Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 94 IV 140



94 IV 140

38. Urteil des Kassationshofes vom 15. November 1968 i.S. Catterini gegen
Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau. Regeste

    1.  Art. 26 SVG. Diese Grundregel hat neben den besonderen
Verkehrsregeln subsidiäre Bedeutung (Erw. 1).

    2.  Art. 47 Abs. 5 VRV. Überschreiten der Fahrbahn ausserhalb
von Fussgängerstreifen. Der vortrittsberechtigte Fahrzeugführer ist
nicht verpflichtet, seine Geschwindigkeit zum vorneherein zugunsten
nichtberechtigter Fussgänger herabzusetzen (Erw. 2-4).

Sachverhalt

    A.- Am 18. März 1967, etwa um 20.00 Uhr, lenkte Catterini seinen
Personenwagen "VW" mit einer Geschwindigkeit von 50-55 km/Std. auf der
Surbtalstrasse durch Lengnau gegen Tiefenwaage. Vor ihm fuhren zwei
Wagen in derselben Richtung. Gleichzeitig näherte sich von links aus der
Brunnengasse der Fussgänger Köferli, in der Absicht, die Surbtalstrasse
zu überqueren und seinen Weg auf der gegenüberliegenden Kratzstrasse
fortzusetzen. Bei der Einmündung der Brunnengasse in die Surbtalstrasse
hielt Köferli an, marschierte alsdann bis zur Mitte der Surbtalstrasse
und hielt dort erneut an. Nach Durchfahrt der beiden ersten erwähnten
Personenwagen setzte er seinen Weg fort, um die zweite Hälfte der
Strasse noch vor dem herannahenden "VW" zu überqueren. Trotz sofortiger
Bremsung gelang es Catterini nicht, seinen Wagen rechtzeitig anzuhalten.
Köferli wurde von der rechten Vorderseite des "VW" erfasst, zu Boden
geworfen und erheblich verletzt. Er stellte Strafantrag wegen fahrlässiger
Körperverletzung.

    B.- Durch Strafbefehl vom 26. Juli 1967 büsste das Bezirksamt
Zurzach Köferli wegen unvorsichtigen Überschreitens der Fahrbahn (Art. 49
Abs. 2 SVG) und Nichtbeachtung des dem Fahrzeug zustehenden Vortritts
(Art. 47 Abs. 5 VRV) mit Fr. 30.-; Catterini belegte es wegen fahrlässiger
Körperverletzung (Art. 125 Abs. 1 StGB) mit einer Busse von Fr. 60.-. Auf
Einsprache von Catterini sprach das Bezirksgericht Zurzach diesen am
13. September 1967 frei.

    Das Obergericht des Kantons Aargau, an das die Staatsanwaltschaft
Berufung erklärte, hob das Urteil am 4. März 1968 auf und erklärte
Catterini wegen Übertretung der Art. 26 Abs. 2, 33 Abs. 1 SVG, und Art. 6
Abs. 3 VRV der fahrlässigen Körperverletzung schuldig und verurteilte
ihn zu einer Busse von Fr. 60.-.

    C.- Gegen dieses Urteil führt Catterini Nichtigkeitsbeschwerde mit
dem Antrag auf Rückweisung der Sache an die Vorinstanz zur Freisprechung.

    Die Staatsanwaltschaft beantragt Abweisung der Beschwerde.

Auszug aus den Erwägungen:

              Der Kassationshof zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Wenn, wie im vorliegenden Fall, dem Fahrzeugführer auf Grund
einer besonderen Verkehrsregel eine Verletzung der Pflichten gegenüber
einem Fussgänger zur Last gelegt wird, ist er daneben nicht auch wegen
Übertretung von Art. 26 SVG zu bestrafen. Nach ständiger Rechtsprechung
hat diese allgemeine Grundregel neben den besonderen Verkehrsregeln nur
subsidiäre Bedeutung (BGE 92 IV 20 E. 3 und 32 E. 3; 91 IV 94). Das heisst
nicht, dass sie insoweit unbeachtlich sei. Im Gegenteil ist sie für die
Auslegung der besonderen Regeln wichtig, indem sie die leitenden Gedanken
aufzeigt, nach denen sich das Verhalten im Verkehr zu richten hat. Für
sich allein und selbständig dagegen ist Art. 26 SVG nur anwendbar, wenn das
Verhalten eines Verkehrsbenützers durch eine andere Bestimmung des Gesetzes
oder der Ausführungsvorschriften nicht oder nicht voll erfasst wird.

Erwägung 2

    2.- Nach den vorinstanzlichen Feststellungen erstellte der
Beschwerdeführer Bremsbereitschaft, als der Fussgänger die Strasse
zu überqueren begann. Darüber hinaus scheint das Obergericht nicht
auszuschliessen, dass der Beschwerdeführer in diesem Augenblick - gemäss
der Aussage des im "VW" mitfahrenden Zeugen Seiler - zu bremsen begann.

    Im angefochtenen Urteil wird dem Beschwerdeführer jedoch vorgeworfen,
er habe, als Köferli bis zur Mitte der Strasse schritt und dort anhielt,
seine Geschwindigkeit nicht erheblich herabgesetzt, um im Falle, dass
der Fussgänger weiter marschieren würde, auf kürzeste Entfernung anhalten
und einen Zusammenstoss vermeiden zu können. Dieser Auffassung kann nicht
zugestimmt werden.

    Es ist unbestritten, dass der Beschwerdeführer gemäss Art. 47
Abs. 5 VRV den Vortritt hatte, da Köferli die Strasse nicht auf einem
Fussgängerstreifen überschritt. Es stellt sich daher die Frage, ob
Catterini damit rechnen musste, dass ihm der Fussgänger den Vortritt
nicht lassen werde.

    Hätte Köferli trotz der drei herannahenden Fahrzeuge die Strasse
in einem Zuge überquert und wäre er auf die Lücke zwischen dem zweiten
und dritten Wagen zu marschiert, so wäre der Beschwerdeführer ungeachtet
seines Vortrittsrechts verpflichtet gewesen, zu bremsen und nötigenfalls
anzuhalten. Wären den drei Wagen weitere Fahrzeuge gefolgt, so hätte
jeder Führer damit rechnen müssen, dass der Fussgänger nach einer für
ihn günstigen Lücke ausspähen und plötzlich über die Strasse hasten werde.

    So verhielt es sich indessen im vorliegenden Falle nicht. Bevor Köferli
die Strasse betrat, gewahrte er die drei von rechts sich nähernden Wagen.
Hierauf schritt er bis zur Strassenmitte, wo er anhielt. Soweit war sein
Verhalten durchaus üblich und nicht verkehrswidrig. Es kann täglich
beobachtet werden, dass ein Fussgänger, der eine Strasse überqueren
will, nicht an deren Rand stehen bleibt, bis der von rechts heranrollende
Verkehr abbricht, sondern sein Vorhaben sofort auszuführen beginnt, indem
er vorerst bis zur Strassenmitte marschiert, anhält und nun hier auf den
Zeitpunkt wartet, in welchem er seinen Weg gefahrlos fortsetzen kann. Aus
dem Umstand, dass Köferli in der Strassenmitte anhielt, durfte somit
jeder der drei Fahrzeugführer schliessen, der Fussgänger werde stehen
bleiben. Nachdem Köferli den zwei ersten Wagen den Vortritt gelassen
hatte, musste der Beschwerdeführer erst recht nicht damit rechnen,
der Fussgänger werde die zweite Strassenhälfte nun plötzlich vor ihm
überqueren; dies umsoweniger, als Köferli weder mit einem Handzeichen
noch auf andere Weise zu verstehen gab, er werde weitergehen und das dem
Beschwerdeführer zustehende Vortrittsrecht missachten.

    In BGE 93 IV 34 E. 2 hat der Kassationshof für den Fall des
Zusammentreffens von Fahrzeugen gesagt, der Berechtigte brauche seine
Fahrweise nicht schon zum vornherein auf die Möglichkeit einzustellen, dass
ein anderer sein Vortrittsrecht missachten könnte. An dieser Rechtsprechung
ist auch im Falle des Zusammentreffens von Fussgängern und Fahrzeugen
festzuhalten. Würde anders entschieden, so müsste der Fahrzeugführer bei
jedem von links kommenden Fussgänger, der im Begriffe ist, die Strasse
ausserhalb des Fussgängerstreifens zu überqueren, seine Fahrgeschwindigkeit
bis auf Schrittempo verlangsamen oder sein Fahrzeug sogar anhalten, was den
Fussgänger geradezu verleiten würde, die Strasse noch rasch zu überqueren.
Daraus ergäbe sich ein Augenblick der Unsicherheit. Es käme zu dem
bekannten beidseitigen Zögern, das schon allzu oft Unfälle herbeigeführt
hat und mit ein Grund für die Einführung klarer Vortrittsregeln
war. Daraus erhellt, dass ausserhalb des Fussgängerstreifens und da, wo
nicht besondere Umstände ein verkehrswidriges Verhalten eines von links
kommenden Fussgängers erwarten lassen, vom Fahrzeugführer nicht verlangt
werden kann, seine Geschwindigkeit erheblich herabzusetzen oder anzuhalten.

Erwägung 3

    3.- Die Vorinstanz schliesst aus dem Umstand, dass Catterini nicht sah,
ob Köferli ihn während seines Haltes in der Strassenmitte wahrgenommen
hatte, der Beschwerdeführer habe nicht ohne weiteres annehmen dürfen,
der Fussgänger werde ihm den Vortritt lassen. Entgegen der Auffassung der
Vorinstanz ist diese Frage nicht entscheidend. Vielmehr kommt es darauf
an, dass der Beschwerdeführer sich angesichts der durchaus üblichen
Verhaltensweise des Fussgängers darauf verlassen durfte, dieser werde
nicht nur die beiden ersten Wagen, sondern auch noch ihn vorbeifahren
lassen. Unter diesen Umständen konnte er ohne weiteres annehmen, von
Köferli gesehen worden zu sein. Anders wäre es gewesen, wenn Köferli statt
anzuhalten die Strasse in einem Zuge und blindlings überschritten hätte.

Erwägung 4

    4.- Von einer gewissen Bedeutung ist der Abstand zwischen dem
zweiten und dritten Fahrzeug. Dieser wurde vom Beschwerdeführer mit
20-25 m angegeben. Im angefochtenen Urteil wird ausgeführt, er müsse
"auf Grund des Beweisverfahrens... erheblich grösser gewesen sein". Die
Vorinstanz erwähnt dann die Aussage Köferlis, wonach der Abstand 100-120
m betragen habe, und bemerkt: "Der Wagen des Angeklagten war jedoch
wesentlich näher". Wird der Abstand auf ungefähr 50-60 m bemessen,
so konnte Köferli in der Tat versucht sein, noch rasch in diese Lücke
zu springen und vor dem Beschwerdeführer über die Strasse zu eilen. Das
allein rechtfertigt jedoch noch keine Ausnahme vom vorerwähnten Grundsatz.
Deshalb kann dem Beschwerdeführer nicht vorgeworfen werden, er hätte sich
von der Gefahr einer unrichtigen Einschätzung des Abstandes durch den
Fussgänger Rechenschaft geben sollen. Da Köferli bis zu seinem Halt in der
Strassenmitte kein verkehrswidriges Verhalten an den Tag gelegt hat, mithin
keinen Grund zu besonderer Vorsicht bot, durfte der Beschwerdeführer den
Vortritt im Vertrauen darauf ausüben, der nichtberechtigte Fussgänger
trage dem Abstand zu seinem Fahrzeug Rechnung und werde ihn also
nicht überraschen und in der Fahrt hindern. Die ganze Verantwortung am
Zusammenstoss trifft daher den vortrittsbelasteten Köferli.

Entscheid:

Demnach erkennt der Kassationshof:

    Die Nichtigkeitsbeschwerde wird gutgeheissen, das Urteil des
Obergerichts des Kantons Aargau vom 4. März 1968 aufgehoben und die Sache
zur Freisprechung des Angeschuldigten an die Vorinstanz zurückgewiesen.