Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 93 IV 81



93 IV 81

20. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 20. Oktober 1967
i.S. Zulli gegen Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau. Regeste

    Art. 33 Abs. 1 StGB. Notwehr und Putativnotwehr.

    1.  Eine unmittelbare Bedrohung für Leib oder Leben liegt vor, wenn
konkrete Anzeichen einer Gefahr eine Verteidigung nahelegen. Die blosse
Aussicht, dass ein Streitgespräch mit Tätlichkeiten enden könnte, reicht
dazu nicht aus (Erw. a).

    2.  Auch der vermeintlich Bedrohte muss Umstände nachweisen, die bei
ihm den Glauben erwecken konnten, er befinde sich in einer Notwehrlage
(Erw. b).

Sachverhalt

                       Aus dem Tatbestand:

    A.- Zulli ist 1922 in Cassano (Kalabrien) geboren. Seit 1963 war er
als Handlanger bei einer Baufirma in Brugg tätig. Er wohnte zusammen
mit andern Süditalienern, die der gleichen Arbeitsgruppe angehörten,
in Wohlen bei seinem Vorarbeiter Vollenweider. Im Sommer 1965 kam es
zwischen Zulli und seinen aus San Lorenzo stammenden Landsleuten Vincenzi,
Francese, Armentano und Cersosimo zu Spannungen und Reibereien; diese
konnten es nicht ausstehen, dass jener sie rügte und sich in Abwesenheit
des Vorarbeiters dazu berufen fühlte, ihnen Anleitungen oder Weisungen
zu erteilen.

    Am 14. Juli 1965 gerieten Zulli und Vincenzi in Brugg in Streit,
weil dieser behauptete, jener habe ihn beim Vorarbeiter angeschwärzt. Der
Streit endete damit, dass Vincenzi dem Zulli einen Kessel an den Kopf warf
und ihn verletzte. Zulli ersuchte daraufhin seine Vorgesetzten umsonst,
ihn in eine andere Gruppe zu versetzen. Die Spannungen hielten an. Die
vier Arbeiter aus San Lorenzo gingen mehr und mehr darauf aus, Zulli ein
längeres Verbleiben in der Gruppe Vollenweider unerträglich zu machen,
indem sie ihn mit Drohungen einzuschüchtern suchten, in seiner Gegenwart
Messer schliffen oder ihn mit unheimlichen Geschichten aus der Heimat
plagten.

    Am 21. August 1965 kaufte Zulli sich in einem Kaufhaus in Wohlen
ein Brotmesser, das eine 15 cm lange, spitze Klinge hatte und mit
einem Wellenschliff versehen war. Dieses Messer wollte er fortan, wenn
er abends ausginge, auf sich tragen, um sich gegen seine Landsleute
aus San Lorenzo verteidigen zu können. Am Samstag den 28. August 1965
trank er zusammen mit Bekannten eine Flasche Wein und einige Flaschen
Bier. Gegen 19 Uhr steckte er das Messer in seine rechte Hosentasche und
verliess das Zimmer. Er beabsichtigte, sich in die Anglikerstrasse an das
Italienerfest zu begeben. In der Kappelstrasse kamen ihm auf dem gleichen
Trottoir Vincenzi und Armentano entgegen. Als sie sich einander bis auf
1-2 m genähert hatten, sagte Armentano zu Zulli, jetzt komme derjenige
(Vincenzi), der ihn (Zulli) züchtigen werde (E venuto quello che ti mette
a posto). Es kam zu einem kurzen Wortwechsel, bei dem Zulli von seinen
Gegnern erfahren wollte, warum sie ihn immer so hetzten. Dann zog Zulli
plötzlich das Brotmesser und versetzte Vincenzi einen 12,5 cm tiefen
Stich in die rechte Brustseite. Als Armentano ihm daraufhin das Messer
entreissen wollte, stach er auch diesem in die Brust. Vincenzi brach
sogleich zusammen und verblutete, bevor er in ein Spital eingeliefert
werden konnte. Armentano verlor ebenfalls viel Blut, konnte aber noch
gerettet werden und das Spital nach drei bis vier Wochen verlassen.

    B.- Das Geschworenengericht des Kantons Aargau erklärte Zulli am
24. August 1966 der vorsätzlichen Tötung sowie des vollendeten Versuchs
hiezu schuldig und verurteilte ihn unter Zubilligung verminderter
Zurechnungsfähigkeit zu dreizehn Jahren Zuchthaus.

    C.- Mit der Nichtigkeitsbeschwerde, die vom Bundesgericht abgewiesen
wurde, machte Zulli insbesondere geltend, das Geschworenengericht habe
die Bestimmungen über die Notwehr zu Unrecht nicht angewendet.

Auszug aus den Erwägungen:

                       Aus den Erwägungen:

    Notwehr setzt nach Art. 33 Abs. 1 StGB unter anderem voraus, dass
jemand angegriffen wird oder unmittelbar mit einem Angriff bedroht
ist. Diese Voraussetzung ist erfüllt, wenn ein Angriff unmittelbar
bevorsteht oder schon begonnen hat, fehlt dagegen, wenn er bereits vorbei
oder noch nicht zu erwarten ist. Ein Irrtum hierüber ist nach Art. 19
StGB zu beurteilen. Der Angegriffene braucht freilich nicht zu warten,
bis es zu spät ist, sich zu wehren; doch verlangt die Unmittelbarkeit
der Bedrohung, dass jedenfalls Anzeichen einer Gefahr vorhanden sind,
die eine Verteidigung nahelegen, mit andern Worten, dass objektiv eine
Notwehrlage besteht. Solche Anzeichen liegen z.B. dann vor, wenn der
Angreifer eine drohende Haltung einnimmt, sich zum Kampfe vorbereitet oder
Bewegungen macht, die in diesem Sinne gedeutet werden können (vgl. BGE 44
II 151). Erforderlich ist zudem, dass die Tat zum Zwecke der Verteidigung
erfolgt; Handlungen, die nicht zur Abwehr eines Angriffes unternommen
werden, sondern blosser Rache oder Vergeltung entspringen, fallen
nicht unter den Begriff der Notwehr. Das gleiche gilt von Handlungen,
die darauf gerichtet sind, einem zwar möglichen aber noch unsichern
Angriff vorzubeugen, einem Gegner also nach dem Grundsatz, dass der
Angriff die beste Verteidigung ist, zuvorzukommen und ihn vorsorglich
kampfunfähig zu machen (vgl. GERMANN, Das Verbrechen, S. 216; WAIBLINGER,
Schweiz. Juristische Kartothek, Karte 1205 Ziff. 9-11).

    a) Nach dem angefochtenen Urteil begann der kurze Wortwechsel damit,
dass Armentano zu Zulli sagte: "E venuto quello che ti mette a posto." Ob
die Vorinstanz den Sinn dieses Satzes erfasst habe, ist zweifelhaft,
kann jedoch dahingestellt bleiben; denn der Beschwerdeführer hat die
darin enthaltene Anspielung auf eine tätliche Auseinandersetzung, wie
aus seinen Aussagen im Verfahren erhellt, nicht als ernsthafte Bedrohung
ausgelegt. Die Verteidigung anerkannte in der Hauptverhandlung ebenfalls,
dass Zulli sich in dieser Phase des Geschehens nicht in einer Notwehrlage
befand. Nach der Frage an seine Gegner, warum sie ihn immer so reizten, zog
er laut seinen Angaben vom 28. August 1965, die das Geschworenengericht
für zutreffend hält, aber sofort das Messer und versetzte Vincenzi den
tödlichen Stich. Dass ihn dieser unmittelbar vorher angegriffen oder auch
nur irgendwie bedroht hätte, machte Zulli nicht geltend. Auf die Frage
der Polizei, warum er denn ohne jeglichen Grund einfach zugestochen habe,
antwortete er vielmehr unter Hinweis auf den Vorfall von Brugg, er habe
befürchtet, auch heute wieder von Vincenzi angegriffen zu werden, habe aber
nicht ein zweites Mal warten wollen; um einem Angriff zuvorzukommen, habe
er das Messer aus der Hosentasche gezogen und augenblicklich auf Vincenzi
eingestochen. Seine Tat an Vincenzi war somit keine Notwehr, sondern eine
brutale und heimtückische Angriffshandlung, von der seine Gegner denn
auch völlig überrascht wurden. Von Armentano sodann, der ihm das Messer
entreissen wollte, wurde er nach den tatsächlichen Feststellungen der
Vorinstanz erst angegriffen, als Vincenzi bereits tödlich verletzt am
Boden lag. Das Einschreiten Armentanos war Notwehr, gegen die es nicht
wieder Notwehr gibt.

    Dass Zulli eine Auseinandersetzung befürchtete, hat das
Geschworenengericht nicht übersehen. Er tat dies jedoch nicht gestützt
auf Wahrnehmungen am Tatort, sondern weil Vincenzi ihn bereits einmal
tätlich angegriffen und zusammen mit den andern Arbeitern aus San Lorenzo
seit Wochen mit Drohungen geplagt hatte. Er machte sich denn auch seit
mindestens Samstag den 21. August, als er das Messer kaufte, auf eine
Auseinandersetzung gefasst. Unter diesen Umständen vermag seine Befürchtung
die Voraussetzungen der Notwehr nicht zu ersetzen. Wenn die Berufung auf
Notwehr nicht zum Vorwand werden soll, einen Gegner ungestraft verletzen
oder gar umbringen zu können, so kann der Nachweis einer unmittelbaren
Bedrohung nicht leichthin als erbracht angesehen werden; die blosse
Aussicht, dass ein Streitgespräch mit Tätlichkeiten enden könnte, reicht
dazu jedenfalls nicht aus.

    b) Das gilt sinngemäss auch für den Fall, wo jemand irrtümlich annimmt,
er werde angegriffen oder sei unmittelbar mit einem Angriff bedroht, sei
es, dass er eine Bewegung des Gegners falsch auslegt oder eine Bedrohung
ernst nimmt, obwohl sie bloss als Scherz oder Stichelei gemeint war, und
sich wehrt. Auch der vermeintlich Angegriffene oder Bedrohte muss Umstände
nachweisen, die bei ihm den Glauben erwecken konnten, er befinde sich
in einer Notwehrlage. Die blosse Vorstellung von der Möglichkeit eines
Angriffes oder einer unmittelbaren Bedrohung genügt nicht zur Annahme,
dass er in Putativnotwehr gehandelt habe (BGE 44 II 152).

    Der Beschwerdeführer hat schon im kantonalen Verfahren behauptet,
er habe sich jedenfalls angegriffen und in unmittelbarer Lebensgefahr
geglaubt, weshalb ihm zumindest Putativnotwehr zugebilligt werden
müsse. Ob er solcher Meinung gewesen sei, ist nicht Rechts -, sondern
Tatfrage (vgl. WAIBLINGER, aaO Ziff. 12). Das Geschworenengericht hat sie,
wenn nicht ausdrücklich, so doch dem Sinne nach verneint. Es führt aus,
dass Zulli der Auseinandersetzung mit seinen Landsleuten aus dem Wege
gegangen wäre, wenn er tatsächlich Angst und die Überzeugung gehabt
hätte, er werde angegriffen oder es stehe ihm unmittelbar ein Angriff
bevor. Zulli habe auch keinerlei äussern Anlass zu einem Irrtum gehabt,
da es bloss zu einem heftigen Palaver gekommen sei und die Begegnung
auf offener Strasse, inmitten von Passanten und zu einer Zeit, als es
noch taghell war, stattgefunden habe. Mit dieser Beweiswürdigung, die den
Kassationshof bindet, ist nicht nur der behaupteten Putativnotwehr, sondern
auch einem angeblichen Rechtsirrtum über den Umfang des Notwehrrechtes
der Boden entzogen. Wenn der Beschwerdeführer sich weder tatsächlich
noch vermeintlich in einer Notwehrlage befand, so ist unerfindlich,
was ihn hätte glauben machen können, er dürfe Vincenzi und Armentano
kurzerhand niederstechen.