Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 94 II 348



94 II 348

51. Urteil der II. Zivilabteilung vom 22. November 1968 i.S. Meier gegen
Leimbacher. Regeste

    Besitzesschutz. Berufung an das Bundesgericht.

    1.  Besitz des Dienstbarkeitsberechtigten am belasteten Grundstück
(Art. 919 ZGB; Erw.1).

    2.  Befugnis der Kantone zum Erlass von Vorschriften, die dem Besitzer
gestatten, zum Schutze des Besitzes gegen Störungen im Sinne von Art. 928
ZGB ein mit einer Strafandrohung verbundenes Verbot zu erwirken. Ist
die Berufung gegen einen in Anwendung solcher Vorschriften gefällten
Entscheid unzulässig, weil das kantonale Recht den angeblich verletzten
Vorschriften des Bundesrechts nicht Rechnung tragen musste? (Frage offen
gelassen). (Erw. 2).

    3.  Letztinstanzliche kantonale Entscheide, die nur den Besitzesschutz
betreffen, sind keine Endentscheide im Sinne von Art. 48 OG und unterliegen
daher nicht der Berufung an das Bundesgericht (Erw. 3).

Sachverhalt

    A.- Adolf Leimbacher und Dr. Robert Meier wohnen am hintern Teil
des St. Annawegs in Baden, einer von der Schartenstrasse abzweigenden
Sackgasse, die in einen Kehrplatz auf der dem Otto Halter gehörenden
Parzelle Nr. 1389 (GB Nr. 2012) mündet.

    Leimbacher hatte sein Grundstück Parzelle Nr. 3450 (GB Nr. 2015)
gemäss Vertrag vom 8. Juni 1956 von Halter gekauft. Durch einen
Dienstbarkeitsvertrag vom gleichen Tage hatte Halter ihm als dem
Eigentümer des Grundstücks GB Nr. 2172, eines als Dienstbarkeit zulasten
von Parzelle Nr. 3571 (GB Nr. 2140, Liegenschaft Steinegger) begründeten
selbständigen und dauernden Baurechts für die Errichtung einer Garage,
das Recht eingeräumt, den erwähnten Kehrplatz "insbesondere als Ein-
und Ausfahrt für seine vorgesehene Garage zu benützen und von seinen
Gästen etc. benützen zu lassen". Die beiden Verträge wurden am 11. Juni
1956 zur Eintragung ins Grundbuch angemeldet.

    Durch einen Dienstbarkeitsvertrag vom 10. April 1957 räumte Halter als
Eigentümer der Parzelle Nr. 1389 (GB Nr. 2012) dem jeweiligen Eigentümer
der Parzelle Nr. 3451 (GB Nr. 2016), die heute Dr. Meier gehört,
das Recht ein, "den vor der Garage [d.h. vor der Garage auf Parzelle
Nr. 3451] liegenden Kehrplatz für die Ein- und Ausfahrt in seine Garage
zu benützen". Die Grundbuchanmeldung erfolgte am 28. Mai 1957.

    B.- Am 16. November 1965 erliess der Präsident des Bezirksgerichtes
Baden folgendes Verbot:

    "Auf das Gesuch des Dienstbarkeitsberechtigten Dr. R. Meier-Pfister
... wird allen Unberechtigten unter Androhung von Haft oder Busse bis
Fr. 100.-- im Widerhandlungsfalle (§ 261 ZPO) untersagt:

    Das Parkieren oder Stationieren von Fahrzeugen jeder Art sowie die
Ablagerung sonstiger Gegenstände auf diesem Kehrplatz am Ende des St.
Annaweges.

    (Ostabschnitt von GB Baden 2012 Parz. 1389)".

    Mit Entscheid vom 5. Oktober 1967 wies der Bezirksgerichtspräsident
den "Rechtsvorschlag" Leimbachers gegen dieses Verbot ab.

    Das Obergericht des Kantons Aargau, vor dem Leimbacher die Aufhebung
des Verbots beantragte, stellte mit Urteil vom 1. März 1968 fest, das
angefochtene Verbot gelte für Leimbacher und seine Gäste nur, "soweit
durch das Parkieren und Stationieren die Ein- und Ausfahrt zur Garage des
Verbotsnehmers und das Wenden dessen Fahrzeuges auf dem Kehrplatz erschwert
wird". Soweit Leimbacher mit seiner Beschwerde an das Obergericht mehr
verlangt hatte, wurde sie abgewiesen.

    C.- Gegen das Urteil des Obergerichts hat Dr. Meier ausser einer
staatsrechtlichen Beschwerde die vorliegende Berufung eingereicht mit
dem Begehren, der Rechtsvorschlag Leimbachers sei gänzlich abzuweisen
und das streitige Verbot sei ohne Vorbehalte zu bestätigen.

    Das Bundesgericht tritt auf die Berufung nicht ein.

Auszug aus den Erwägungen:

Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- Nach § 257 der aargauischen ZPO kann jemand, der behauptet,
"im Besitz oder Gebrauch seines unbeweglichen Eigentums oder seiner
Dienstbarkeit an einer unbeweglichen Sache oder in der rechtlichen
Innehabung einer solchen widerrechtlich gestört zu werden", die Störung
durch ein Verbot untersagen lassen. Das Verbotsverfahren nach § 257
ff. ZPO will also dem Besitzesschutze dienen. Es handelt sich um ein
besonderes Prozessverfahren (vgl. die Überschrift des die §§ 245- 318
umfassenden VI. Abschnitts der ZPO), welches das aargauische Recht unter
bestimmten Voraussetzungen neben anderen Verfahren, insbesondere neben
dem in § 135 des EG/ZGB für Besitzesklagen vorgesehenen beschleunigten
Verfahren und neben dem in § 245 ff. ZPO geregelten Befehlsverfahren,
für den Besitzesschutz zur Verfügung stellt.

    Den Besitzesschutz im Sinne von Art. 926 ff. ZGB kann, wie in §
257 ZPO vorausgesetzt, auch in Anspruch nehmen, wer in der Ausübung
einer Dienstbarkeit gestört wird, wie das der Berufungskläger von sich
behauptet. Die Grunddienstbarkeit, auf die der Berufungskläger sich
beruft, verleiht ihm das Recht, das belastete Grundstück "für die Ein-
und Ausfahrt in seine Garage zu benützen", d.h. es in bestimmter Weise
zu gebrauchen. Die Ausübung einer solchen Dienstbarkeit verschafft
dem Berechtigten tatsächliche Gewalt über das belastete Grundstück und
damit Sachbesitz im Sinne von Art. 919 Abs. 1 ZGB (HOMBERGER, N. 21
zu Art. 919; LIVER, Einleitung zu Art. 730 ff. ZGB, N. 71 S. 30). Ob
ihm daneben auch sog. Rechtsbesitz zukomme oder ob Art. 919 Abs. 2
ZGB, wonach dem Sachbesitz bei Grunddienstbarkeiten und Grundlasten
die tatsächliche Ausübung des Rechts gleichgestellt wird, nur für die
negativen, den Eigentümer des belasteten Grundstücks zu einer Unterlassung
verpflichtenden Dienstbarkeiten gelte (so LIVER, ZBJV 95/1959, S. 34 unten,
und N. 131 zu Art. 737 ZGB), kann dahingestellt bleiben; denn in Fällen
wie dem vorliegenden geniesst der Berechtigte den Besitzesschutz auf jeden
Fall als Sachbesitzer (LIVER, N. 71 der Einleitung und N. 127 zu Art. 737
ZGB). Da die vom Berufungskläger angerufene Dienstbarkeit im Grundbuch
eingetragen ist, spielt im vorliegenden Falle auch keine Rolle, ob der
Besitzesschutz wegen Beeinträchtigung der Ausübung einer Dienstbarkeit
nur beansprucht werden kann, wenn die Dienstbarkeit eingetragen ist
(so BGE 83 II 146), oder ob der Grundbucheintrag keine unerlässliche
Voraussetzung dieses Schutzes ist (in diesem Sinne LIVER, ZBJV 95/1959
S. 35 und N. 139 ff. zu Art. 737 ZGB).

Erwägung 2

    2.- Das Verfahren für Klagen aus Besitzesentziehung (Art. 927 ZGB) und
aus Besitzesstörung (Art. 928 ZGB) zu regeln, ist den Kantonen überlassen;
diese können für solche Klagen das ordentliche oder ein besonderes
(insbesondere ein summarisches oder beschleunigtes) Verfahren vorsehen
(vgl. BGE 83 II 143/144; HOMBERGER, N. 17 zu Art. 927, N. 16 zu Art. 928
ZGB; STARK, N. 106 der Vorbemerkungen Besitzesschutz; E. HABLÜTZEL,
Verhältnis der Besitzesschutzklagen zum Rechtsschutz in ausserordentlichen
prozessualen Verfahren, Zürcher Diss. 1947 S. 102 ff., mit Hinweisen auf
die kantonale Gesetzgebung). Die Kantone sind auch befugt, einen zum rein
zivilrechtlichen hinzutretenden administrativen und polizeilichen Schutz
des Besitzes vorzusehen und insbesondere den Besitzern ein Verfahren zur
Verfügung zu stellen, das ihnen gestattet, ein mit einer Strafandrohung
verbundenes Verbot von Besitzesstörungen zu erwirken (BGE 83 II 144/145;
HOMBERGER, N. 18 zu Art. 927 ZGB; STARK aaO N. 115). Das Verbotsverfahren
des aargauischen Rechts ist ein solches Verfahren. Nach § 261 ZPO bedroht
der Gerichtspräsident die Übertretung eines von ihm nach §§ 257 ff. ZPO
erlassenen Verbots mit einer Geldbusse von Fr. 5.- bis 100.-- oder
(für den Fall der Zahlungsunfähigkeit) mit Haft bis zu 20 Tagen. Im
vorliegenden Falle ist auf Begehren des Berufungsklägers ein mit einer
solchen Strafandrohung verbundenes Verbot erlassen worden.

    Die kantonalen Vorschriften, die den Erlass von Verboten zum
Schutz gegen Besitzesstörungen vorsehen, dürfen diesen zusätzlichen
Schutz nur gewähren, wenn die bundesrechtlichen Voraussetzungen des
Besitzesschutzes erfüllt sind, d.h. wenn jemand im Sinne von Art. 919
ZGB Besitzer ist und in seinem Besitz durch verbotene Eigenmacht im
Sinne von Art. 928 ZGB gestört wird (vgl. BGE 83 II 146 unten, sowie
STAUFFER, ZBJV 79/1943 S. 558, und EICHENBERGER, Beiträge zum Aargauischen
Zivilprozessrecht, 1949, S. 231 f. unter II und III 1; Aarg. Gerichts-
und Verwaltungsentscheide = AGVE 1958 N. 11 S. 54). Innerhalb dieser
bundesrechtlichen Schranken kann jedoch das kantonale Recht die
Voraussetzungen, unter denen ein Verbot zu erlassen oder aufzuheben ist,
selbständig ordnen (EICHENBERGER aaO S. 232; vgl. HOMBERGER, N. 18 zu Art.
927 ZGB).

    Nach aargauischem Recht setzt der Erlass eines Verbots u.a. voraus,
dass der Antragsteller ("Bewerber") durch Urkunden das seinem Besitz
zugrunde liegende Recht nachweist (§ 259 ZPO; AGVE 1948 Nr. 6 S. 27;
EICHENBERGER aaO S. 232; zum urkundlichen Nachweis des Rechts vgl. §
260 ZPO). Gegen ein Verbot kann binnen 10 Tagen von der Zustellung
oder Bekanntmachung an "Rechtsvorschlag" erhoben werden, "wenn durch
glaubwürdige Bescheinigung nachgewiesen wird, dass das durch das
Verbot geschützte Recht erloschen ist oder nicht in dem beanspruchten
Umfange besteht oder dass die Voraussetzungen der §§ 259 und 260 nicht
vorhanden sind" (§ 266 ZPO). Dass der Erlass und die Aufhebung eines
Verbots von solchen Nachweisen betreffend den Bestand und Inhalt des
dem Besitz zugrunde liegenden Rechts abhängig gemacht werden, ist
durch Art. 928 ZGB, der den Besitz als tatsächliches Gewaltverhältnis
ohne Rücksicht auf die Rechtslage gegen Störungen schützt und sich mit
dem Verbotsverfahren nicht befasst, nicht vorgeschrieben. Daher kann
sich fragen, ob die vorliegende Berufung schon deshalb unzulässig sei,
weil die Vorschriften des Bundesrechts, welche die Vorinstanz nach der
Auffassung des Berufungsklägers bei ihrer (summarischen) Prüfung der
materiellen Rechtslage verletzt hat, höchstens für die Anwendung kantonaler
Vorschriften, die ihnen nicht Rechnung tragen mussten, von Bedeutung waren
(vgl. BGE 80 II 183, 84 II 133, 85 II 364). Diese Frage braucht jedoch
nicht abschliessend geprüft zu werden, weil die Berufung auf jeden Fall
aus einem andern Grunde unzulässig ist.

Erwägung 3

    3.- Nimmt man an, die Vorinstanz habe nicht bloss über ein auf das
kantonale Recht gestütztes und allein nach diesem Rechte zu beurteilendes
Gesuch um Erlass bzw. Aufhebung eines Verbots, sondern über einen
bundesrechtlichen Anspruch entschieden, so kann es sich dabei nur um den
Anspruch auf Schutz des Besitzes gegen Störungen im Sinne von Art. 928
ZGB handeln.

    Entscheidungen der oberen kantonalen Gerichte über Besitzesschutzklagen
gelten nach der neuern Rechtsprechung des Bundesgerichtes nicht als in
einer Zivilrechtsstreitigkeit ergangene Endentscheide dieser Gerichte im
Sinne von Art. 48 OG (BGE 78 II 88, 85 II 279 f.). Die Besitzesschutzklagen
bezwecken grundsätzlich nur die Wiederherstellung und Erhaltung eines
früheren tatsächlichen Zustandes. Sie führen (unter Vorbehalt von Art. 927
Abs. 2 ZGB, der hier nicht in Frage steht) nicht zu einem Entscheid über
die Rechtmässigkeit dieses Zustandes, auch wenn sich die Besitzesfrage
nicht immer ganz von der Rechtsfrage trennen lässt, sondern gewähren
dem Kläger nur einen provisorischen Schutz (HOMBERGER N. 13 zu Art. 927
ZGB). Daran ändert nichts, dass über die Wiederherstellung des frühern
Zustands als solche endgültig entschieden wird; denn ein Prozess über die
materielle Rechtslage kann die Wirkungen des im Besitzesschutzverfahren
erstrittenen Urteils beseitigen (VOYAME, ZSR 1961 II 169, WURZBURGER,
Les conditions objectives du recours en réforme ..., Diss. Lausanne 1964,
S. 195 N. 265). Das Urteil über eine blosse Besitzesschutzklage unterliegt
daher grundsätzlich nicht der Berufung an das Bundesgericht, und zwar
gilt das unabhängig davon, ob das Verfahren, in dem das Urteil ergangen
ist, selbständiger Natur war oder nur ein "Vorverfahren zum petitorischen
Prozess" (STARK, N.111 der Vorbem. Besitzesschutz) darstellte. Das Urteil
der I. Zivilabteilung des Bundesgerichts vom 9. November 1943 i.S. Keller,
dem STAUFFER in ZBJV 79/1943 S. 556 ff. zustimmte und auf das STARK
(aaO) seine Auffassung stützt, dass die in einem selbständigen Verfahren
gefällten Besitzesschutzentscheide der Berufung unterliegen, betraf einen
Fall, wo es sich in Wirklichkeit überhaupt nicht um Besitzesschutz, sondern
um die vom kantonalen Recht beherrschte Vollstreckung des Anspruchs des
Vermieters auf Räumung der Mietsache nach Beendigung des Mietverhältnisses
handelte. Die in diesem Urteil enthaltene Bemerkung, der angefochtene
Entscheid wäre als endgültiges Urteil in einer Zivilrechtsstreitigkeit
"berufungsfähig", wenn er einen Besitzesschutzanspruch zugesprochen hätte,
ist durch die seitherige Rechtsprechung überholt. Gegen Entscheide,
welche die Wiederherstellung eines früheren Zustandes anordnen, ist die
Berufung nur zulässig, wenn sie zugleich einen endgültigen Entscheid über
die materielle Rechtslage in sich schliessen (vgl. z.B. das Urteil der
II. Zivilabteilung vom 27. September 1968 i.S. Gull).

    Im vorliegenden Falle hat die Vorinstanz in ihrem Entscheide nicht
endgültig über die Rechte der Parteien mit Bezug auf die Benützung des
streitigen Kehrplatzes entschieden. Sie erklärte vielmehr ausdrücklich,
es könne "in diesem summarischen Verfahren nicht überprüft werden, ob
die Dienstbarkeitsberechtigung [gemeint: die dem Verbot entgegengehaltene
Dienstbarkeit zugunsten Leimbachers] inhalts- und umfangmässig beschränkt
sei, vor allem, ob sie ein Parkierungs- und Stationierungsverbot enthalte".
Ein Verbot im Sinne von § 257 ZPO kann, wie aus § 269 Abs. 1 ZPO klar
hervorgeht, durch ein gerichtliches Urteil aufgehoben werden. Weder die
Aufhebung eines Verbots noch die Abweisung des Rechtsvorschlags gegen ein
solches greifen dem Entscheid in einem ordentlichen Prozesse vor (vgl.
KELLER/PFISTERER, Die ZPO für den Kanton Aargau, 1947, N. 2 und 4 zu
§ 267). Der angefochtene Entscheid ist also kein Endentscheid im Sinne
von Art. 48 OG und kann daher nicht durch Berufung an das Bundesgericht
weitergezogen werden (vgl. BGE 77 II 281 f. mit Hinweisen, 80 II 93, 81
II 85, 86 II 141 f., 88 II 59 Erw. 2, wonach die Berufung gegen bloss
provisorisch wirkende Entscheide allgemein ausgeschlossen ist). 4. -
Kann aus diesem Grunde auf die Berufung nicht eingetreten werden, so
braucht nicht geprüft zu werden, ob der Streitwert die Berufungssumme
von Fr. 8000.-- (Art. 46 OG) erreiche.