Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 94 II 37



94 II 37

5. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung vom 21. Mai 1968
i.S. Grufina AG gegen Vogel. Regeste

    Vertragsanspruch oder Bereicherungsanspruch? (Erw. 4).

    Kein Anspruch auf Erstattung von Auslagen beim blossen Putativauftrag
(Erw. 5).

    Rechtsmissbrauch wegen Verzögerung in der gerichtlichen Geltendmachung
eines Anspruchs? (Erw. 6).

    Zulässigkeit der Berufung auf Rechtsmissbrauch erst vor Bundesgericht
(Erw. 6 a).

Sachverhalt

                       Aus dem Tatbestand:

    Die Exchange Finanz AG Zürich, die Rechtsvorgängerin der heutigen
Beklagten Grufina AG, verkaufte im Juli 1951 für ihren Kunden Raimund Vogel
in München 630 000 Sperrmark. Vogel bestritt, ihr einen Auftrag zu diesen
Verkäufen erteilt zu haben, und weigerte sich, ihr die erforderlichen
Sperrmark zu liefern. Die Exchange beschaffte sich daher die Sperrmark
durch Deckungskäufe, wobei sich ein Exekutionsschaden von Fr. 24 785.--
ergab, den sie einem Schweizerfrankenkonto des Vogel belastete. Vogel
erhob bei der Liquidierung dieses Kontos im Juli 1951 gegen die Belastung
Einspruch und verlangte im August 1951, sowie in den Jahren 1952 und
1954 erfolglos Auszahlung des zurückbehaltenen Betrages. Am 22. Juni
1961 betrieb er die Grufina zwecks Unterbrechung der Verjährung. Die
Betriebene erhob Rechtsvorschlag, worauf Vogel die Sache erneut ruhen
liess, bis er im November 1965 Klage auf Auszahlung des Betrages von
Fr. 24 785.-- einreichte.

    Die Beklagte bestritt die Klage mit der Begründung, Vogel habe ihr 1951
einen Verkaufsauftrag erteilt und habe ihr daher den infolge Nichtlieferung
der verkauften Sperrmark eingetretenen Exekutionsschaden ersetzen müssen;
eventuell erhob sie die Einrede der Verjährung.

    Das Handelsgericht des Kantons Zürich entschied, der Nachweis für
den von der Beklagten behaupteten Auftrag zum Verkauf der Sperrmark sei
nicht erbracht, verwarf die Verjährungseinrede der Beklagten und schützte
die Klage.

    Das Bundesgericht, vor dem die Beklagte an der Einrede der Verjährung
festhielt und neu den Einwand des Rechtsmissbrauchs wegen Verzögerung in
der Geltendmachung des Anspruchs erhob, weist die Sache an die Vorinstanz
zurück auf Grund folgender

Auszug aus den Erwägungen:

                           Erwägungen:

Erwägung 4

    4.- Das Handelsgericht hat die von der Beklagten erhobene Einrede der
Verjährung mit der Begründung verworfen, bei der streitigen Forderung
handle es sich um das Saldoguthaben aus einem Kontokorrentverhältnis
zwischen dem Kläger und der Exchange, also um einen vertraglichen Anspruch,
für den nach Art. 127 OR die zehnjährige Verjährungsfrist gelte; diese sei
durch die Betreibung vom 22. Juni 1961 unterbrochen worden und somit im
Zeitpunkt der Klageerhebung vom 13. November 1965 noch nicht abgelaufen
gewesen.

    Die Beklagte hält in der Berufung die Verjährungseinrede
aufrecht. Sie wendet ein, die Annahme der Vorinstanz, zwischen dem
Kläger und der Exchange habe ein Kontokorrentverhältnis bestanden,
beruhe auf einer blossen unbewiesenen Behauptung des Klägers. Die
Umstände sprächen aber gegen einen Kontokorrentvertrag. Die auf das
Schweizerfranken-Konto gelegten Gelder seien der Exchange zum Kaufvon
Sperrmark überwiesen worden. Der Anspruch auf Rückerstattung des nicht zu
diesem Zwecke verwendeten Geldes sei ein Bereicherungsanspruch im Sinne
einer "condictio causa data causa non secuta", für den die einjährige
Verjährung gelte. Diese Jahresfrist habe spätestens am 19. Juli 1951
zu laufen begonnen, d.h. mit dem Tage, an dem der Kläger den Saldo des
Schweizerfranken-Kontos abzüglich der streitigen Fr. 24 785.-- bezogen
habe, und sei somit am 19. Juli 1952 abgelaufen.

    Dieser Einwand hält der Prüfung nicht stand. Wohl hat die Vorinstanz
ohne besondere Beweiserhebungen auf die Behauptung des Klägers abgestellt,
dass zwischen ihm und der Exchange ein Kontokorrentvertrag bestanden
habe; sie hat das Vorliegen eines solchen offenbar stillschweigend
aus den gesamten Umständen gefolgert. Welches die Rechtsnatur dieses
Schweizerfranken-Kontos des Klägers bei der Exchange gewesen sei,
kann jedoch dahingestellt bleiben. Ob der streitige Betrag den Saldo
aus einem Kontokorrentvertrag im Sinne des Art. 117 OR oder aus einem
ähnlichen Verhältnis, wie z.B. aus einer gewöhnlichen laufenden Rechnung
(vgl. hiezu OSER/SCHÖNENBERGER, N. 4 zu Art. 117 OR) darstellte, ob eine
Hinterlegung, ein Auftrag oder ein einem solchen ähnliches Verhältnis
vorgelegen habe, ist nämlich unerheblich. Auf jeden Fall steht ausser
Zweifel, dass dieses Konto auf einer vertraglichen Beziehung zwischen dem
Kläger und der Exchange beruhte und dass die letztere bei der Beendigung
dieses Vertragsverhältnisses verpflichtet war, dem Kläger den verbleibenden
Saldo zurückzuerstatten. Behielt sie von diesem unberechtigterweise
den Teilbetrag von Fr. 24 785.-- zurück, so verletzte sie damit eine
vertragliche Rückerstattungspflicht und war nicht etwa bloss um den
zurückbehaltenen Betrag ungerechtfertigt bereichert. Der vertragliche
Rückerstattungsanspruch des Klägers untersteht aber der zehnjährigen
Verjährungsfrist des Art. 127 OR, die durch die Betreibung vom 22. Juni
1961 unterbrochen wurde. Die Verwerfung der Verjährungseinrede der
Beklagten durch die Vorinstanz verstiess daher nicht gegen Bundesrecht.

Erwägung 5

    5.- Da ein Auftrag zum Verkauf der Sperrmark nicht erteilt worden war,
lässt sich die Belastung des Schweizerfranken-Kontos durch die Exchange
mit dem Exekutionsverlust aus dem Sperrmarkverkauf auch nicht etwa auf
Art. 402 OR stützen, wonach der Auftraggeber dem Beauftragten die in
richtiger Ausführung des Auftrages gemachten Auslagen und Verwendungen,
sowie grundsätzlich auch den aus dem Auftrag erwachsenen Schaden
zu ersetzen hat. Dass die Exchange der Meinung war, einen Auftrag
erhalten zu haben, ändert nichts; denn der blosse Putativauftrag ist kein
Auftrag (BGE 51 II 187 f., 77 II 372 oben; GAUTSCHI, OR Art. 402 N. 6 c,
S. 567). Mangels eines Auftrages fehlte der Rechtsgrund für einen solchen
Erstattungsanspruch der Exchange. Für eine Heranziehung von Art. 402 OR
gegenüber dem Erfüllungsanspruch des Klägers auf Auszahlung des Saldos
aus dem Schweizerfranken-Konto ist daher kein Raum.

Erwägung 6

    6.- In der Berufung legt die Beklagte das Hauptgewicht auf den Einwand,
der Kläger habe den Anspruch auf den verrechnungsweise zurückbehaltenen
Betrag infolge ungebührlich verspäteter Geltendmachung verwirkt. Er habe
schon am 19. Juli 1951 die Zurückbehaltung des streitigen Betrages gekannt,
aber trotzdem mit der Klageerhebung bis zum 13. November 1965, also über
14 Jahre, zugewartet, ohne dafür einen stichhaltigen Grund vorbringen
zu können. Falls dafür Devisen- oder Steuergründe massgebend gewesen
sein sollten, hätte er dies selber zu vertreten. Der Umstand, dass er
nach der Betreibung vom Jahre 1961 bis zur Klageerhebung noch weitere
vier Jahre habe verstreichen lassen, zeige deutlich, dass er mit dem
Zuwarten während 14 Jahren offensichtlich bezweckt habe, der Beklagten
den Beweis für die Erteilung des Auftrages zum Verkauf der Sperrmark zu
erschweren oder gar zu verunmöglichen. Solches Zuwarten zum Zwecke der
Beweisverdunkelung verstosse gegen Treu und Glauben und bedeute daher
einen Rechtsmissbrauch im Sinne des Art. 2 ZGB.

    a) Dass die Beklagte diesen Einwand erst im Berufungsverfahren erhoben
hat, steht seiner Zulässigkeit nicht im Wege. Denn das Vorliegen eines
Rechtsmissbrauches im Sinne von Art. 2 ZGB ist in jeder Instanz von
Amtes wegen zu beachten (BGE 69 II 103, 78 II 227, 79 II 405, 86 II 232
Erw. 6). Sobald Sachumstände behauptet werden, die unter dem Gesichtspunkt
des Art. 2 ZGB einen Anspruch zu begründen oder zu vernichten geeignet
sind, hat der Richter die Norm anzuwenden, gleichgültig, ob eine Partei sie
anrufe (MERZ, Art. 2 ZGB, N. 99). Diese Voraussetzung ist hier erfüllt: Der
Kläger hat schon in der Klageschrift das Unterbleiben der gerichtlichen
Geltendmachung seines Anspruchs damit begründet, er habe vorerst die
strafrechtliche Verjährung allfälliger Devisenvergehen abwarten müssen,
und die Beklagte ihrerseits hat in der Klagebeantwortung den Standpunkt
eingenommen, es wäre mit Treu und Glauben unvereinbar, ihr nach so
langer Zeit die Beweislast für die Auftragserteilung aufzubürden. Das
Handelsgericht hätte daher Anlass gehabt, nicht nur zu erwägen, wie sich
das lange Zuwarten mit der Klage auf die Anforderungen an die Beweispflicht
der Beklagten auswirke, sondern auch, ob das Verhalten des Klägers nicht
als Rechtsmissbrauch zu bewerten sei.

    b) Eine Anspruchsverwirkung wegen rechtsmissbräuchlicher Verzögerung
der gerichtlichen Geltendmachung darf nur mit grosser Zurückhaltung
angenommen werden (BGE 79 II 313). Insbesondere bei vertraglichen
Ansprüchen rechtfertigt der blosse Zeitablauf für sich allein den Schluss
auf das Vorliegen eines Rechtsmissbrauchs noch nicht. Das Gesetz sieht
für die Geltendmachung vertraglicher Forderungen in der Regel eine
Verjährungsfrist von 10 Jahren (Art. 127 OR), und für gewisse Kategorien
von Forderungen eine solche von 5 Jahren (Art. 128 OR) vor. Innerhalb
dieser Frist steht es dem Gläubiger frei, in welchem Zeitpunkt er
seinen Anspruch geltend machen will. Er kann sogar die Verjährung durch
Betreibung unterbrechen und damit den Ablauf der Verjährungsfrist noch
weiter hinausschieben (Art. 135 Ziff. 2 OR). Unter gewissen Umständen
sieht das Gesetz sodann vor, dass die Verjährung überhaupt nicht zu laufen
beginnt oder stillsteht (Art. 134 OR). Das Gesetz nimmt es also in Kauf,
dass sich infolge Zeitablaufs für den Schuldner Beweisschwierigkeiten
ergeben können für den Nachweis, dass die angebliche Schuld getilgt worden
oder anderweitig untergegangen ist. Soll das Rechtsinstitut der Verjährung
nicht weitgehend ausgehöhlt werden, so müssen daher zum blossen Zeitablauf
noch weitere Umstände hinzutreten, damit eine rechtsmissbräuchliche
Verzögerung in der Rechtsausübung angenommen werden darf (MERZ, Art. 2
ZGB N. 522 S. 365).

    c) Ein solcher Umstand kann darin liegen, dass die Rechtsausübung mit
der früheren Untätigkeit des Berechtigten in unvereinbarem Widerspruch
steht. Das kommt vor allem in Betracht bei Ansprüchen, für die keine
gesetzliche Verwirkungs- oder Verjährungsfrist vorgesehen ist, wie
z.B. bei Unterlassungsansprüchen, beim Persönlichkeitsrecht oder im
immateriellen Güterrecht, wenn der Berechtigte eine Verletzung seines
Rechts während langer Zeit widerspruchslos hingenommen hat (BGE 73 II 190,
76 II 394, 85 II 129 Erw. 9). Bei Forderungsansprüchen kann dagegen eine
Verwirkung aus diesem Grunde nur in Frage kommen, wenn die Untätigkeit
des Gläubigers den Schluss nahelegt, er habe auf seine Forderung
verzichtet. Diese Voraussetzung ist hier jedoch nicht erfüllt. Der
Kläger hat nie auf den Anspruch auf Auszahlung des von der Exchange
zurückbehaltenen Betrages verzichtet, sondern im Gegenteil sofort nach
Entgegennahme des Saldobetrages aus dem Schweizerfranken-Konto am 19. Juli
1951 gegen die Zurückhaltung der Fr. 24 785.-- Einspruch erhoben. Auch
in der Folge hat er wiederholt, nämlich im August 1951 und in den Jahren
1952 und 1954, die Auszahlung des zurückbehaltenen Betrages verlangt,
und schliesslich hat er seinen Anspruch im Jahre 1961 durch Betreibung
erneut geltend gemacht.

    d) Rechtsmissbräuchliche Verzögerung in der Geltendmachung einer
Forderung ist ferner anzunehmen, wenn sie auf die Absicht des Gläubigers
zurückzuführen ist, eine für den Schuldner nachteilige Beweisverdunkelung
herbeizuführen (BGE 59 II 392 f.). Solcher Absicht der Beweisverdunkelung
bezichtigt die Beklagte den Kläger. Dieser bestreitet die Begründetheit
dieses Vorwurfs und will seine Untätigkeit damit erklären, dass er bei
früherer Durchsetzung seines Anspruches auf dem Rechtsweg hätte befürchten
müssen, in Deutschland wegen Devisenvergehen und Steuerhinterziehung
strafrechtlich belangt zu werden.

    Eine solche Gefahr vermag ein Zuwarten des Gläubigers mit der
Rechtsausübung entgegen der Auffassung der Beklagten in der Tat
grundsätzlich zu rechtfertigen. Das schweizerische Recht verpflichtet
niemanden zu einem Verhalten, das ihn der Gefahr strafrechtlicher
Verfolgung, sei es auch im Ausland, aussetzen könnte. Auf diesem
Gedanken beruht z.B. auch das durch das Prozessrecht in der Regel einem
Zeugen eingeräumte Recht der Zeugnisverweigerung, wenn er sich mit
der Beantwortung einer Frage die Gefahr strafgerichtlicher Verfolgung
zuziehen kann (so z.B. BZP Art. 42 Abs. 1 lit. a). Das Gesetz billigt
also dem persönlichen Interesse des Zeugen, sich einer möglicherweise
verdienten Bestrafung zu entziehen, den Vorrang zu vor dem Interesse des
Beweisführers, den ihm obliegenden Beweis erbringen zu können; ja sogar
das öffentliche Interesse an der Ermittlung der Wahrheit, auf dem die
allgemeine Zeugnispflicht beruht, hat hinter das genannte rein egoistische
Interesse des Zeugen zurückzutreten.

    Das Bestreben des Klägers, die Gefahr strafrechtlicher Verfolgung
abzuwenden, vermag daher sein Zuwarten mit der Rechtsausübung nicht als
rechtsmissbräuchlich erscheinen zu lassen, wenn auch die von ihm begangenen
strafbaren Handlungen moralisch zu missbilligen sind.

    Nach dem Eintritt der Verfolgungsverjährung für die Widerhandlungen
gegen die deutschen Devisenvorschriften und die Steuerhinterziehungen
bestand dagegen für den Kläger kein Anlass mehr, aus diesem Grunde die
gerichtliche Durchsetzung seines Anspruchs weiter hinauszuschieben. Wie
lange er zuwarten durfte, hängt somit wesentlich von der Dauer der
Verjährungsfrist ab, die für die in Frage stehenden strafbaren Handlungen
galt. Wie es sich damit verhält, kann beim gegebenen Aktenstand nicht
entschieden werden. Die Sache ist daher zur Abklärung dieses Punktes
an die Vorinstanz zurückzuweisen. Diese wird abzuklären haben, welche
Verjährungsfrist die einschlägige deutsche Gesetzgebung für die Delikte
vorsah, wegen denen der Kläger verfolgt zu werden befürchtete. Sollte
sich herausstellen, dass er auch nach Ablauf dieser Verjährungsfristen
erhebliche Zeit verstreichen liess, bis er sich entschloss, gegen die
Beklagte gerichtlich vorzugehen, so wird die Vorinstanz auch zu ermitteln
haben, ob hiefür stichhaltige Gründe vorlagen (wie z.B. Schwierigkeiten
in der Beibringung des Beweismaterials für den behaupteten Anspruch),
oder ob sich, gleich wie im Falle BGE 59 II 392 f., eine solche weitere
Verzögerung nur mit der arglistigen Absicht der Beweisverdunkelung zum
Nachteil der Beklagten erklären lasse.