Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 93 IV 39



93 IV 39

12. Urteil des Kassationshofes vom 21. April 1967 i.S. Staatsanwaltschaft
des Kantons Zürich gegen X. Regeste

    1.  Art. 31 Abs. 2 SVG. Fahrunfähigkeit liegt vor, wenn der Führer an
einem körperlichen oder geistigen Mangel leidet, der ihn an der sicheren
Führung des Fahrzeuges hindert (Erw. 1).

    2.  Art. 91 Abs. 1 SVG, Art. 12 und 263 StGB. Wer sich schuldhaft in
den Zustand der Unzurechnungsfähigkeit versetzt und in diesem Zustande
angetrunken ein Motorfahrzeug führt, ist, wenn er das Vergehen des Art. 91
SVG im Sinne einer actio libera in causa vorsätzlich oder fahrlässig
verschuldet hat, nach dieser Bestimmung, andernfalls nach Art. 263 StGB
zu bestrafen (Erw. 2 und 3).

Sachverhalt

    A.- X. nahm am 30. September 1965, als er im medizinischen
Staatsexamen stand, im Verlaufe des Nachmittags und Abends nahezu 20
Tabletten Bellergal-Retard, fast die zehnfache Tagesdosis, ein, um seine
Schlaflosigkeit und Examensangst zu bekämpfen. Gegen 22 Uhr setzte er sich
ans Steuer seines Autos und fuhr vom Wohnort seiner Eltern in Zürich 2 nach
Zürich-Oberstrass, wo er in einer oder mehreren Wirtschaften reichlich
Alkohol trank. Als er auf der Heimfahrt, die er ca. um 00.30 Uhr antrat,
an der Kreuzung Zürichberg-/Plattenstrasse wegen der auf Rot gestellten
Signalanlage anhalten musste, schlief er ein und konnte die Fahrt nicht
mehr fortsetzen. Die kurze Zeit später vorgenommene Blutprobe ergab,
dass er mit 2,46 Gewichtspromillen Alkohol im Blut stark angetrunken war.

    B.- Das Bezirksgericht Zürich verurteilte X. am 24. Mai 1966 wegen
Fahrens in angetrunkenem Zustande (Art. 91 Abs. 1 SVG) zu sechs Wochen
Gefängnis und ordnete wegen Rückfalls die Veröffentlichung des Urteils an.

    Das Obergericht des Kantons Zürich sprach X. auf dessen Berufung
hin am 9. Januar 1967 der Verübung einer Tat in selbstverschuldeter
Unzurechnungsfähigkeit (Art. 263 Abs. 1 StGB) schuldig. Es verurteilte
ihn zu 21 Tagen Gefängnis und schob den Vollzug der Strafe bedingt auf.

    C.- Die Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich verlangt mit der
Nichtigkeitsbeschwerde die Aufhebung des obergerichtlichen Urteils und
stellt den Antrag, X. sei des Fahrens in angetrunkenem Zustande nach
Art. 91 SVG schuldig zu erklären, und es sei demzufolge die Strafe neu
festzusetzen, der bedingte Strafvollzug zu verweigern und das Strafurteil
gemäss Art. 102 Ziff. 2 lit. b SVG zu veröffentlichen.

    D.- X. beantragt die Abweisung der Beschwerde.

Auszug aus den Erwägungen:

              Der Kassationshof zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Das Bezirksgericht sah von einer Bestrafung des Angeklagten wegen
Fahrens in nicht fahrtüchtigem Zustande (Art. 31 Abs. 2 SVG) - nach der
Anklage begangen auf der Fahrt von Zürich 2 nach Zürich-Oberstrass -
mit der Begründung ab, dass die vor der Fahrt im Übermass eingenommenen
Bellergal-Retard-Tabletten keine völlige Unzurechnungsfähigkeit bewirkt
hätten. Das Obergericht liess die Frage, welche Wirkung die Tabletten
in diesem Zeitpunkt hatten, unbeantwortet, mit der Erklärung, dass das
Bezirksgericht den Angeklagten von der Verletzung einer Verkehrsregel
freigesprochen und die Staatsanwaltschaft gegen diesen Freispruch nicht
appelliert habe, womit es sagen wollte, dass im Berufungsverfahren
die Anklage wegen Verletzung von Art. 31 Abs. 2 SVG fallen gelassen
wurde. Diese auf Grund des kantonalen Prozessrechts getroffene Feststellung
bindet den Kassationshof (Art. 273 Abs. 1 lit. b und Art. 277 bis Abs.
1 BStP). Es erübrigen sich daher Ausführungen darüber, dass die in Art. 31
Abs. 2 SVG genannte Fahrunfähigkeit nicht völlige Unzurechnungsfähigkeit
voraussetzt, sondern schon gegeben ist, wenn der Führer an einem
körperlichen oder geistigen Mangel leidet, der ihn an der sicheren Führung
des Motorfahrzeuges hindert; die in der gleichen Bestimmung vorangestellten
Beispiele der Angetrunkenheit und Übermüdung bestätigen dies.

Erwägung 2

    2.- Die Staatsanwaltschaft macht geltend, dass auf den
Motorfahrzeugführer, der zufolge selbstverschuldeter Trunkenheit
unzurechnungsfähig ist und in diesem Zustande ein Motorfahrzeug führt,
nicht Art. 263 StGB, sondern Art. 91 Abs. 1 SVG Anwendung finde, da diese
Strafnorm im Verhältnis zu Art. 263 StGB Spezialbestimmung sei und deshalb
vorgehe. Die Auffassung, dass in diesem Falle Art. 91 SVG anzuwenden sei,
trifft unter der Voraussetzung zu, dass der Fahrzeugführer das Fahren in
angetrunkenem Zustande vorsätzlich oder fahrlässig verschuldet hat. Art. 91
SVG geht diesfalls aber nicht als Spezialtatbestand dem Art. 263 StGB vor,
sondern deswegen, weil das Verschulden des Täters ausser der Herbeiführung
der Unzurechnungsfähigkeit auch das in diesem Zustande verübte Vergehen
umfasst. Art. 263 StGB bestraft, wer sich schuldhaft in den Zustand
der Unzurechnungsfähigkeit versetzt und in diesem Zustande objektiv ein
Verbrechen oder Vergehen verübt, ohne dass ihm diese Tat zum Verschulden
angerechnet werden kann (vgl. BGE 83 IV 162). Hat der Täter darüber hinaus
auch den deliktischen Erfolg schuldhaft herbeigeführt, so ist die dann
anwendbare Strafbestimmung die umfassendere und schliesst als solche die
Anwendung der ihr gegenüber subsidiären Sonderbestimmung des Art. 263
StGB aus (ebenso SCHWANDER, Strafgesetzbuch, S. 110 N 224).

    Für das in selbstverschuldeter Unzurechnungsfähigkeit begangene
Vorsatz- oder Fahrlässigkeitsdelikt kann der Täter nur bestraft werden,
wenn er zur Zeit, als er noch ganz oder teilweise zurechnungsfähig war, die
Verübung der strafbaren Handlung vorausgesehen und gewollt hat oder ihre
Begehung bei pflichtgemässer Vorsicht hätte voraussehen können. Art. 91
SVG ist daher nur dann anstelle von Art. 263 StGB anwendbar, wenn dem
Angeklagten eine actio libera in causa (Art. 12 StGB) vorzuwerfen ist,
die sowohl vorsätzlich als auch fahrlässig begangen werden kann (BGE
85 IV 2). Die Staatsanwaltschaft nimmt zu dieser Frage nicht Stellung,
obschon sich das Obergericht mit ihr befasst hat. Sie ist jedoch als
Rechtsfrage vom Kassationshof von Amtes wegen zu überprüfen.

Erwägung 3

    3.- Das Obergericht verneinte die Anwendbarkeit des Art. 12
StGB, indem es ausführte, der Angeklagte habe, als er zu Hause im
Übermass Beruhigungstabletten zu sich nahm, nicht vorausgesehen oder
voraussehen können, dass er mit seinem Wagen auf eine Pintenkehr fahren
und alkoholisiert ein Auto führen werde. Mit dieser Begründung könnte
eine actio libera in causa indessen nur ausgeschlossen werden, wenn
davon auszugehen wäre, dass der Angeklagte schon unzurechnungsfähig
gewesen sei, bevor er sich entschloss, eine Pintenkehr zu unternehmen
und Alkohol zu trinken. Das ist aber nicht festgestellt und auch nicht
ohne weiteres anzunehmen,war er doch imstande, auf der nicht kurzen
und nicht ungefährlichen Strecke von der Kilchbergstrasse im Kreis 2
durch das Stadtzentrum hindurch ins Zürichbergquartier anscheinend
ohne Schwierigkeiten ein Auto zu führen. Die Vorinstanz liess denn
auch ausdrücklich offen, ob der Angeklagte schon auf der Hinfahrt
unzurechnungsfähig gewesen sei, und stellte nur fest, dass er sich
jedenfalls auf der Rückfahrt nach Mitternacht, d.h. nach dem Alkoholkonsum,
im Zustande der Unzurechnungsfähigkeit befand. Auch das Gutachten des
gerichtlich-medizinischen Instituts der Universität Zürich gelangt weder
in seiner Begründung noch in seinen Schlussfolgerungen zum eindeutigen
Ergebnis, dass die Einnahme der Tabletten bereits vor dem Alkoholgenuss zu
einer die Zurechnungsfähigkeit ausschliessenden Bewusstseinsstörung geführt
habe. Es erklärt nur, dass die Fähigkeit des Angeklagten, das Unrecht
seines Verhaltens einzusehen oder gemäss dieser Einsicht zu handeln, schon
um ca. 22 Uhr in höchstem Grade herabgesetzt und sein Bewusstsein nach
dem Alkoholkonsum um 00.30 Uhr noch stärker beeinträchtigt gewesen sei.

    Somit ist nicht ausgeschlossen, dass X., als er sich - möglicherweise
schon zu Hause vor der Wegfahrt - zum Alkoholkonsum entschloss, unter der
einschläfernden Wirkung der Bellergal-Retard-Tabletten erst vermindert
zurechnungsfähig war, so dass er die Folgen seines Vorhabens und die
Gefahr, in angetrunkenem Zustande ein Motorfahrzeug zu führen, erkennen
konnte oder bei pflichtgemässer Überlegung hätte erkennen können. Da
von der Feststellung, in welchem Zeitpunkt die Unzurechnungsfähigkeit
eingetreten ist, die Frage der Anwendbarkeit des Art. 91 SVG abhängt und
im Falle der Anwendung dieser Bestimmung Rückfall vorliegt, der zu einer
höheren Strafe führen kann und ohne weiteres die Verweigerung des bedingten
Strafvollzuges sowie die Urteilspublikation nach Art. 102 Ziff. 2 lit. b
SVG nach sich zieht, ist das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache
zu neuer Beurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen.

Entscheid:

Demnach erkennt der Kassationshof:

    Die Nichtigkeitsbeschwerde wird dahin gutgeheissen, dass das Urteil
des Obergerichts des Kantons Zürich vom 9. Januar 1967 aufgehoben und
die Sache zur Ergänzung der tatbeständlichen Feststellungen und zu neuer
Beurteilung an die Vorinstanz zurückgewiesen wird.