Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 93 IV 99



93 IV 99

25. Urteil des Kassationshofes vom 20. Oktober 1967 i.S. Gassmann gegen
Staatsanwaltschaft des Kantons Solothurn. Regeste

    1.  Art. 270 Abs. 3 BStP. Der Privatstrafkläger ist nicht befugt,
gegen ein Urteil des solothurnischen Obergerichtes Nichtigkeitsbeschwerde
zu führen, wenn der öffentliche Ankläger vor Obergericht hätte auftreten
können (Erw. 1).

    2.  Art. 13 Abs. 2 Satz 2 VRV. Dieser Satz findet keine Anwendung
auf Strassen, die in der Mitte mit einer Leitlinie versehen sind.

    3.  Art. 36 Abs. 1 und 3 SVG, Art. 13 Abs. 2 Satz 1 VRV. Wer gegen
die Strassenmitte einspurt, um nach links abzubiegen, darf die Leitlinie
erst überfahren, wenn er die Gewissheit hat, ohne Beeinträchtigung des
vortrittsberechtigten Gegenverkehrs abschwenken zu können (Erw. 2).

Sachverhalt

    A.- Gassmann führte am 26. März 1966, um 11 Uhr, einen
Plymouth-Personenwagen auf der Baslerstrasse in Trimbach Richtung Olten. Er
fuhr mit 40-45 km/Std und beabsichtigte, beim Gasthof "Rössli" nach links
in die Milchgasse abzubiegen.

    Die Baslerstrasse verläuft auf jener Strecke gerade, weist eine Breite
von 10,55 m auf und ist in der Mitte mit einer Leitlinie versehen.

    Gassmann betätigte schon 300 m vor der Abzweigung den Blinker und
spurte nach links gegen die Strassenmitte ein. Als er der Verzweigung nahe
war, überfuhr er die Leitlinie seitlich um etwa 20 cm und streifte dabei
einen entgegenkommenden Saab-Personenwagen, der, von Lämmli gesteuert,
soeben mit 60 km/Std zwei Radfahrer überholt hatte. Beide Wagen wurden
erheblich beschädigt.

    B.- Der Gerichtspräsident von Olten-Gösgen büsste am 20.  September
1966 Gassmann wegen Übertretung von Art. 34 Abs. 1 SVG sowie Art.
13 Abs. 2 VRV mit Fr. 30.-, Lämmli wegen Verletzung von Art. 26 Abs. 2
SVG mit Fr. 15.-.

    Die Verurteilten erhoben Kassationsbeschwerde, die das Obergericht
des Kantons Solothurn am 14. Dezember 1966 abwies. Das Obergericht nahm
im Gegensatz zur ersten Instanz an, Gassmann habe nicht Art. 34 Abs. 1,
dafür aber Art. 36 Abs. 1 SVG übertreten.

    C.- Gassmann führt gegen das Urteil des Obergerichtes
Nichtigkeitsbeschwerde. Er macht sinngemäss geltend, seine Verurteilung
könne bei richtiger Auslegung von Art. 13 Abs. 2 VRV nicht aufrechterhalten
werden. Lämmli habe übrigens ausser der Grundregel insbesondere noch
Art. 35 Abs. 2 SVG übertreten. Zu prüfen sei ferner, ob die Mitfahrerin
Lämmlis dadurch, dass sie die Unfallstelle vor Eintreffen der Polizei
verliess, nicht gegen die Vorschriften über das Verhalten bei Unfällen
verstossen habe.

    D.- Die Staatsanwaltschaft des Kantons Solothurn hat auf
Gegenbemerkungen verzichtet.

Auszug aus den Erwägungen:

              Der Kassationshof zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Soweit die Nichtigkeitsbeschwerde auf eine schärfere Verurteilung
Lämmlis und auf eine Bestrafung seiner Mitfahrerin abzielt, ist darauf
nicht einzutreten. Widerhandlungen gegen die Verkehrsvorschriften
werden von Amtes wegen verfolgt. Der Beschwerdeführer ist daher nicht
Antragsteller im Sinne von Art. 270 Abs. 1 BStP. Als Privatstrafkläger
stände ihm aber nach Abs. 3 dieser Bestimmung die Nichtigkeitsbeschwerde
nur zu, wenn er nach den Vorschriften des kantonalen Prozessrechtes
die Anklage allein, ohne Beteiligung des öffentlichen Anklägers,
geführt hätte. Das war offensichtlich nicht der Fall, beschränkte der
Beschwerdeführer sich im kantonalen Kassationsverfahren doch darauf,
seine eigene Verurteilung anzufechten.

    Dass der öffentliche Ankläger im Verfahren nicht aufgetreten
ist, ändert nichts; nach der Rechtsprechung genügt, dass er hätte
Parteirechte ausüben können (BGE 77 IV 126, 84 IV 135, 85 IV 110). Das
traf hier zu. Freilich steht dem Staatsanwalt gegen das Urteil eines
Amtsgerichtspräsidenten die kantonale Kassationsbeschwerde nur zu,
wenn der Angeklagte freigesprochen wird (§ 421 StPO, Fassung vom
18. Dezember 1961). Nach § 68 Abs. 3 des solothurnischen Gesetzes
über die Gerichtsorganisation vom 5. März 1961 kann er die Anklage vor
Obergericht jedoch auch in Fällen zu vertreten haben, in denen er den
erstinstanzlichen Entscheid nicht angefochten hat oder der Angeklagte nicht
freigesprochen, sondern verurteilt wurde (vgl. nicht veröffentlichtes
Urteil des Kassationshofes vom 28. Juni 1963 i.S. Lehmann). Das Urteil
in BGE 73 IV 187 Erw. 1, das vor der Revision der angeführten kantonalen
Bestimmungen gefällt wurde, ist in dieser Hinsicht überholt und ergibt
daher nichts mehr zugunsten des Beschwerdeführers.

Erwägung 2

    2.- In Art. 13 VRV wird zu den Verkehrsregeln über das Einspuren und
Abbiegen insbesondere ausgeführt, dass der Fahrer frühzeitig einspuren
muss (Abs. 1 Satz 1), den für den Gegenverkehr bestimmten Raum aber
nicht beanspruchen darf, wenn er nach links einspurt; dagegen darf er auf
dreispurigen Strassen mit oder ohne Markierung mit der gebotenen Vorsicht
die mittlere Spur benützen (Abs. 2).

    a) Was unter einer dreispurigen Strasse im Sinne dieser Bestimmung
verstanden werden soll, ist namentlich wegen der Wendung "mit oder
ohne Markierung" ("marquées ou non", "demarcate o no") unklar. Nach dem
deutschen Text könnte eine Strasse ungeachtet dessen, dass sie in der
Mitte mit einer Leitlinie versehen ist, als dreispurig gelten, sofern
sie breit genug und nach den gegebenen Umständen in drei Bahnen befahrbar
ist. Eine solche Annahme widerspräche indes schon den romanischen Texten,
in denen die unklare Wendung sich bloss auf die drei Spuren und nicht,
wie im deutschen, auf die Strasse überhaupt bezieht. Sie wäre auch
unvereinbar mit wichtigen Verkehrsregeln. Nach Art. 36 Abs. 1 SVG hat
der Fahrer, der nach links abbiegen will, gegen die Strassenmitte zu
halten. Er darf also dann, wenn die Strassenmitte durch eine Leitlinie
gekennzeichnet ist (Art. 52 Abs. 3 Satz 1 SSV), diese nicht schon beim
Einspuren überfahren. Wenn sich deshalb der Abstand beim Kreuzen als
ungenügend erweisen sollte, so darf er sich auch keineswegs der Linie
so stark nähern, dass er entgegenkommende Fahrzeuge gefährden könnte
(vgl. BGE 81 IV 172 f. und 299). Nach Art. 27 Abs. 1 SVG sodann sind nicht
nur Signale, sondern auch Markierungen auf der Fahrbahn zu befolgen;
sie gehen den allgemeinen Regeln sogar vor. Wollte man aber in Fällen,
wie hier, eine dreispurige Strasse annehmen, so müsste der Fahrer, der
"die mittlere Spur" benützt, sich über die Leitlinie hinwegsetzen, ja
sie ignorieren.

    Ein solches Verhalten verstösst nicht nur gegen das Verkehrsgefühl,
sondern ist auch in hohem Masse geeignet, andere zu täuschen und zu
falschen Vorkehren zu veranlassen. Schwenkt der Fahrer, der nach links
abbiegen will und seine Absicht mit Blinklicht anzeigt, vorzeitig auf
die linke Strassenhälfte ein, so kann dies insbesondere bei einem
entgegenkommenden, der sich auf die Leitlinie verlässt, leicht den
Eindruck erwecken, jener wolle ihm den Vortritt (Art. 36 Abs. 3 SVG)
streitig machen; jedenfalls hat er dann keine Gewähr mehr dafür, dass
jener ihn noch durchlassen werde. Diese Ungewissheit besteht sogar dann,
wenn die Strasse keine Markierungen aufweist, das einspurende Fahrzeug die
Strassenmitte aber offensichtlich überfährt. Die Strassenmitte markierende
Leitlinien wollen denn auch den Raum, der für den Verkehr in jede der
beiden Richtungen bestimmt ist, genau abgrenzen und damit Streifkollisionen
oder gar frontalen Zusammenstössen vorbeugen. Gegen solche Gefahren
ist in Fällen, wie hier, nur mit der einfachen und klaren Ordnung
aufzukommen, dass der Fahrer, der nach links abbiegen will, entsprechend
den Vorschriften des Art. 36 Abs. 1 und 3 SVG gegen die Strassenmitte
einspurt, die sie kennzeichnende Leitlinie aber erst überfährt, wenn
er die Gewissheit hat, ohne Beeinträchtigung des vortrittsberechtigten
Gegenverkehrs abbiegen zu können (vgl. BGE 79 II 217, 85 IV 90). Das
schliesst aus, dass der zweite Satz von Art. 13 Abs. 2 VRV auf Strassen,
die in der Mitte mit einer Leitlinie versehen sind, Anwendung findet.

    b) Nach dem angefochtenen Urteil hat der Beschwerdeführer die Leitlinie
schon überfahren, bevor er die Verzweigung, auf der er nach links abbiegen
wollte, erreichte. Dass dies aus zwingenden Gründen geschehen sei, macht
Gassmann nicht geltend; aus den Feststellungen der Vorinstanz erhellt
vielmehr, dass er keinerlei Anlass hatte, über die Strassenmitte hinaus
einzuspuren. Das Obergericht wirft ihm daher mit Recht vor, Art. 36 Abs. 1
SVG und Art. 13 Abs. 2 Satz 1 VRV übertreten zu haben.

    Ob er dadurch, dass er bereits 300 m vor der Abzweigung den rechten
Strassenrand verliess und nach links einspurte, gegen Art. 34 Abs. 1 SVG
verstossen habe, kann dahingestellt bleiben; denn die Vorinstanz macht ihm
deswegen keinen Vorwurf. Immerhin ist zu bemerken, dass die Vorschrift des
Art. 13 Abs. 1 Satz 1 VRV, wonach frühzeitig einzuspuren ist, nicht heissen
kann, der Fahrer müsse damit schon mehrere hundert Meter vor dem Abzweigen
beginnen; das darf jedenfalls dann nicht angenommen werden, wenn er nach
links abbiegen will und, wie der Beschwerdeführer, eher langsam fährt.
Das Einspuren nach links stellt für den Längsverkehr stets eine erhöhte
Gefahr dar, ist folglich schon deswegen auf eine angemessene Strecke
zu beschränken.

Entscheid:

Demnach erkennt der Kassationshof:

    Die Nichtigkeitsbeschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten
ist.