Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 93 I 209



93 I 209

26. Auszug aus dem Urteil vom 5. Juli 1967 i.S. Köchli gegen
Generalprokurator und Obergericht des Kantons Bern. Regeste

    Kantonales Prozessrecht. Willkür. Ueberspitzter Formalismus.

    Auslegung einer Bestimmung der StPO, wonach ein Irrtum in der
Bezeichnung eines Rechtsmittels unschädlich ist. Die Annahme, in der
Erhebung einer "Einsprache" gegen ein nur der Appellation unterliegendes
Strafurteil liege keine gültige Appellation, verstösst gegen Art. 4 BV,
da sie mit dem Sinn und Zweck der genannten Bestimmung unvereinbar ist
und einen überspitzten Formalismus darstellt.

Sachverhalt

                       Aus dem Tatbestand:

    A.- Hans Köchli wurde am 11. November 1966 vom Gerichtspräsidenten
II von Biel des Führens eines Motorfahrzeugs in angetrunkenem Zustand
sowie des Fahrens ohne Licht schuldig erklärt und zu 15 Tagen Gefängnis,
zur Veröffentlichung des Urteils in zwei Amtsblättern und zur Bezahlung
der Verfahrenskosten verurteilt. Nach dem Verhandlungsprotokoll hat
der Gerichtspräsident dieses Urteil dem anwesenden, nicht durch einen
Anwalt verbeiständeten Beschwerdeführer am Schlusse der Hauptverhandlung
unter Hinweis auf die Appellationsmöglichkeiten eröffnet und es mündlich
begründet.

    Am 17. November 1966 sandte Köchli dem Richteramt II Biel ein Schreiben
mit der Erklärung, er erhebe gegen das genannte Urteil "vollumfänglich
Einsprache".

    Die Akten gingen hierauf an das Obergericht des Kantons Bern. Dessen
II. Strafkammer beschloss am 4. Januar 1967, auf die Eingabe Köchlis vom
17. November 1966 nicht einzutreten. Zur Begründung dieses Beschlusses
führte es aus: Die Äusserung einer Partei sei nur dann als gültige
Appellationserklärung anzusehen, wenn aus ihr der Wille hervorgehe, das
erstinstanzliche Urteil nicht anzunehmen und es durch eine obere Behörde
überprüfen zu lassen. Im Schreiben vom 17. November 1966 habe Köchli
den Willen, die Sache an eine obere Instanz weiterzuziehen, nicht einmal
andeutungsweise geäussert. Das Wort "Einsprache" beinhalte ihn nicht; es
bezeichne allgemein nur einen Rechtsbehelf, durch den diejenige Instanz,
die einen Entscheid gefällt habe, zur nochmaligen Überprüfung desselben
veranlasst werden solle. Da die Eingabe somit den Anforderungen einer
rechtsgültigen Appellation nicht genüge, sei darauf nicht einzutreten.

    C.- Mit der staatsrechtlichen Beschwerde stellt Hans Köchli den Antrag,
der Beschluss des Obergerichts vom 4. Januar 1967 sei aufzuheben. Er
macht Verletzung des Art. 4 BV geltend.

    D.- Das Obergericht und der Generalprokurator des Kantons Bern
beantragen Abweisung der Beschwerde. Sie führen im wesentlichen aus: Die
angefochtene Rechtsprechung bestehe im Grundsatz schon seit Jahrzehnten,
sei durch einen Plenarbeschluss der Strafkammern vom 20. November 1963
bestätigt und seither ausnahmslos befolgt worden. Das Bundesgericht
verlange ebenfalls, dass eine Nichtigkeitsbeschwerde nach Art. 272 Abs. 1
BStP entweder als solche bezeichnet werde oder doch deutlich zum Ausdruck
bringe, dass eine eidgenössische Gerichtsinstanz angerufen werde (BGE 82
IV 175).

Auszug aus den Erwägungen:

              Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Die Appellation des bern. Gesetzes vom 20. Mai 1928 über
das Strafverfahren (StrV) ist ein ordentliches Rechtsmittel, das die
vollständige tatbeständliche und rechtliche Überprüfung des bisherigen
Strafverfahrens ermöglicht (Art. 304 StrV und WAIBLINGER N. 2 hiezu). Das
Gesetz will ihre Ergreifung offensichtlich erleichtern, denn es lässt auch
die mündliche Erklärung zu (Art. 298 Abs. 2 StrV), stellt keine besonderen
Anforderungen an die Erklärung und bestimmt ausdrücklich, dass ein Irrtum
in der Bezeichnung des Rechtsmittels oder die Einreichung der schriftlichen
Erklärung bei einer unzuständigen Gerichtsbehörde unschädlich sei (Art. 298
Abs. 4 StrV). Mit dieser letzteren Vorschrift wollte der Gesetzgeber
nicht nur Versehen unschädlich machen, wie sie auch dem Rechtskundigen bei
der Bezeichnung oder Adressierung der Rechtsmittelerklärung unterlaufen
können. Vielmehr wollte er damit auch, ja in erster Linie demjenigen
helfen, der das zulässige Rechtsmittel und das Gericht, bei dem es
einzureichen ist, nicht kennt. Als Appellationserklärung muss daher jede
fristgerecht gegen ein appellables Urteil gerichtete Erklärung genügen,
die mit hinlänglicher Deutlichkeit erkennen lässt, dass der Erklärende
eine Überprüfung des Urteils wünscht und nicht nur seinen Unwillen über
dieses zum Ausdruck bringt. Als hinreichende Appellationserklärungen
betrachten daher WAIBLINGER (N. 1 zu Art. 298 StrV) und PROBST (Die
Appellation im Strafverfahren des Kantons Bern S. 142/3) in Übereinstimmung
mit der älteren Rechtsprechung des Obergerichts schon die Erklärung des
Betroffenen, er "nehme das Urteil (oder die Strafe) nicht an". Die neuere
Rechtsprechung des Obergerichts (die in den in der Beschwerdeantwort
angerufenen, vervielfältigten Vorlesungen von Prof. RÜEDI lediglich erwähnt
und keineswegs gutgeheissen wird) verlangt darüber hinaus, dass aus der
Erklärung hervorgehe, es werde die Überprüfung des Urteils durch eine
obere Instanz verlangt (ZBJV 82/1946 S. 136, 83/1947 S. 306/7, 98/1962
S. 360). Damit wird jedoch ein Erfordernis aufgestellt, das sich aus dem
Gesetz nicht ergibt. Insbesondere lässt sich die im angefochtenen Entscheid
wie schon früher (vgl. ZBJV 98/1962 S. 360) vertretene Auffassung des
Obergerichts, dass die Erhebung einer "Einsprache" oder eines "Einspruchs"
als Appellationserklärung nicht genüge, weder mit dem Wortlaut noch mit
dem Sinne des Gesetzes vereinbaren. Was im angefochtenen Entscheid und in
den Vernehmlassungen des Obergerichts und des Generalprokurators für die
gegenteilige Auffassung vorgebracht wird, vermag diese nicht als haltbar
erscheinen zu lassen.

    a) Das Obergericht will die Erhebung einer "Einsprache" nicht
genügen lassen, weil damit eine nochmalige Überprüfung des Urteils durch
die gleiche und nicht durch eine obere Instanz verlangt werde. Dieser
Einwand wäre nur stichhaltig, wenn es neben der Überprüfung durch die
obere Instanz auch eine nochmalige Überprüfung durch die gleiche Instanz
gäbe. Da dies nach dem bernischen Strafprozessrecht nicht der Fall ist,
kann die Erhebung einer "Einsprache" keinen andern Sinn als den einer
Appellationserklärung haben, da der Erklärende damit deutlich zum Ausdruck
bringt, dass er das gegen ihn ergangene Urteil anfechte, eine weitere
Überprüfung und Beurteilung der Sache verlange. Nur diese Auslegung der
Erklärung nach ihrem wirklichen Sinn und nicht nach dem Wortlaut wird dem
Sinn und Zweck von Art. 298 Abs. 4 StrV gerecht. Dass mit dem Ausdruck
"Einsprache" oder "Einspruch" eine nochmalige Überprüfung angestrebt
wird, anerkennt denn auch das Obergericht. Ist dem aber so, dann kann,
da das bernische Recht nur eine Überprüfung durch die obere Instanz kennt,
ein ernsthafter Zweifel über den Sinn der Erklärung nicht bestehen.

    b) Hieran vermag auch der Hinweis des Obergerichts auf die dem
Verurteilten erteilte Rechtsmittelbelehrung nichts zu ändern. Diese lautet
bei der mündlichen wie bei der schriftlichen Urteilseröffnung dahin,
dass gegen das Urteil innert 10 Tagen beim erstinstanzlichen Richter die
Appellation an das Obergericht erklärt werden könne. Darauf, dass diese
Erklärung ausdrücklich als Appellation bezeichnet werden oder auf andere
Weise den Willen, die Sache durch das Obergericht überprüfen zu lassen,
zum Ausdruck bringen müsse, wird er nicht aufmerksam gemacht. Und selbst
wenn dies, was in den Beschwerdeantworten aber nicht behauptet wird,
bei der mündlichen Urteilseröffnung gelegentlich geschehen sollte, so
wäre zweifelhaft, ob der Verurteilte dies auch wirklich verstünde. Der
Umstand, dass der Verurteilte über die Appellationsmöglichkeit belehrt
wird, kann daher nicht dazu führen, die im Gesetz vorgesehene formlose
Weiterzugsmöglichkeit durch zusätzliche Erfordernisse zu erschweren.

    c) Die Berufung des Obergerichts auf die Rechtsprechung des
Kassationshofes ist unbehelflich. Da im Einzelfall klar sein muss, ob eine
obere kantonale Instanz durch ein ordentliches oder ausserordentliches
Rechtsmittel oder das Bundesgericht angerufen wird, verlangt der
Kassationshof die Abgabe einer Erklärung, in der unzweideutig der Wille
ausgedrückt ist, an das Bundesgericht oder doch an eine eidgenössische
Gerichtsinstanz zu gelangen (BGE 82 IV 172). Beim Weiterzug eines noch
nicht rechtskräftigen und appellabeln Urteils an das bernische Obergericht
besteht eine solche Unsicherheit über das vom Verurteilten ergriffene
Rechtsmittel nicht; in Frage kommt nur die Appellation. Die in der
Beschwerdeantwort des Obergerichts weiter angerufenen Ausführungen von
LEUCH (N. 1 zu Art. 339 ZPO) betreffen den Zivilprozess, für den andere
Voraussetzungen gelten und eine dem Art. 298 Abs. 4 StrV entsprechende
Vorschrift fehlt.

Erwägung 2

    2.- Die im angefochtenen Entscheid vertretene Auslegung der
massgebenden Bestimmungen des StrV über die Appellation ist nicht
nur unhaltbar und willkürlich, sondern widerspricht auch als formelle
Rechtsverweigerung dem Art. 4 BV. Dieser verbietet nach ständiger, in
den letzten Jahren wiederholt bestätigter Rechtsprechung (BGE 92 I 11
und 16 Erw. 2 sowie dort angeführte frühere Urteile) einen prozessualen
Formalismus, der sich durch keine schutzwürdigen Interessen rechtfertigen
lässt, d.h. nicht dazu dient, die ordnungsgemässe Abwicklung des Verfahrens
und die Sicherheit des materiellen Rechts zu gewährleisten. Ein solcher
überspitzter Formalismus liegt hier vor. Schutzwürdige Interessen,
die es rechtfertigen würden, auf eine als "Einsprache" oder "Einspruch"
bezeichnete Appellationserklärung entgegen Art. 298 Abs. 4 StrV nicht
einzutreten, sind nicht ersichtlich. Dass die allenfalls wünschbare
Entlastung der Appellationsinstanz kein solches Interesse darstellt,
ist ohne weiteres klar. Es lässt sich aber auch nicht einwenden, dass
unter Umständen gar kein Weiterzug an das Obergericht gewollt und daher
auf unklare Erklärungen nicht einzutreten sei. Wenn ausnahmsweise einmal
zweifelhaft sein sollte, ob das Urteil an das Obergericht weitergezogen
werden will oder nicht, so ist dem Präsidenten oder der Kanzlei des
Obergerichts zuzumuten, dies unter Ansetzung einer kurzen Frist durch eine
Rückfrage abzuklären, wie das zur Vermeidung unnötiger Arbeit des Gerichts
auch geschehen soll und wohl auch geschieht, wenn zweifelhaft ist, ob eine
Appellation sich gegen das ganze Urteil oder nur gegen einzelne Teile und
gegen welche richtet (vgl. WAIBLINGER aaO S. 442/3). Art 4 BV verpflichtet
die Behörde, den Bürger auf allfällige Formfehler aufmerksam zu machen
und ihm, unter Androhung des Nichteintretens, eine kurze Frist zu ihrer
Behebung zu setzen, und verbietet es, eine Sache unter dem Vorwand eines
Formfehlers ohne materielle Prüfung von der Hand zu weisen (BGE 92 I 12
und 17).

    Im vorliegenden Falle konnte schlechthin kein Zweifel darüber bestehen,
dass der Beschwerdeführer mit seiner an die zuständige Instanz gerichteten
Erklärung, er erhebe gegen das Strafurteil "vollumfänglich Einsprache",
das Urteil durch das allein in Frage kommende ordentliche Rechtsmittel
der Appellation anfechten wollte. Die Annahme des Obergerichts, er habe
den dahingehenden Willen nicht einmal andeutungsweise geäussert, ist
unverständlich. Durch den angefochtenen Beschluss wird dem Beschwerdeführer
unter einem offensichtlichen Vorwand das Recht auf Überprüfung seines
Falles durch den höheren Richter vorenthalten. Hierin liegt ein
unzulässiger überspitzter Formalismus.

Entscheid:

               Demnach erkennt das Bundesgericht:

    Die Beschwerde wird gutgeheissen und der Beschluss der II. Strafkammer
des Obergerichts des Kantons Bern vom 4. Januar 1967 aufgehoben.