Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 94 IV 56



94 IV 56

16. Urteil des Kassationshofes vom 13. Februar 1968 i.S.
Jugendanwaltschaft der Stadt Bern gegen A. Regeste

    Art. 95 Abs. 1 StGB. Die auszufällende Strafe richtet sich vor
allem nach dem Alter und der Persönlichkeit des jugendlichen Täters und
erst in zweiter Linie nach seinem Verschulden. Der Verweis ist auch bei
Verfehlungen zulässig, die objektiv nicht zu den leichtesten gehören,
nach den gesamten Umständen des Einzelfalles aber nicht als schwer zu
würdigen sind.

Sachverhalt

    A.- 1.) Der am 30. Juli 1950 geborene A. kam Ende Februar 1966 in
der elterlichen Wohnung seines Kameraden B., den er öfters nach der
Schule besuchte, mit dem Mädchen C., geb. 3. August 1952, zusammen, das
er schon wiederholt im Kreise von Kameraden angetroffen hatte und seither
kannte. Er verliebte sich anscheinend ein wenig in C. und tauschte mit ihr
Zungenküsse aus. Beim nächsten Besuch traf er das Mädchen beim Schmusen
mit B. an, worauf er mit C. nichts mehr zu tun haben wollte und sofort
die Wohnung verliess. Als er einige Tage später einer Einladung seines
Kameraden folgte, traf er in dessen Zimmer wiederum C. an, die rauchend
auf dem Bett lag und sich von anwesenden Burschen betasten liess. Von
diesen zum Mitmachen aufgefordert, sträubte sich A. zuerst, gab aber, als
er deswegen ausgelacht wurde, dem Drängen nach und betastete das Mädchen
über und unter den Kleidern an der Brust und am Geschlechtsteil, wobei er
einen Finger in die Scheide führte. Am folgenden Tag wiederholten sich
diese Vorgänge. Auf die Mahnung eines Freundes hin brach hierauf A. die
Beziehungen zu B. und zum Mädchen vollständig ab.

    2.) Am Abend des 13. Dezember 1966, 20.00 Uhr, stiess A., als er ein
Motorfahrrad führte, auf dem Eigerplatz in Bern mit einem VW-Personenwagen
zusammen, der von rechts aus der Belpstrasse herkam. A. hatte den
vortrittsberechtigten Wagen wegen starken Schneetreibens nicht rechtzeitig
gesehen und wurde beim Unfall verletzt.

    B.- Der Gerichtspräsident von Bern als Jugendrichter erklärte A. der
Unzucht mit einem Kind und der Widerhandlung gegen Verkehrsvorschriften
schuldig und erteilte ihm - abweichend vom Antrag der Jugendanwältin, der
auf 3-4 Tage Einschliessung mit bedingtem Strafvollzug gelautet hatte -
einen Verweis.

    Auf Appellation der Jugendanwaltschaft, die sich auf die Strafzumessung
beschränkte, bestätigte die II. Strafkammer des Obergerichts des Kantons
Bern am 21. Juni 1967 das erstinstanzliche Urteil.

    C.- Die Jugendanwaltschaft für die Stadt Bern führt gegen dieses
Urteil Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag, A. sei mit Einschliessung
zu bestrafen.

Auszug aus den Erwägungen:

              Der Kassationshof zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Gemäss Art. 95 Abs. 1 StGB wird der fehlbare Jugendliche, gegen
den keine der in Art. 91 und 92 vorgesehenen Massnahmen zu ergreifen ist,
mit einem Verweis oder mit Busse oder Einschliessung bis zu einem Jahr
bestraft. Demnach muss gegen den im Alter von 14 bis 18 Jahren stehenden
Täter anstelle der im Gesetz auf die Tat allgemein angedrohten Strafe eine
der besonderen Sanktionen des Art. 95 ausgesprochen werden. Nach welchen
Grundsätzen die Wahl unter diesen zu treffen und die Strafe zuzumessen
ist, wird - von der die Busse betreffenden Vorschrift in Art. 95 Abs. 2
abgesehen - in Art. 89 ff. StGB nicht gesagt.

    a) Die Jugendanwaltschaft ist der Auffassung, dass die allgemeine
Strafzumessungsregel des Art. 63 StGB ergänzend beizuziehen sei und dass
demzufolge das Verschulden des Täters die Grundlage für die Strafzumessung
bilde. Die allgemeinen Bestimmungen des StGB finden jedoch gegenüber einem
Jugendlichen nicht schlechthin, sondern nur insoweit Anwendung, als sie
mit dem Sinn und Zweck des Jugendstrafrechts vereinbar sind (vgl. BGE
76 IV 274, 78 IV 225, 92 IV 84 und 123, 93 IV 7). Das Verschulden des
jugendlichen Täters, das Voraussetzung seiner Bestrafung ist (BGE 88 IV
75), darf zwar bei der Strafzumessung nicht unberücksichtigt bleiben, ist
aber nicht, wie die Jugendanwaltschaft geltend macht, das entscheidende
Kriterium. Im Jugendstrafrecht, wo Sühne und Vergeltung eine völlig
untergeordnete Rolle spielen, steht der Gedanke der Erziehung und Besserung
im Vordergrund, indem davon auszugehen ist, dass bei Jugendlichen die
Charakterbildung sowie die geistige und sittliche Entwicklung noch nicht
abgeschlossen sind und sie noch der unterstützenden Führung bedürfen. Die
Strafe muss daher vor allem dem Alter und der gesamten Persönlichkeit des
jugendlichen Täters angepasst werden, und zwar so, dass sie sich auf seine
Weiterentwicklung nicht hemmend oder schädlich auswirkt, sondern diese
im Gegenteil fördert und günstig beeinflusst (vgl. BGE 92 IV 84 und 126).

    Das Obergericht hat somit eidgenössisches Recht nicht verletzt, wenn
es bei der Strafzumessung neben dem Verschulden besonderes Gewicht auf
die Persönlichkeit des Angeschuldigten legte. Es hat anderseits aber auch
nicht, wie in der Beschwerde behauptet wird, die Strafe einzig nach den
persönlichen Verhältnissen des Täters bemessen, sondern es würdigte auch
dessen Verschulden und hat dieses mitberücksichtigt. So stellt es fest,
dass dem Angeschuldigten beim Verkehrsunfall nur ein leichtes Verschulden,
keinesfalls grobe Fahrlässigkeit, zur Last falle und dass auch die nicht
sehr schwerwiegenden unzüchtigen Handlungen ihm nicht voll angerechnet
werden könnten, denn er habe sie unter dem unmittelbaren Druck der ihn dazu
drängenden Kameraden und ausserdem unter dem Einfluss des sich aufreizend
benehmenden Mädchens, das nur wenig jünger war als er, begangen, wozu
noch komme, dass sein Verhalten offenbar eine Trotzreaktion gewesen sei.
Abschliessend wird ausdrücklich erklärt, dass die erstinstanzlich
ausgefällte Strafe nicht nur der Persönlichkeit des Angeschuldigten,
sondern auch seinem Verschulden angepasst sei.

    b) Die Beschwerdeführerin beanstandet ferner, dass das Obergericht die
zugunsten des Angeschuldigten sprechenden Seiten seiner Persönlichkeit
zweifach, also in unzulässigem Masse berücksichtigt habe. Dem Umstand,
dass der Jugendliche sich noch in der Entwicklung befinde, werde schon
vom Gesetz dadurch Rechnung getragen, dass es die Jugendlichen besonderen
Strafsanktionen unterwerfe. Namentlich setze Art. 95 Abs. 1 StGB bereits
voraus, dass der Jugendliche normal entwickelt sei und sich im grossen und
ganzen wohlverhalten habe, ansonst diese Bestimmung nicht anwendbar wäre
und erzieherische Massnahmen im Sinne von Art. 91 Ziff. 1 StGB angeordnet
werden müssten. Bei der Strafzumessung könnten infolgedessen nur noch
verhältnismässig untergeordnete Besonderheiten der Persönlichkeit, so
hauptsächlich sein Alter und seine Strafempfindlichkeit, in Erwägung
gezogen werden.

    Dieser Einwand hält nicht stand. Das Obergericht beschränkte sich
keineswegs auf Feststellungen allgemeiner Art, die mehr oder weniger bei
jedem Jugendlichen zutreffen, und auch nicht auf solche, die schon für den
Entscheid darüber, ob Art. 91 oder Art. 95 anwendbar sei, unerlässlich
waren. Es weist darüber hinaus nach, dass der sonst günstig beurteilte
Angeschuldigte sich nur deswegen zu den unzüchtigen Handlungen hinreissen
liess, weil er zufolge ehelicher Schwierigkeiten im Elternhaus, unter denen
er litt, vorübergehend unter den Einfluss schlechter Kameraden geraten
war, dass er sich von diesen nach den Verfehlungen rasch und endgültig
löste und bereits vor der Einleitung des Strafverfahrens Einsicht und den
Willen zur Besserung zeigte und dass er diese Einstellung seither durch
eine untadelige Haltung bekräftigt hat. Das sind besondere Merkmale des
Einzelfalles, die für die Beurteilung der Besserungsaussichten und der
voraussichtlichen Wirkungen der Bestrafung bedeutsam und deshalb bei der
Strafzumessung zu berücksichtigen sind.

    c) Unzutreffend ist auch die Auffassung der Jugendanwaltschaft, dass
der Verweis als mildeste Strafe nur bei den leichtesten Verfehlungen
in Frage komme, also nicht bei unzüchtigen Betastungen, die nicht dazu
zählten. Diese Betrachtungsweise hätte in den zahlreichen Fällen, in
denen eine Busse zum vorneherein nicht in Betracht fällt, zur Folge,
dass ausser in den schweren und mittelschweren auch in den leichten
Fällen immer auf Einschliessung erkannt werden müsste. Das ist nicht der
Sinn des Gesetzes. Auch bei Verfehlungen, die nicht zu den leichtesten
gehören, aber noch leicht sind, kann ein Verweis am Platze sein. Dabei
darf nicht ausser acht gelassen werden, dass für die Bewertung der
Verfehlungen Jugendlicher weniger die objektive Schwere der Tat als in
weit stärkerem Masse das zusammen mit der Persönlichkeit des Täters zu
würdigende Verschulden ausschlaggebend ist.

Erwägung 2

    2.- Das Obergericht bezeichnet die Verfehlungen des Angeschuldigten
als leicht. Diese Würdigung wird mit Recht nicht bestritten. Die Erteilung
eines blossen Verweises könnte daher nur wegen Unangemessenheit der Strafe
angefochten werden, vorausgesetzt, dass eine Ermessensüberschreitung
vorläge (BGE 90 IV 79 und 155, 92 IV 119 und dort erwähnte frühere
Entscheidungen). Eine solche ist im Hinblick auf die Tatumstände und
das Verschulden sowie die Feststellungen, die von der Vorinstanz über
die Besserungsaussichten und die voraussichtlich günstige Entwicklung
des Angeschuldigten getroffen werden, nicht gegeben.

Entscheid:

Demnach erkennt der Kassationshof:

    Die Nichtigkeitsbeschwerde wird abgewiesen.