Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 93 IV 63



93 IV 63

17. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 5. Mai 1967 i.S. von
der Crone gegen Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau. Regeste

    1.  Art. 35 Abs. 2 SVG. Satz 2 dieser Bestimmung gilt allgemein,
sowohl beim Überholen einer Kolonne als auch beim Überholen eines einzelnen
Fahrzeuges. Begriff der Behinderung.

    2.  Art. 35 Abs. 3 SVG. Rücksichtnahme gegenüber dem Überholten beim
Wiedereinbiegen.

Sachverhalt

    A.- Von der Crone holte am 10. Dezember 1965 gegen 18.45 Uhr mit
seinem Personenauto auf der Hauptstrasse von Oberentfelden nach Suhr eine
mit 60-70 km/Std fahrende, aus einem Lastwagen und drei nachfolgenden
Personenwagen bestehende Kolonne ein und begann diese sogleich mit einer
Geschwindigkeit von ca. 80 km/Std zu überholen. Als er dem hintersten Wagen
vorgefahren war, musste er wegen Fahrzeugen, die aus der Gegenrichtung
auftauchten, sein Überholmanöver vorzeitig abbrechen und zwischen den
zwei letzten Wagen, die einen Abstand von 20-30 m voneinander hatten,
in die Kolonne einbiegen.

    B.- Das Bezirksgericht Aarau verurteilte von der Crone wegen
Widerhandlung gegen Art. 35 Abs. 2 und 3 SVG in Anwendung von Art. 90
Ziff. 1 SVG zu einer Busse von Fr. 40.-.

    Das Obergericht des Kantons Aargau wies die Berufung, die der
Verurteilte gegen das bezirksgerichtliche Urteil einreichte, am 26. Januar
1967 ab.

    C.- Von der Crone führt gegen das Urteil des Obergerichts
Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag, er sei freizusprechen.

Auszug aus den Erwägungen:

Der Kassationshof zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Nach Art. 35 Abs. 2 SVG ist das Überholen nur gestattet, wenn
der nötige Raum übersichtlich und frei ist und der Gegenverkehr nicht
behindert wird. Im Kolonnenverkehr darf nur überholen, wer die Gewissheit
hat, rechtzeitig und ohne Behinderung anderer Fahrzeuge wieder einbiegen
zu können.

    Der Beschwerdeführer begann die aus vier Motorfahrzeugen bestehende
Kolonne zu überholen, weil er kein entgegenkommendes Fahrzeug sehen konnte.
Die Tatsache allein, dass zu Beginn des Überholens kein Gegenverkehr
herrschte, genügte jedoch nicht, um das Überholen für zulässig zu halten.
Beim Überholen einer geschlossenen Kolonne gilt die Regel des Art. 35
Abs. 2 Satz 1 SVG ebenso wie beim Überholen eines einzelnen Fahrzeuges. Das
Überholen ist nur gestattet, wenn der Überholende von Anfang an damit
rechnen darf, dass die zum Überholen erforderliche Strecke bis zum
vollständigen Abschluss des Manövers auch frei bleiben werde. In diesem
Sinne ist schon früher entschieden worden (BGE 86 IV 117 Erw. 2; 89 IV
147 Erw. 3/b).

    Gleich verhält es sich, wenn die vorausfahrenden Fahrzeuge keine
geschlossene Kolonne bilden, sondern zwischen einzelnen oder mehreren
Fahrzeugen Abstände eingehalten werden, die so gross sind, dass sie einem
Überholenden ohne weiteres das Wiedereinbiegen in die rechte Fahrbahn
ermöglichen. Das Überholen einzelner oder in geschlossenen Gruppen
fahrender Fahrzeuge ist dann insoweit erlaubt, als der Überholende zum
voraus sicher sein darf, dass er das Unternehmen gefahrlos abschliessen,
d.h. ohne Behinderung des Gegenverkehrs und der zu Überholenden in einer
Lücke wieder nach rechts einschwenken kann (BGE 86 IV 119).

    Art. 35 Abs. 2 Satz 2 SVG, der ausdrücklich vorschreibt, dass im
Kolonnenverkehr der Überholende die Gewissheit haben muss, rechtzeitig
und ohne Behinderung anderer Fahrzeuge wieder einbiegen zu können,
bestätigt nur die bisherige Rechtsprechung. Wenn sich die Bestimmung auf
den Kolonnenverkehr bezieht, so wird damit nur der Fall hervorgehoben, in
welchem der aus der früheren Rechtsprechung übernommene Grundsatz erhöhte
Bedeutung hat. Dieser Grundsatz ist jedoch lediglich die Folgerung aus
der grundlegenden Vorschrift des Art. 35 Abs. 2 Satz 1 SVG bzw. aus
der früher entsprechenden des Art. 46 Abs. 1 Satz 1 MFV. Er ist daher
weiterhin allgemein anwendbar, sowohl beim Überholen eines einzelnen
Fahrzeuges als auch beim Überholen einer geschlossenen oder unterbrochenen
Fahrzeugkolonne.

Erwägung 2

    2.- Der Beschwerdeführer wollte nach seinen eigenen Angaben die vier
Fahrzeuge in einem Zug überholen. Das war nach Art. 35 Abs. 2 Satz 1 SVG
unzulässig, da feststeht, dass er sein Vorhaben nicht hätte zu Ende führen
können, indem sich bereits Fahrzeuge aus der Gegenrichtung näherten, als
er erst den am Schlusse der Kolonne fahrenden Wagen überholt hatte. Auch
die Berufung auf Art. 35 Abs. 2 Satz 2 SVG und darauf, dass der Abstand
zwischen dem letzten und zweitletzten Wagen der Kolonne 20-30 m betrug,
hilft dem Beschwerdeführer nicht. Das Obergericht stellt fest, dass der
Führer des überholten Wagens genötigt war, sein Fahrzeug abzubremsen,
um dem Beschwerdeführer, der wegen des Gegenverkehrs das Überholmanöver
abbrechen und in die Kolonne einschwenken musste, das Einbiegen zu
ermöglichen. Diese tatsächliche Feststellung bindet den Kassationshof
(Art. 273 Abs. 1 lit. b und Art. 277 bis Abs. 1 BStP). Aus ihr ergibt sich,
dass der überholte Fahrzeugführer seine Fahrt nicht ungestört fortsetzen
konnte, somit durch das Einbiegen des Beschwerdeführers behindert wurde,
und dass demzufolge der Beschwerdeführer auch dann unzulässigerweise
überholt hat, wenn er von Anfang an das Wiedereinbiegen in die Kolonne in
Betracht zog, da er keine Gewissheit hatte, dass er es ohne Behinderung
anderer werde tun können.

    Der Beschwerdeführer hat daher wegen unzulässigen Überholens Art. 35
Abs. 2 SVG übertreten und ausserdem wegen mangelnder Rücksichtnahme
Art. 35 Abs. 3 SVG verletzt, indem er den überholten Kolonnenfahrer durch
brüskes Wiedereinbiegen zum Abbremsen zwang.