Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 92 I 324



92 I 324

58. Urteil vom 22. September 1966 i.S. Stadt Zürich und Jakob Disch gegen
den Kleinen Rat des Kantons Graubünden. Regeste

    Ausschluss des Einspruchs gegen Liegenschaftskäufe, wenn
Rechtsgeschäfte, die zur Erfüllung öffentlicher Aufgaben abgeschlossen
werden, in Frage stehen (Art. 21 Abs. 1 lit. b EGG).

    1.  Berücksichtigung neuer Tatsachen (Erw. 2).

    2.  Kauf zur Erfüllung einer öffentlichen Aufgabe? (Erw. 3).

    a)  Die Errichtung von Klassenlagern ist im Kanton Zürich eine
öffentliche Aufgabe (Erw. 4).

    b)  Nicht nur das Gemeinwesen am Ort der gelegenen Sache kann sich
auf die Erfüllung einer öffentlichen Aufgabe berufen (Erw. 5a).

    c)  Wann dient ein Landkauf unmittelbar einem öffentlichen Zweck,
wann der Schaffung einer Landreserve? (Erw. 5c).

Sachverhalt

    A.- Am 18. Oktober 1963 verkaufte Jakob Disch, geb.  1897, seine
Liegenschaft Mataun am Stelserberg - 4,5 ha Wiesland mit Haus und Stall in
der Gemeinde Schiers - für Fr. 160'000.-- an die Stadt Zürich. Gegen diese
Veräusserung erhob das Departement des Innern und der Volkswirtschaft des
Kantons Graubünden am 1. November 1963 Einsprache im Sinne von Art. 19
des Bundesgesetzes vom 12. Juni 1951 über die Erhaltung des bäuerlichen
Grundbesitzes (EGG; AS 1952 S. 403 ff.). Die Käuferin und der Verkäufer
haben sich dem Einspruch widersetzt. Die Landwirtschaftskommission
bestätigte indessen den Einspruch; der Kleine Rat des Kantons Graubünden
wies eine dagegen erhobene Beschwerde am 13. Dezember 1965 ab.

    Der Kleine Rat führte in der Begründung aus, Art. 21 lit. b
EGG sei nicht anwendbar, weil die Stadt Zürich das Grundstück nicht
unmittelbar für die Verwirklichung eines öffentlichen Zweckes, sondern
bloss als Landreserve für die spätere Erstellung eines Schülerheimes
erwerben wolle. Hingegen verliere ein landwirtschaftliches Gewerbe seine
Existenzfähigkeit; denn das Talgut Luzein bilde für sich keine genügende
Existenzgrundlage. Übrigens wären die Voraussetzungen von Art. 19 lit.
c EGG auch dann erfüllt, wenn man annehme, die verkaufte Bergliegenschaft
bilde keine notwendige Einheit mit der Talliegenschaft Luzein; denn auch
kleine Heimwesen müssten den Schutz des EGG geniessen. Wichtige Gründe
für eine Ausnahmebewilligung seien nicht gegeben.

    B.- Die Stadt Zürich und der Verkäufer Jakob Disch fechten
den Beschluss des Kleinen Rates mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde
beim Bundesgericht an. Sie verlangen die Aufhebung des angefochtenen
Entscheides und damit des Einspruchs gegen den Kaufvertrag. Art. 21 Abs. 1
lit. b EGG ssei anwendbar. Die Durchführung von Klassenlagern sei eine
öffentliche Aufgabe im Sinne dieser Vorschrift. Damit sei jeder Einspruch
ausgeschlossen. Wohl falle Art. 21 EGG für die Schaffung einer allgemeinen
Landreserve nicht in Betracht; eine solche hätte für die Stadt Zürich
aber auch gar keinen Sinn. Richtig sei zwar, dass vom Landerwerb bis
zum Beginn der Bauarbetein eine gewisse Zeit verstreiche; dies sei aber
verständlich, da die Projektierungsarbeiten erst nach dem Landerwerb
begonnen werden könnten und das Raumprogramm verschiedenen Instanzen
unterbreitet werden müsse. Für die Realisierung des Bauvorhabens seien
daher drei Jahre erforderlich.

    Müsste die Streitsache nach Art. 19 EGG beurteilt werden, so läge
ebenfalls kein Einsprachegrund vor. Es stehe weder Spekulation noch
Güteraufkauf im Spiele. Die Liegenschaft Mataun bilde auch keine
Betriebseinheit mit dem Talgut in Luzein. Auf alle Fälle wäre der
Verkauf aus wichtigenGründen gerechtfertigt. Der Sohn Luzi Disch, der die
Liegenschaft im Tal erworben habe und das Heimwesen am Stelserberg nicht
übernehmen wolle, sollte die verlotterten Gebäude des Talgutes mit dem
Verkaufserlös in Stand stellen. Das Talgut biete ihm mit etwas Pachtland
eine ausreichende Existenz.

    C.- Der Kleine Rat des Kantons Graubünden beantragt, die Beschwerde
sei abzuweisen. Er verweist zunächst darauf, dass mit der Beschwerde an
das Bundesgericht neue Behauptungen aufgestellt und neue Beweismittel
eingereicht worden seien. Eine öffentliche Aufgabe im Sinne von
Art. 21 Abs. 1 lit. b EGG liege nicht vor, weil die Erstellung des
Schülerheimes nicht unmittelbar bevorstehe. Die Stadt Zürich besitze,
auch im Kanton Graubünden, genug Unterkunftsmöglichkeiten für Klassenlager
und überdies weitere Landreserven. Abgesehen davon handle es sich nicht
um eine öffentliche Aufgabe des Kantons Graubünden oder einer Bündner
Gemeinde. Aber selbst wenn das Vorliegen einer öffentlichen Aufgabe
bejaht würde, müsste die Beschwerde abgewiesen werden. In Stels sei
eine von Bund und Kanton unterstützte Melioration durchgeführt und damit
eine öffentliche Aufgabe erfüllt worden. Dabei sei auch der Zugang zur
verkauften Liegenschaft verbessert worden. Der bereits realisierten
öffentlichen Aufgabe gebühre der Vorrang gegenüber der öffentlichen
Aufgabe eines fremden Gemeinwesens.

    D.- Das Eidg. Justiz- und Polizeidepartement äussert sich mit Zuschrift
vom 20. Mai 1966 zur Streitsache, ohne einen Antrag zu stellen. Das
Departement hält dafür, dass sich auf Art. 21 Abs. 1 lit. b EGG nur
Gemeinwesen am Orte der gelegenen Sache berufen können. Die Einrichtung des
"Schulferienlagers" lasse noch mindestens drei Jahre auf sich warten und
hänge von einer Volksabstimmung ab, sei also unsicher. Dagegen schliesst
das Departement nicht aus, dass wichtige Gründe im Sinne von Art. 19
lit. c EGG gegeben seien.

Auszug aus den Erwägungen:

              Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- (Frage der Legitimation).

Erwägung 2

    2.- Zu prüfen ist, ob Bundesrecht verletzt sei (Art. 104 Abs. 1 OG).
Dabei kann das Bundesgericht von sich aus oder auf Begehren einer
Partei prüfen, ob der angefochtene Entscheid auf einer unrichtigen oder
unvollständigen Ermittlung des Sachverhalts beruhe (Art. 105 OG). Daraus
ergibt sich die Befugnis des Bundesgerichts, nicht nur die den kantonalen
Behörden vorgetragenen oder von ihnen ermittelten, sondern auch weitere
Tatsachen zu berücksichtigen (vgl. BGE 89 I 337). Es besteht daher kein
Hindernis, den ganzen mit der Beschwerde beigebrachten Prozessstoff
zu prüfen.

Erwägung 3

    3.- Das EGG stellt in seinem dritten Abschnitt (Art. 18 ff.) den
Kantonen das Einspruchsverfahren anheim; es bezeichnet aber in seinem
Artikel 21 die Rechtsgeschäfte, auf die das Einspruchsverfahren
nicht angewendet werden darf. Darunter fallen u.a. nach Abs. 1 lit. b
"Rechtsgeschäfte, für die das Enteignungsrecht gegeben ist oder die
zur Erfüllung öffentlicher, gemeinnütziger oder kultureller Aufgaben
abgeschlossen werden". Dass die Stadt Zürich in Graubünden Land für die
Errichtung von Klassenlagern enteignen könne, behauptet niemand. Umstritten
ist einzig, ob die Stadt das gekaufte Grundstück zur Erfüllung einer
öffentlichen Aufgabe benötige.

Erwägung 4

    4.- Die Klassenlager bezwecken im Kanton Zürich, ganze Klassen
der mittleren und oberen Volksschulstufe während einer oder zwei
Arbeitswochen in eine fremde Landesgegend zu verlegen. Es geht also nicht
um "Schulferienlager". Die Errichtung von Klassenlagern wird den Gemeinden
vom Kanton zwar nicht vorgeschrieben, aber empfohlen. Sie ist durch ein
Reglement des Erziehungsrates vom 5. Dezember 1961 geordnet und wird
gemäss Kantonsratsbeschluss vom 21. Januar 1963 vom Staat durch Beiträge
unterstützt. Richtig ist, dass die Beiträge des Kantons nur versuchsweise
ausgerichtet werden. In der Weisung vom 26. Juli 1962, mit welcher der
Regierungsrat dem Kantonsrat die Gewährung eines jährlichen Kredites für
diesen Zweck empfohlen hatte, heisst es aber, es werde bei weiterhin gutem
Ergebnis "eine gesetzliche Verankerung im Schulleistungsgesetz in Betracht
zu ziehen sein". Es handelt sich bei der Errichtung von Klassenlagern im
Kanton Zürich somit um eine öffentliche Aufgabe im Sinne von Art. 21 Abs. 1
lit. b EGG, zu deren Verwirklichung der Grundstückkauf in Mataun diente. Da
es von Bundesrechts wegen unerheblich ist, ob sich die Stadt Zürich durch
einen anderen Grundstückkauf hätte behelfen können, ist die Beschwerde
gutzuheissen und der Einspruch gegen den Kaufvertrag zu beseitigen.

Erwägung 5

    5.- Was der Kleine Ratdagegen vorbringt, dringt nichtdurch: a) Der
Kleine Rat macht in seiner Vernehmlassung geltend, nur das Gemeinwesen
am Ort der gelegenen Sache - vorliegend also die Gemeinde Schiers
oder der Kanton Graubünden - könne sich auf Art. 21 Abs. 1 lit. b EGG
berufen. Allein für diese einschränkende Auslegung gibt der Wortlaut des
Gesetzes keine Handhabe, auch nicht der vom Kleinen Rat vergleichsweise
herangezogene Art. 10 lit. b EGG. Vom Standpunkt des Bundesrechtes aus
ist es belanglos, ob das Gemeinwesen, in dessen Herrschaftsbereich das
Grundstück liegt, oder ein anderes Gemeinwesen in der Schweiz mit dem
Erwerb des Grundstückes eine öffentliche Aufgabe erfüllen will. Der Hinweis
auf das Enteignungsrecht, das sowohl in Art. 21 Abs. 1 lit. b als auch in
Art. 10 lit. b EGG erwähnt ist, nützt dem Kleinen Rate nichts; denn den
Fällen, in denen ein Enteignungsrecht gegeben ist, ist der Erwerb eines
Grundstückes zur Erfüllung einer beliebigen öffentlichen, gemeinnützigen
oder kulturellen Aufgabe gleichgestellt. Nun besitzen Kanton und Gemeinden
zur Verwirklichung öffentlicher Aufgaben im eigenen Herrschaftsbereich in
aller Regel das Enteignungsrecht und sind insoweit unbestrittenermassen vom
Einspruch gegen Liegenschaftskäufe ausgenommen. Die Gleichstellung deutet
somit gerade darauf hin, dass Geschäfte wie das vorliegende ebenfalls
vom Einspruchsverfahren befreit sein sollen.

    b) Der Kleine Rat macht in seiner Vernehmlassung weiter geltend, die
Stadt Zürich beabsichtige überhaupt nicht ernsthaft, ein Schülerheim zu
erstellen. So werde im Beschluss des Stadtrates vom 23. August 1963, in
dem die verschiedenen Projekte, namentlich auch jene im Kanton Graubünden,
aufgezählt seien, das Vorhaben am Stelserberg nicht erwähnt. Nun konnte
aber der Unterhändler der Stadt das Grundstück erst am 18. Oktober 1963
kaufen. Das erklärt, warum im Stadtratsbeschluss vom 23. August 1963 noch
nicht die Rede davon war.

    c) Der Kleine Rat bringt zudem vor, die Erstellung des Schülerheimes
stehe noch nicht unmittelbar bevor. Bei dieser Sachlage sei die
Einsprache zu Recht erfolgt, wie sich dies aus BGE 83 I 71 ergebe. In
diesem Entscheid ist ausgeführt, Art. 21 Abs. 1 lit. b EGG sei unanwendbar,
wenn "der Kauf im Hinblick auf allfällige, zur Zeit des Abschlusses noch
ganz unbestimmte öffentliche Bedürfnisse, zur Schaffung einer allgemeinen
Landreserve vorgenommen wird". Dabei wird besonders hervorgehoben, es
fehle "an konkreten Angaben, denen zu entnehmen wäre, dass der umstrittene
Landkauf unmittelbar einem öffentlichen Zweck zu dienen habe". In diesem
Entscheid wird zudem auf BGE 80 I 413 Erw. 4 verwiesen. Dort ist dargelegt,
"unmittelbar" für einen öffentlichen Zweck bestimmt wäre eine Liegenschaft,
"wenn der Erwerber auf dem Grundstück ein Armen- oder Krankenhaus erstellen
wollte oder wenn eine gemeinnützige Anstalt, z.B. eine Erziehungs- oder
Strafanstalt, das Land benötigte zur Erweiterung ihres landwirtschaftlichen
Betriebes".

    Betrachtet man die hier umstrittene Handänderung unter diesem
Gesichtswinkel, so kann die unmittelbar bevorstehende Verwendung des
Grundstücks für eine öffentliche Aufgabe nicht verneint werden. Auf
dem Fragebogen hat der vom Finanzvorstand der Stadt Zürich beauftragte
Unterhändler als Zweck des Erwerbes folgendes angegeben:

    "Landreserve für die spätere Erstellung eines Schülerheimes; analog
dem vor der Realisierung stehenden Projekt in Valbella/Lenzerheide."

    Der Ausdruck Landreserve war dabei unglücklich gewählt und auch der
Hinweis auf die "spätere" Erstellung eines Schülerheimes mochte zunächst
Zweifel bewirken. Allein diese sind durch die folgenden Erklärungen der
Stadt Zürich beseitigt worden. Danach will sie mit der Projektierung sofort
beginnen, sobald sie Eigentümerin des gekauften Grundstückes sein wird.
Richtig ist, dass das endgültige Projekt durch drei städtische Behörden
genehmigt und der Kredit dafür durch Volksabstimmung gewährt werden muss.
Allein das schliesst nicht aus, dass es sich um ein konkretes Vorhaben
handelt. Es wäre einem Gemeinwesen nicht zumutbar, die grossen Kosten
der Projektierung und des Genehmigungsverfahrens aufzuwenden, solange
der Eigentumserwerb nicht feststeht. Der Umstand, dass der Ausgang der
Volksabstimmung noch offen ist, schliesst nicht aus, dass das umstrittene
Rechtsgeschäft zur Erfüllung einer öffentlichen Aufgabe abgeschlossen wird.

    d) Auch der Umstand, dass das Grundstück im Zusammenhang mit einer
Bodenverbesserung und Güterzusammenlegung durch eine neue Strasse
erschlossen worden ist, kann die Anwendung von Art. 21 Abs. 1 lit. b
EGG nicht hindern. Es kann sich höchstens fragen, ob ein Teil der dafür
ausgerichteten Beiträge des Bundes und des Kantons zurückzuerstatten
sei (vgl. Art. 85 Abs. 2 des BG vom 3. Oktober 1951 über die Förderung
der Landwirtschaft und die Erhaltung des Bauernstandes, AS 1953 S. 1096;
Art. 12 des Meliorationsgesetzes des Kantons Graubünden vom 7. April 1957,
Bündner Rechtsbuch S. 1579). Diese Frage steht hier nicht zur Beurteilung.

Entscheid:

Demnach erkennt das Bundesgericht:

    Die Beschwerde wird gutgeheissen; der angefochtene Entscheid des
Kleinen Rates des Kantons Graubünden vom 13. Dezember 1965 und damit der
Einspruch gegen den Kaufvertrag werden aufgehoben.