Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 93 II 223



93 II 223

31. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung vom 12. Juni 1967
i.S. Ruesch und Mitbeteiligte gegen Ruesch. Regeste

    Form des Erbvertrages (Art. 512 ZGB). Konversion in eine letztwillige
Verfügung.

    1.  Ein als Kaufvertrag bezeichnetes Geschäft, das erst nach dem
Ableben der einen Vertragspartei seine Wirkungen entfalten soll, hat als
Rechtsgeschäft von Todes wegen zu gelten (Erw. 1).

    2.  Ist die Form des Erbvertrages (Art. 512 ZGB) auch eingehalten, wenn
die Gegenwart der Zeugen und der Urkundsperson bei der Unterzeichnung des
Vertrages durch die Parteien auf andere Weise als durch die Bescheinigung
auf der Urkunde nachgewiesen wird?

    Hängt die Gültigkeit des Erbvertrages davon ab, dass die Partei,
die sich damit begnügt, die Verfügung des Erblassers anzunehmen, vor den
Zeugen erklärt, der Inhalt des Vertrages entspreche ihrem Willen?

    Fragen offen gelassen (Erw. 2).

    3.  Konversion eines nichtigen Erbvertrages in eine öffentliche
letztwillige Verfügung (Erw. 3).

Sachverhalt

                       Aus dem Tatbestand:

    A.- Alt Baumeister Emil Ruesch, geboren am 15. Juni 1882, wurde im
Jahre 1932 von seiner Ehefrau geschieden. Ungefähr zur gleichen Zeit nahm
er Frau Rosa Ruesch-Decker mit ihrer Tochter Rosa in seinen Haushalt
auf. Diese besorgte nach dem im Jahre 1954 eingetretenen Tode ihrer
Mutter dem Emil Ruesch den Haushalt, ohne hiefür je eine Entschädigung
zu erhalten. Ihre bisherige Stelle als Schichtarbeiterin behielt sie
weiterhin bei.

    Am 22. September 1959 schloss Emil Ruesch mit Rosa Ruesch vor dem
Grundbuchamt Wil über seine Liegenschaft an der Feldstrasse 3 in Wil einen
"Kaufvertrag", der im wesentlichen folgenden Inhalt hat:

    "Die Abtretung erfolgt:

    a)  gegen Übernahme der auf dem Kaufobjekt haftenden Grundpfandschulden
im Betrage von Fr. 14'000.-- durch die Erwerberin. ...

    b)  (Handänderungskosten).

    Weitere Bestimmungen:

    1.  Die Differenz zwischen der Verkehrswertschatzung und den
bestehenden Grundpfandschulden ist als Ausgleich für vorenthaltenen Lohn
für Mithilfe im gemeinsamen Haushalt zu betrachten.

    2.  Der Antritt erfolgt mit dem Ableben des Emil Ruesch.

    3.  Das Grundbuchamt Wil wird ermächtigt, die für den Eigentumsübergang
erforderlichen Eintragungen nach dem Ableben des Überlassers auf Grund
eines amtlichen Todesscheines im Grundbuch vorzunehmen.

    Wil, 22. September 1959       Der Überlasser:

    Die Übernehmerin:     gez. Ruesch Emil

    gez. Rosa Ruesch

    Öffentliche Beurkundung:

    Ich bescheinige hiermit, dass vorstehender Vertrag, den die Parteien
unter Verzicht auf das Vorlesen gelesen haben, dem mir mitgeteilten
Parteiwillen entspricht.

    Wil, 22. September 1959,      15.00 Uhr
          Der Grundbuchverwalter: gez. Widmer

    Wir, die unterzeichneten Zeugen:

    Paul Bühler, ....

    Elmar Wehrli, ....

    bestätigen hiermit unterschriftlich, dass der Überlasser Emil Ruesch,
1882, Bauunternehmer, Feldstrasse 3, Wil, unmittelbar nach der Datierung
und Unterzeichnung der vorstehenden Urkunde durch ihn und die Übernehmerin
in Gegenwart des Gemeinderatsschreibers erklärt hat, dass er die Urkunde
gelesen habe und diese seine letztwillige Verfügung im Sinne von Art. 498
ZGB enthalte.

    Wir bestätigen ferner, dass Emil Ruesch, Bauunternehmer, sich dabei
nach unserer Wahrnehmung im Zustande der vollen Verfügungsfähigkeit
befunden hat.

    Wil, 22. September 1959,      15.10 Uhr
          Die Zeugen: gez. P. Bühler gez. E. Wehrli

    Ich erkläre andurch, dass ich diese Urkunde nach den Vorschriften
der Art. 499/501 ZGB und getreu dem Willen des Überlassers abgefasst
habe, und dass Emil Ruesch, Bauunternehmer, sowie die Zeugen Paul Bühler
und Elmar Wehrli diese Urkunde in meiner Gegenwart unterzeichnet haben.

    Wil, 22. September 1959,      15.10 Uhr
          Der Gemeinderatsschreiber: gez. Widmer"

    Dieser Vertrag wurde mit der Aufschrift "letztwillige Verfügung"
versehen und verschlossen beim Gemeindeamt Wil hinterlegt. Nach dem am
4. Mai 1964 eingetretenen Tode des Emil Ruesch wurde die Urkunde seinen
gesetzlichen Erben am 12. Mai 1964 als letztwillige Verfügung eröffnet.

    B.- Die gesetzlichen Erben des Emil Ruesch weigerten sich,
der Rosa Ruesch die fragliche Liegenschaft gestützt auf den
Vertrag vom 22. September 1959 zu Eigentum zu übertragen. Sie erhob
deshalb am 21. April 1965 Klage beim Bezirksgericht Wil, das ihr die
Liegenschaft unter Überbindung der darauf haftenden Grundpfandschulden
von Fr. 14'000. -als Eigentum zusprach. (Verzicht der Rosa Ruesch auf
weitere Lohnforderungen.)

    Das Kantonsgericht St. Gallen wies die Berufung der beklagten
Erben gegen dieses Urteil am 24. Oktober 1966 ab. Es hielt fest, das
als Kaufvertrag bezeichnete Geschäft stelle seinem wesentlichen Inhalt
nach ein Rechtsgeschäft von Todes wegen dar. Ein formgültiger Erbvertrag
seijedoch nicht gegeben. Hingegen erfülle die umstrittene Urkunde alle
Formerfordernisse der öffentlichen letztwilligen Verfügung gemäss Art. 499
bis 501 ZGB. ....

    C.- Gegen das Urteil des Kantonsgerichtes St. Gallen haben die
Beklagten die Berufung an das Bundesgericht erklärt mit dem Antrag, das
angefochtene Urteil sei aufzuheben und der Fall sei zur Neubeurteilung
an die Vorinstanz zurückzuweisen. Die Klägerin beantragt die Abweisung
der Berufung. Das Bundesgericht weist die Berufung ab.

Auszug aus den Erwägungen:

                       Aus den Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- (Gekürzt) In erster Linie stellt sich die Frage, ob das
streitige Geschäft als Rechtsgeschäft unter Lebenden oder als Verfügung
von Todes wegen zu gelten hat. Zur Abgrenzung dieser beiden Arten von
Rechtsgeschäften ist auf den Zeitpunkt abzustellen, auf den das Geschäft
seinem typischen Entstehungszwecke und seiner juristischen Natur nach seine
Wirkungen zu äussern bestimmt ist. Massgebend ist, ob diese Wirkungen
beim Tode oder zu Lebzeiten des oder der Handelnden eintreten sollen
(TUOR, 2. Aufl., Einleitung zum vierzehnten Titel, N. 3 a).

    (Ausführungen darüber, dass der Antritt des Kaufobjekts durch die
Klägerin und die Eintragung des Eigentumsüberganges im Grundbuch mit
bzw. nach dem Tode des Erblassers erfolgen sollten, dass die Zeugen und
die Urkundsperson das Geschäft als letztwillige Verfügung bezeichneten
und dass die Urkunde als letztwillige Verfügung beim Gemeindeamt Wil
hinterlegt wurde.)

    Daraus geht hervor, dass die Zuwendung des Emil Ruesch an die Klägerin
zu seinen Lebzeiten keine Wirkungen entfalten sollte. Insbesondere
sollten damit nicht die Lohnansprüche der Rosa Ruesch vor dem Tode des
Überlassers befriedigt werden. Vielmehr sollte das streitige Geschäft nach
dem eindeutigen Willen der Parteien erst nach dem Ableben des Emil Ruesch
wirksam werden. .... Das Bundesgericht hat ein als Erbvertrag bezeichnetes
Geschäft, auf Grund dessen der Erblasser eine Liegenschaft an drei seiner
Kinder übertragen hatte, als Rechtsgeschäft unter Lebenden betrachtet, weil
es durch Eintragung im Grundbuch und Zahlung des Kaufpreises bereits zu
Lebzeiten der Parteien erfüllt worden war (BGE 53 II 103 Erw. 3; ferner BGE
45 III 164, 46 II 234, 50 II 372 Erw. 1 und 84 II 250 Erw. 6). Umgekehrt
hat der vorliegend abgeschlossene Vertrag, der erst nach dem Ableben des
Emil Ruesch erfüllt werden sollte, als Rechtsgeschäft von Todes wegen
zu gelten.

Erwägung 2

    2.- (Gekürzt) Zu prüfen bleibt, ob das streitige Geschäft
eine letztwillige Verfügung oder einen Erbvertrag, d.h. einen
Vermächtnisvertrag, darstellt.

    (Ausführungen darüber, dass die Urkunde vom 22. September 1959 die
Formerfordernisse des Erbvertrages, Art. 512 ZGB, nicht erfüllt.)

    In ihrer Berufungsantwort hat die Klägerin noch geltend gemacht,
die Gegenwart der Zeugen und des Beamten bei der Unterzeichnung könne
auch durch andere Beweismittel als die Bescheinigung auf der Urkunde
nachgewiesen werden, so etwa durch die Zeugenbefragung. Entgegen BGE
42 II 204 und 45 II 139 f. hat die neuere Rechtsprechung diese Frage
offen gelassen (BGE 60 II 276 und 76 II 276 Erw. 2). Sie braucht auch
im vorliegenden Fall nicht beantwortet zu werden. .... Die Beklagten
berufen sich überdies darauf, dass die Zeugen die Erklärung beider
Vertragsparteien, die Urkunde sei von ihnen gelesen und sie sei ihrem
Willen entsprechend abgefasst worden, hätten schriftlich bestätigen
müssen. Die auf der Urkunde angebrachte Zeugenerklärung bezieht sich in der
Tat nur auf den Erblasser Emil Ruesch und nicht auch auf die Klägerin. Die
Form des Erbvertrages ist daher auch in dieser Beziehung nicht eingehalten
worden. Man könnte sich allerdings fragen, ob die ausdrückliche Erklärung
der Rosa Ruesch vor den Zeugen, dass der Inhalt der Urkunde ihrem Willen
entspreche, Gültigkeitserfordernis für den Erbvertrag bilden müsse,
nachdem sie sich damit begnügt, die Verfügung des Erblassers anzunehmen,
und ihre Gegenwart und Unterschrift den Zeugen hinreichende Sicherheit
für ihre Zustimmung bietet. (TUOR und ESCHER äussern sich in ihren
Kommentaren zum Erbrecht unter N. 9 zu Art. 512 ZGB in zustimmendem Sinne.
Das Bundesgericht hat sich indessen in BGE 48 II 65 und 60 II 275 dieser
Ansicht nicht angeschlossen.) Auch diese Frage kann jedoch offen bleiben.

Erwägung 3

    3.- Nachdem das vorliegende Geschäft nicht als Erbvertrag betrachtet
werden kann, stellt sich noch die Frage, ob es sich als letztwillige
Verfügung aufrechterhalten lässt.

    Das deutsche BGB bestimmt in § 140: "Entspricht ein nichtiges
Rechtsgeschäft den Erfordernissen eines andern Rechtsgeschäftes, so gilt
das letztere, wenn anzunehmen ist, dass dessen Geltung bei Kenntnis der
Nichtigkeit gewollt sein würde." Das schweizerische Recht enthält keine
entsprechende Bestimmung. Rechtsprechung und Lehre nehmen jedoch an, dass
der in § 140 BGB niedergelegte Grundsatz der sogenannten Konversion als
allgemeine Rechtsanwendungsnorm auch im Bereiche des schweizerischen Rechts
gelte (BGE 76 II 13 Erw. 5 und 278 Erw. 3; 46 II 17). Eine Voraussetzung
solcher Umwandlung wird darin erblickt, dass das "andere" Rechtsgeschäft
einen ähnlichen Zweck und Erfolg hat wie das nichtige.

    Der zwischen Emil Ruesch und der Klägerin abgeschlossene Vertrag
ist in der Zeugenformel ausdrücklich und in der Schlussformel des
Urkundsbeamten implicite als letztwillige Verfügung bezeichnet worden. Wie
die Vorinstanz bereits dargetan hat, genügt er den Formerfordernissen
der Art. 499 bis 501 ZGB. Mit Recht hat sie erklärt, der Umstand, dass
Gemeinderatsschreiber Widmer den Vertrag vorerst als Grundbuchverwalter
unterzeichnet habe, sei unerheblich. Nach kantonalem Recht war er für
die Beurkundung des "Kaufvertrages" als Grundbuchverwalter zuständig,
während die Beurkundung öffentlicher letztwilliger Verfügungen in seinen
Amtsbereich als Gemeinderatsschreiber fiel. Als solcher hat er auch die
Schlussformel der Urkunde unterzeichnet. Sie ist somit unter Mitwirkung
des zuständigen Beamten errichtet worden. Dass dieser gleichzeitig zwei
Funktionen ausübt, fällt dabei nicht ins Gewicht. Es ist daher auch die
Formvorschrift von Art. 500 ZGB gewahrt.

    Das zwischen dem Erblasser und der Klägerin abgeschlossene
Rechtsgeschäft hatte den Zweck, dass diese beim Ableben des Emil Ruesch
seine Liegenschaft an der Feldstrasse 3 in Wil zu Eigentum erhalte gegen
Übernahme der darauf lastenden Grundpfandschulden von Fr. 14'000.-- und
gegen Verzicht auf sämtliche Lohnforderungen. Das gleiche Ziel hätte
aber auch mit der Errichtung einer letztwilligen Verfügung erreicht
werden können. Die Klägerin ist zudem gemäss ihrem Klagebegehren bereit,
ihre in der Urkunde vereinbarten Gegenleistungen, nämlich die Übernahme
der Grundpfandschulden und den Verzicht auf ihre Lohnguthaben, zu
erbringen. Nach Art. 485 ZGB würde die dingliche Belastung beim Antritt
des Vermächtnisses ohnehin auf sie übergehen (vgl. ESCHER, Kommentar zum
Erbrecht, N. 7 und 8 zu Art. 485 ZGB).

    Es darf aber auch ohne weiteres angenommen werden, dass Emil Ruesch
tatsächlich den Willen hatte, bei Nichtigkeit des Kaufvertrages der
Klägerin die Liegenschaft durch Vermächtnis zuzuwenden. Dies ergibt sich
schon aus dem Text der Urkunde, in welchem ausdrücklich hervorgehoben wird,
dass diese den letzten Willen des Erblassers enthalte. Schliesslich ist
im Vertrag auch keine Zuwendung der Klägerin an Emil Ruesch vorgesehen,
von der anzunehmen wäre, sie sei mit seiner Leistung so eng verbunden, dass
er die Liegenschaft ohne diese Gegenleistung testamentarisch nicht vermacht
hätte. Die Voraussetzungen für die Konversion des nichtigen Kaufvertrages
in eine öffentliche letztwillige Verfügung sind damit erfüllt. Der Einwand
der Beklagten, eine letztwillige Verfügung könne nicht vorliegen, weil
ihr Hauptkriterium in der Einseitigkeit und Widerruflichkeit bestehe, die
umstrittene Urkunde aber einen Vertrag darstelle, ist nach dem Ausgeführten
nicht stichhaltig. Die Klägerin besitzt auf Grund einer gültigen Verfügung
von Todes wegen Anspruch auf Übertragung des Eigentums an der Liegenschaft
Feldstrasse 3 in Wil. Die Berufung erweist sich damit als unbegründet.