Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 92 I 480



92 I 480

78. Auszug aus dem Urteil vom 8. Juni 1966 i.S. Ackermann gegen Luzern,
Kanton und Regierungsrat. Regeste

    Befugnis einer Kantonsregierung, kantonale gesetzgeberische Erlasse
auf ihre Verfassungsmässigkeit zu prüfen:

    1.  Die Verfassung des Kantons Luzern (insbesondere § 53 Abs. 6)
überträgt dem Regierungsrat keine solche Befugnis (Erw. a).

    2.  Eine solche Befugnis lässt sich auch nicht aus einem allgemeinen
Grundsatz des schweizerischen Staatsrechtes ableiten (Erw. b).

Sachverhalt

    Dr. August Ackermann ist Eigentümer des Grundstücks Nr. 2033 des
Grundbuchs Luzern, linkes Ufer, mit einer Bodenfläche von 955,7 m2 und
einem Wohnhaus. Der bisherige Katasterwert betrug Fr. 64 000.--; er wurde
mit Wirkung ab 1. Januar 1965 auf Fr. 70 400.-- erhöht. Eine Einsprache
gegen die Erhöhung wurde vom Schatzungsamt des Kantons Luzern am 8. Juli
1965 abgewiesen. Dr. Ackermann erhob darauf Rekurs an den Regierungsrat
des Kantons Luzern mit der Begründung, die Erhöhung der Katasterschatzung
seines Grundeigentums sei verfassungswidrig, weil das Dekret des Grossen
Rates vom 21. Dezember 1964 entgegen § 41 der Kantonsverfassung (KV) in
Kraft gesetzt worden sei und weil für einen Erlass von dieser Tragweite
ein blosses Dekret "offenbar" nicht genüge (§ 11 KV).

    Der Regierungsrat ist auf den Rekurs nicht eingetreten (Entscheid
vom 11. November 1965). Diesen Entscheid ficht Dr. Ackermann mit
staatsrechtlicher Beschwerde an. Das Bundesgericht weist sie ab.

Auszug aus den Erwägungen:

                       Aus den Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- .....

Erwägung 2

    2.- Der Regierungsrat hat das Eintreten abgelehnt, weil er nicht
befugt sei, das Dekret des Grossen Rates auf seine Verfassungsmässigkeit
zu überprüfen.

    a) Der Beschwerdeführer will diese Pflicht des Regierungsrates aus §
53 Abs. 6 KV herleiten, wonach der Grosse Rat den Regierungsrat und das
Obergericht sowie deren Mitglieder wegen Verletzung der Verfassung und
der Gesetze zur Verantwortung ziehen kann. Daraus folgt eine gewisse
Unterordnung von Regierungsrat und Obergericht unter den Grossen Rat,
keineswegs aber umgekehrt eine Befugnis dieser Behörden, ihrerseits den
Grossen Rat zu überwachen. Ebensowenig ergibt sich eine solche Befugnis des
Regierungsrates aus § 66 Abs. 1 des Organisationsgesetzes vom 8. März 1899,
wonach er letztinstanzlich alle Verwaltungsstreitigkeiten beurteilt. Denn
dieser Generalklausel folgt in Absatz 2 eine umfangreiche Aufzählung, die
u.a. in lit. e auch "Steuern" und "Abgaben" erwähnt, gleichviel, ob diese
Streitsachen "die Pflicht oder das Mass der Besteuerung oder Belastung"
betreffen. Diese Vorschrift ist zwar durch das in den §§ 123 ff. StG
geordnete Rekursverfahren vor einer besonderen Rekurskommission (§ 69 StG)
im wesentlichen überholt worden, doch ist nach § 31 des Schatzungsgesetzes
immer noch der Regierungsrat "Rekursschatzungsbehörde". Als solche ist er
angerufen worden. Dass er in dieser Eigenschaft befugt sei, die Erlasse
des Grossen Rates auf ihre Übereinstimmung mit der Kantonsverfassung
zu überprüfen, folgt weder aus dem Organisationsgesetz noch aus dem
Schatzungsgesetz. Dass sich diese Befugnis aus anderen Erlassen des
kantonalen Rechts ergebe, behauptet auch der Beschwerdeführer nicht.

    b) Zu untersuchen ist weiter, ob die Befugnis des Regierungsrates,
das Dekret des Grossen Rates auf seine Verfassungsmässigkeit zu überprüfen,
aus einem allgemeinen Grundsatz des Rechtsstaates folge.

    Auf eidgenössischer Ebene gilt: Was das Volk ausdrücklich oder
stillschweigend auf Grund des fakultativen Referendums beschlossen hat,
ist mangels ausdrücklicher Bestimmung von keiner Behörde zu überprüfen
(vgl. Art. 113 Abs. 3 BV). Im Urteil der staatsrechtlichen Kammer des
Bundesgerichtes vom 9. September 1953 in Sachen Graber, Frey-Fürst
und Lütolf gegen Grossen Stadtrat von Luzern wird ausgeführt,
nach der Rechtsprechung und der herrschenden Lehre (BGE 48 I 596,
68 I 29; GIACOMETTI, Staatsrecht der Kantone, S. 63-65 und die dort
angeführte weitere Literatur) seien die kantonalen rechtsanwendenden
Behörden (Gerichte und Verwaltungsbehörden) allgemein an die formell
rechtsgültig zustandegekommenen kantonalen Gesetze als Akte einer
ihnen übergeordneten Gewalt gebunden. Dies gelte auch für den Kanton
Luzern. An dieser Betrachtungsweise ist hinsichtlich der Befugnis des
Regierungsrates uneingeschränkt festzuhalten, da die Regierung bei ihrer
starken Beteiligung an der Gesetzgebung andernfalls fast als Richter in
eigener Sache urteilen müsste. Das seither ergangene Schrifttum hat nichts
hervorgebracht, was die bisherige Auffassung als überholt erscheinen
liesse. Im Gegenteil bemerkte IM HOF (Die Entscheidungsbefugnisse des
basel-städtischen Verwaltungsgerichts, 1954, S. 110), die Verfassung
erlaube es der Verwaltung nicht, Gesetze unvollzogen zu lassen, die sie
für verfassungswidrig halte.

    Richtig ist allerdings, dass die kantonalen Gerichte und
Verwaltungsbehörden kantonale Gesetze auf ihre Übereinstimmung
mit dem Bundesrecht zu prüfen haben (vgl. BGE 82 I 219, Urteil der
staatsrechtlichen Kammer vom 7. Juli 1965 i.S. Hofmann gegen Regierungsrat
des Kantons Zug, Erw. 1). Dies ergibt sich jedoch aus der Natur des
Bundesstaates und dem Vorrang des Bundesrechtes vor dem kantonalen
(vgl. BRIDEL, Précis de droit constitutionnel et public suisse, II/21).

    Richtig ist auch, dass einzelne Gerichte verschiedener Kantone die
Befugnis für sich in Anspruch nehmen, die kantonalen Gesetze akzessorisch
aufihre Übereinstimmung mit der Kantonsverfassung zu prüfen. Dies trifft
beispielsweise für die Cour de justice civile des Kantons Genf (vgl. BGE
34 I 343; BIERT N., Die Prüfung der Verfassungsmässigkeit der Gesetze durch
den Richter, S. 60/1), für die Steuerrekurskommission des Kantons Solothurn
(vgl. BGE 90 I 239) und - mit Vorbehalten - für das Verwaltungsgericht
des Kantons Zürich (vgl. ZBl 1965 S. 335 und 1966 S. 176) zu. Dieselbe
Ansicht vertreten GYGI und STUCKI für die Gerichte des Kantons Bern
(Handkommentar zum bernischen Gesetz über die Verwaltungsrechtspflege,
1962, N. 6 zu Art. 16/II) und IMBODEN für die des Kantons Basel-Land
(Schweiz. Verwaltungsrechtsprechung, 2. Aufl. 1964, S.

    342, Bemerkung I). Mag sich die Lage somit hinsichtlich der Gerichte
wandeln, so ergibt sich bezüglich der Verwaltungsbehörden nichts
Abweichendes.

Erwägung 3

    3.- .....