im besonderen Teil umschrieben seien, gelte dies
nicht. Bei Bestimmungen, in denen ausdrücklich bloss von wissentlicher
Gefährdung die Rede sei, genüge es deshalb, dass der Täter die durch
seine Tat herbeigeführte Gefahr kenne, zu wollen brauche er sie nicht.

    Wer indessen mit Wissen und Willen einen Zustand schafft, aus dem sich
eine Gefahr ergibt, die er kennt, der will notwendig auch diese Gefahr
(BGE 73 IV 168 f.; ZUERCHER, Erläuterungen VE 1908 S. 128; GERMANN,
ZStrR 1940 S. 367, 1961 S. 391; NOLL, ZStrR 1954 S. 20; LOGOZ, Art. 129
N 3 b; SCHWANDER, 2. Aufl., Nr. 667; THORMANN-v. OVERBECK, Art. 18 N
26, Art. 129 N 5). Der Gefährdungsvorsatz ist gegeben, wenn der Täter
die Gefahr kennt und trotzdem handelt (ohne auf ihren Nichteintritt zu
vertrauen, in welchem Fall nur bewusste Fahrlässigkeit vorliegt). Nicht
erforderlich ist hingegen, dass der Täter die Verwirklichung der
Gefahr, sei es auch nur eventuell, gewollt hat, denn dann wäre er wegen
vorsätzlicher Begehung des entsprechenden Verletzungsdelikts (z.B. Tötung)
strafbar. Da Gefahr die Möglichkeit des Verletzungseintritts ist,
schliesst freilich das Wissen um die Gefahr notwendig das Wissen um
den möglichen Verletzungseintritt in sich. Auf der Vorstellungsseite
ist die eventuelle Verletzung im Gefährdungsvorsatz stets enthalten. Der
Unterschied zwischen Gefährdungsvorsatz und eventuellem Verletzungsvorsatz
liegt einzig im Willensinhalt. Weil aber als konkrete Gefahr eine nahe
Möglichkeit des Verletzungseintritts (auch bei Art. 129) genügt, braucht
der Täter, obwohl er den gefährlichen Zustand willentlich herbeiführt,
den Verletzungserfolg nicht notwendig zu wollen (BGE 70 IV 142; NOLL,
S. 23, 26; GERMANN, ZStrR 1961 S. 390 f.; LOGOZ, aaO).

    In diesem Sinne ist somit die bisherige Auffassung, dass dort, wo das
Gesetz von wissentlicher Gefährdung spricht, der Wille nicht zur Erfüllung
des Straftatbestandes gehöre, richtigzustellen. Der Wille zur Gefährdung
ist mit dem Wissen um ihren sicheren Eintritt notwendig verbunden. Für
Art. 129 gilt dies umsomehr, als er eine hohe Strafdrohung enthält und das
weitere Tatbestandsmerkmal der Gewissenlosigkeit aufstellt; beides wäre
ohne den entsprechenden Willen nicht verständlich (GERMANN, ZStrR 1961,
S. 391 N 11).

    b) Anderseits genügt Eventualvorsatz nicht. Es geht nicht um das Wissen
von der Möglichkeit eines Verletzungserfolges, sondern um die Gewissheit,
dass eine Gefahr hervorgehe aus dem Verhalten des Täters. Dieser muss sich
bewusst sein, dass er das geschützte Rechtsgut tatsächlich gefährdet,
dass sein Handeln die Gefährdung notwendig zur Folge hat (ZÜRCHER aaO;
LOGOZ aaO). Genügte eventueller Gefährdungsvorsatz, so würde das heissen,
dass der Täter schon dann strafbar ist, wenn er die Gefahr nicht sicher
kennt, sondern bloss für möglich hält. Da das Bewusstsein der Gefahr das
Wissen um die Möglichkeit der Verletzung ist, wäre der Eventualvorsatz,
als Bewusstsein der Möglichkeit einer Gefahr, das Wissen um die
Möglichkeit einer Möglichkeit (und der Einbezug dieser Möglichkeit in
den Willensinhalt). Damit wäre der Eventualvorsatz praktisch nicht mehr
von der Fahrlässigkeit zu unterscheiden (NOLL S. 30). Fahrlässigkeit aber
ist nur strafbar, wo es das Strafgesetz ausdrücklich bestimmt (Art. 18
Abs. 1), was z.B. bei Art. 129 nicht zutrifft.

    Müsste sich der Täter nur bewusst sein, dass er die Möglichkeit einer
Gefährdung schafft, dann wäre der Ausdruck "wissentlich" überflüssig,
denn das Wissen um die Möglichkeit der Gefahr ist schon im Eventualvorsatz
enthalten und hätte daher nicht besonders erwähnt werden müssen.

    c) Das Strafgericht erklärt in seinen vom Appellationsgericht
übernommenen Erwägungen, dass beim Beschwerdeführer, der die Handhabung
des Sturmgewehres vom Militärdienst her gekannt habe, das Bewusstsein der
Gefährdung vorausgesetzt werden müsse. Das kann nichts anderes heissen, als
dass er sich ihrer tatsächlich bewusst war, womit das Wissen verbindlich
festgestellt ist. Etwas anderes wäre auch kaum denkbar; um die Gefahr zu
erkennen, bedurfte es nicht einmal der Vertrautheit mit dem Sturmgewehr
aus dem Militärdienst. War sich der Beschwerdeführer aber bewusst, den
Vater mit seiner Handlungsweise in unmittelbare Lebensgefahr zu bringen,
so hat er diese Gefährdung auch gewollt.

Erwägung 4

    4.- Schliesslich ist zur Erfüllung des Tatbestandes von Art. 129
das Merkmal der Gewissenlosigkeit erforderlich. Gewissenlos ist eine
Gefährdung, deren Motive sittlich zu missbilligen sind. Je höher die
dem Täter bewusste Gefahr ist, und je weniger seine Beweggründe Achtung
verdienen, desto eher ist die Gewissenlosigkeit anzunehmen (NOLL, S. 28
f.; GERMANN, Verbrechen, S. 247).

    Der Beschwerdeführer bestreitet die Gewissenlosigkeit seines Vorgehens
mit Recht nicht. Er hat das Leben seines Vaters aus blosser Wut und dem,
wenn auch an sich verständlichen Bedürfnis, ihm einmal den Meister zu
zeigen, einer schweren Gefahr ausgesetzt.

Entscheid:

Demnach erkennt der Kassationshof:

    Die Nichtigkeitsbeschwerde wird abgewiesen.