Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 94 II 211



94 II 211

35. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung vom 7. August 1968
i.S. Billari gegen EMB, Elektromotorenbau AG. Regeste

    Nichtigkeitsbeschwerde, Art. 68 Abs. 1 lit. a OG.

    Art. 29 Abs. 5 des Fabrikgesetzes bezieht sich nur auf die
eigentlichen Verfahrenskosten und wird daher durch die Zusprechung
einer Parteientschädigung an die Gegenpartei aufgrund des kantonalen
Prozessrechts nicht verletzt.

Auszug aus den Erwägungen:

Erwägung 4

    4.- Der Beschwerdeführer wendet sich dagegen, dass ihm im angefochtenen
Entscheid die Bezahlung einer Parteientschädigung von Fr. 200.-- an die
Beschwerdegegnerin auferlegt worden ist. Er hält dies für unzulässig,
weil Art. 29 Abs. 5 des Fabrikgesetzes (der auch nach Inkrafttreten des
Arbeitsgesetzes vom 13. März 1964 auf industrielle Betriebe anwendbar
bleibt; Art. 72 Abs. 2 lit. a Arbeitsgesetz) bestimmt: "Das Verfahren
ist kostenlos". Durch den Zuspruch einer Parteientschädigung an die
Beschwerdegegnerin habe das Obergericht zu Unrecht kantonales Prozessrecht
anstelle des eidgenössischen Rechts angewendet und damit gleichzeitig
eidgenössisches Recht verletzt.

    a) Art. 29 Abs. 5 Fabrikgesetz schreibt die Kostenlosigkeit des
Verfahrens vor. Bedeutet dies, dass die unterliegende Partei auch nicht
zur Leistung einer Parteientschädigung an die Gegenpartei verurteilt
werden dürfe, so heisst das zugleich, dass das kantonale Prozessrecht
in dieser Hinsicht nicht anwendbar sei. Zu entscheiden ist somit, ob der
Bundesgesetzgeber mit dieser Regelung kantonales Prozessrecht in Bezug auf
Parteientschädigungen ausschalten wollte. Diese Frage ist vom Bundesgericht
bisher noch nie entschieden worden. In BGE 62 II 232 wurde lediglich die
Auferlegung von Verfahrenskosten im eigentlichen Sinne aufgehoben.

    b) Die Botschaft des Bundesrates zum Fabrikgesetz (FG) (BBl 1910
III S. 575) spricht sich über die Frage der Kosten bei Streitigkeiten aus
Arbeitsverhältnissen in Fabrikbetrieben nicht aus. Das erklärt sich daraus,
dass der bundesrätliche Entwurf zum FG in Art. 23 lediglich bestimmte:

    "Zivilstreitigkeiten aus dem Dienstverhältnis entscheidet der
zuständige Richter.

    Die Kantone sorgen dafür, dass die Streitigkeiten in raschem und
billigem Verfahren erledigt werden können."

    Die nationalrätliche Kommission ging wesentlich weiter und schlug in
einem neuen Art. 25 den Text vor:

    "Zivilstreitigkeiten aus dem Dienstverhältnis entscheidet der
zuständige Richter.

    Die Kantone werden diejenigen Gerichtsstellen bezeichnen, die solche
Streitigkeiten zu entscheiden haben.

    Die Entscheidung soll auf Grund mündlichen und beschleunigten
Verfahrens erfolgen. Berufsmässige Prozessvertretung ist unzulässig. sofern
solche nicht durch besondere, in der Person einer Partei begründete
Verhältnisse als gerechtfertigt erscheint.

    Der Richter hat von amtswegen die für den Entscheid erheblichen
Tatsachen zu erforschen; er ist nicht an die Anträge der Parteien gebunden.

    Das Verfahren soll kostenlos sein.

    In Fällen von mutwilliger Prozessführung ist der Richter befugt,
gegen die fehlbare Partei Bussen auszusprechen."

    c) In der ersten Beratung im Nationalrat wurde der von der Kommission
vorgeschlagene Text mit einer Reihe von Anträgen und Anregungen an die
Kommission zurückgewiesen (StenBull NR 1913 S. 620-626). Die Kommission
hielt jedoch im wesentlichen an dem von ihr vorgeschlagenen Text fest
(StenBull NR 1913 S. 865). In der zweiten Beratung setzte sich der
deutschsprachige Berichterstatter, NR Göttisheim, insbesondere mit dem
Antrag von NR Eisenring auseinander, den ursprünglichen Text des Entwurfs
wieder herzustellen, weil der von der Kommission vorgeschlagene Text einen
unzulässigen Eingriff in die nach Art. 64 BV den Kantonen vorbehaltene
Prozessrechtshoheit bedeute (StenBull NR 1913 S. 623). Gegenüber dem
Antrag, die Bestimmung betreffend die grundsätzliche Unzulässigkeit
berufsmässiger Prozessvertretung zu streichen, hielt die Kommission
an ihrem Entwurf fest unter Hinweis auf die erhöhte Möglichkeit einer
Vermittlung des Richters bei persönlichem Erscheinen der Parteien, sowie
auf die Bestimmung, dass der Richter die für den Entscheid erheblichen
Tatsachen von Amtes wegen zu erforschen habe und hiefür nicht an die
Anträge der Parteien gebunden sei (StenBull NR 1913 S. 867 ff.).

    Was unter der Kostenlosigkeit des Verfahrens zu verstehen sei,
wurde nie eindeutig umschrieben. Der Berichterstatter deutscher Sprache
wies darauf hin, dass den Kantonen daraus keine wesentliche Erhöhung der
Justizausgaben erwachsen werde, weil in den meisten Fällen dem Arbeitnehmer
ohnedies das Armenrecht gewährt werden müsste (StenBull NR 1913 S. 868). In
der ersten Beratung hatte NR Schubiger die Frage aufgeworfen, ob sich
die Kostenlosigkeit auch auf die Parteikosten beziehe (StenBull NR 1913
S. 625 i.f.). Er erhielt jedoch weder in der ersten noch in der zweiten
Beratung eine klare Antwort. Lediglich zur Frage der Kostenlosigkeit im
allgemeinen erklärte der Berichterstatter in der zweiten Beratung: "Die
Kommission findet, dass die Einrichtung des Armenrechts kein würdiger
Zustand ist und dass dieser Zustand sehr wohl dadurch beseitigt werden
kann, dass man im Gesetz die absolute Kostenlosigkeit ausspricht, die
Befreiung von Gebühren, Vorschüssen und dergl." (StenBull NR 1913 S. 868).

    Bei der Beratung im Ständerat wurde über die Frage, was unter dem
"Verfahren" zu verstehen sei, überhaupt nicht gesprochen (StenBull StR
1914 S. 74-83).

    Aus dem Ergebnis der parlamentarischen Beratung ist zunächst der
Schluss zu ziehen, dass unter den "Kosten des Verfahrens" die Kosten
verstanden wurden, welche aus der Tätigkeit des Richters entstehen, also
Kosten, die eine Partei nach dem kantonalen Prozessrecht ordentlicherweise
dem Staat für das Tätigwerden des Gerichtes zu bezahlen hat.

    d) In seinem Kommentar zum FG führt EICHHOLZER in Bezug auf die
Kostenlosigkeit des Verfahrens lediglich einen Verwaltungsentscheid an,
wonach die Kostenlosigkeit nicht die Befreiung vom Ersatz der dem Gericht
erwachsenden Barauslagen, wie Zeugen- und Expertenentschädigungen, bedeute
(VEB 1929 Nr. 102). Danach war also die Verwaltungsbehörde 15 Jahre nach
dem Inkrafttreten des FG der Auffassung, nur die staatliche Tätigkeit,
d.h. die Arbeit des Gerichts, sei von den Parteien nicht zu bezahlen. Wenn
dem aber so ist, dann betrifft die Vorschrift der Kostenlosigkeit in
Art. 29 Abs. 5 FG nicht die nach kantonalem Prozessrecht allenfalls zu
leistende Parteientschädigung in den Fällen, in denen gemäss Art. 29
Abs. 3 FG ein berufsmässiger Prozessvertreter zugelassen wurde

    e) Die Verfahrensregelung in Art. 29 FG ist zweifellos ein
Eingriff in die kantonale Prozessrechtshoheit im Sinne von Art. 64 BV.
Ein solcher Eingriff ist im Zweifel einschränkend auszulegen. Hätte
der Bundesgesetzgeber für den Fall der Zulässigkeit einer berufsmässigen
Vertretung dafür sorgen wollen, dass die Kosten dieser Vertretung (entgegen
den Vorschriften des kantonalen Prozessrechtes) vom Staat oder unabhängig
vom Ausgang des Streites von jeder Partei selbst zu tragen sind, so hätte
er dies ausdrücklich sagen müssen. Liess er die berufsmässige Vertretung
für bestimmte Fälle zu, ohne bezüglich der Vertretungskosten eine
besondere Regelung zu treffen, so musste ihm klar sein, dass in diesem
Punkte das kantonale Zivilprozessrecht anwendbar bleibe, nach welchem
die unterliegende Partei eine Prozessentschädigung an die obsiegende zu
bezahlen hat.

    f) Das Fabrikgesetz will die schwächere Vertragspartei, d.h. den
Arbeitnehmer, schützen. Es scheint daher auf den ersten Blick im Sinne
dieses Bestrebens zu liegen, dass man die Kostenlosigkeitsvorschrift
als Verbot des Zuspruchs und der Auferlegung von Parteientschädigungen
auslegt. Bei näherem Zusehen erkennt man jedoch, dass dem nicht so
ist. Denn diese Auslegung würde sich zum Nachteil des Arbeitnehmers
auswirken, der zu Recht geklagt und hiezu - mit Bewilligung des Gerichts -
einen berufsmässigen Vertreter beigezogen hat, während derjenige, der zu
Unrecht klagt, aus dieser Auslegung Vorteil zöge. Das kann aber nicht der
Sinn des Gesetzes sein; der Schutz der schwächeren Vertragspartei erfordert
gegenteils, dass sie in den Genuss der Parteientschädigung gelangt, wenn
sie obsiegt. Wer unterliegt, verdient dagegen keinen besonderen Schutz.

    g) Aus den oben dargelegten Gründen kann Art. 29 Abs. 5 FG nicht den
Sinn haben, dass auch in Bezug auf die Parteientschädigung die Anwendung
kantonalen Prozessrechts ausgeschlossen sei. Dessen Anwendung durch das
Obergericht verstiess daher nicht gegen Bundesrecht.

Erwägung 5

    5.- Art. 29 Abs. 5 FG hat zur Folge, dass auch das vorliegende
bundesgerichtliche Verfahren grundsätzlich kostenlos zu sein hat; denn
wo das Bundesrecht die Möglichkeit gibt, ein Rechtsmittel zu ergreifen,
gehört auch dieses zum "Verfahren" im Sinne der in Frage stehenden
Gesetzesbestimmung.