Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 92 I 185



92 I 185

31. Auszug aus dem Urteil vom 26. Oktober 1966 i.S. F. gegen B. und
Rekurskommission des Obergerichts des Kantons Thurgau. Regeste

    Anspruch auf rechtliches Gehör im Zivil- und Strafprozess.

    Die Prozessparteien haben schon unmittelbar auf Grund von Art. 4 BV
Anspruch auf Einsicht in ein vom Richter eingeholtes Gutachten. Anwendung
dieses Grundsatzes auf das psychiatrische Gutachten über den Geisteszustand
des Beschuldigten, das die zweite Instanz in einem im Zivilprozess
durchgeführten Ehrverletzungsprozess von Amtes wegen einholte und auf
Grund dessen sie an Stelle der von der ersten Instanz ausgefällten Strafe
die Versorgung nach Art. 15 StGB anordnete.

Sachverhalt

                       Aus dem Tatbestand:

    F. wurde von der Bezirksgerichtskommission Münchwilen im Zivilprozess
der üblen Nachrede schuldig erklärt und zu einer bedingten Gefängnisstrafe
von 14 Tagen sowie zur Bezahlung einer Genugtuung von Fr. 200.--
an den Kläger verurteilt. Er appellierte hiegegen mit dem Antrag
auf Freisprechung. Die Rekurskommission des Obergerichts des Kantons
Thurgau hatte Zweifel an der Zurechnungsfähigkeit des F. und ordnete die
Einholung eines psychiatrischen Gutachtens über seinen Geisteszustand
an, beschloss dann aber im Hinblick darauf, dass der als Gutachter in
Aussicht genommene Direktor der Heil- und Pflegeanstalt Münsterlingen
bereits in einer vom Bezirksamt Weinfelden geführten Strafuntersuchung
gegen F. mit dessen Begutachtung beauftragt worden war, dieses Gutachten
abzuwarten und beizuziehen. Das am 2. Mai 1966 erstattete Gutachten kam
zum Schluss, dass F. an einer Geisteskrankheit (paranoide Schizophrenie)
leide, in bezug auf die ihm vorgeworfenen Straftaten unzurechnungsfähig
im Sinne von Art. 10 StGB sei und eine derartige Gefahr für seine
Mitmenschen bilde, dass Massnahmen nach Art. 14 und 15 StGB anzuordnen
seien. Nachdem die Rekurskommission dieses Gutachten erhalten hatte,
fällte sie am 1. Juni 1966 ohne weitere Verhandlung ein Urteil, durch das
sie F. für die begangenen Ehrverletzungen wegen Unzurechnungsfähigkeit
als nicht strafbar erklärte, ihn im Sinne von Art. 15 StGB in eine Heil-
und Pflegeanstalt zur Behandlung bzw. Versorgung einwies und die dem
Kläger von der Vorinstanz zugesprochene Genugtuungssumme aufhob.

    In der gegen diesen Entscheid erhobenen staatsrechtlichen Beschwerde
wirft F. dem Obergericht unter anderm Verweigerung des rechtlichen
Gehörs vor.

    Das Bundesgericht heisst die Beschwerde aus diesem Grunde gut.

Auszug aus den Erwägungen:

                       Aus den Erwägungen:

    Als Verweigerung des rechtlichen Gehörs rügt der Beschwerdeführer,
dass die Rekurskommission auf das psychiatrische Gutachten abgestellt hat,
ohne ihm Gelegenheit zur Stellungnahme zu diesem Gutachten oder auch nur
Kenntnis von dessen Inhalt zu geben.

    Der Umfang des Anspruchs auf rechtliches Gehör wird zunächst
grundsätzlich durch die kantonalen Verfahrensvorschriften umschrieben. Wo
dieser kantonale Rechtsschutz sich als ungenügend erweist, greifen
die unmittelbar aus Art. 4 BV folgenden, also bundesrechtlichen
Verfahrensregeln zur Sicherung des rechtlichen Gehörs Platz, die dem Bürger
in allen Streitsachen ein bestimmtes Mindestmass an Verteidigungsrechten
gewährleisten (BGE 87 I 339 Erw. 4 a mit Verweisungen).

    Nach § 253 thurg. ZPO ist ein vom Gericht eingeholtes Gutachten
sofort den Parteien zur Kenntnis zu bringen unter Ansetzung einer Frist,
innert welcher sie eine allfällige Ergänzung des Gutachtens oder die
Bestellung anderer Sachverständiger verlangen können. Diese Vorschrift,
die auch für den Beizug eines von einer andern Behörde eingeholten,
den Parteien noch nicht eröffneten Gutachtens gelten muss, ist von der
Rekurskommission offensichtlich missachtet worden. Der Beschwerdeführer
beruft sich indes nicht auf § 253 ZPO, sondern auf Art. 4 BV, macht also
nur eine Verletzung des unmittelbar aus Art. 4 BV folgenden Anspruchs
auf rechtliches Gehör geltend. Diese Rüge ist begründet.

    Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichts gilt der Anspruch
der Parteien auf rechtliches Gehör im Zivil- und Strafprozess allgemein und
unbedingt (BGE 43 I 165, 46 I 327; FAVRE, Droit constitutionnel suisse S.
251). Die Parteien haben daher Anspruch darauf, an den Beweiserhebungen
(Zeugeneinvernahmen, Augenschein usw.) teilzunehmen (BGE 91 I 92 Erw. 2)
und in ein vom Gericht eingeholtes oder beigezogenes Gutachten Einsicht zu
nehmen (BGE 34 I 13). Indem die Rekurskommission das Gutachten beizog und
darauf abstellte, ohne dem Beschwerdeführer von seinem Inhalt Kenntnis zu
geben, hat sie ihm somit das rechtliche Gehör verweigert. Sie behauptet
in der Beschwerdeantwort freilich, sie sei davon ausgegangen, er sei "vom
Ergebnis der nervenärztlichen Untersuchung im wesentlichen unterrichtet"
gewesen, vermag aber nicht anzugeben, wann und durch wen er vom Inhalt
des Gutachtens oder wenigstens von den Schlussfolgerungen und Anträgen
des Experten Kenntnis erhalten hätte. Diese angebliche Orientierung des
Beschwerdeführers vermag daher die nach Art. 4 BV gebotene Mitteilung
durch den Richter im Prozess nicht zu ersetzen. Ebensowenig durfte
diese Mitteilung im Hinblick auf den Geisteszustand des Beschwerdeführers
unterbleiben. Wenn die Rekurskommission der Auffassung gewesen sein sollte,
der vor ihr noch nicht durch einen Anwalt vertretene Beschwerdeführer sei
wegen geistiger Störungen nicht in der Lage, zum Gutachten sachgemäss
Stellung zu nehmen, so hätte sie ihn entweder zur Bestellung eines
Anwalts auffordern (§ 26 ZPO) oder dafür sorgen sollen, dass ihm die
Vormundschaftsbehörde zur gehörigen Wahrung seiner Rechte im Prozess einen
Vertreter bestelle (vgl. TINNER, Das rechtliche Gehör, ZSR 1964 II S.
344 Anm. 54).

    Dass die Rekurskommission dem Beschwerdeführer keine Gelegenheit
zur Stellungnahme zum Gutachten gab, stellt übrigens nicht nur deshalb,
weil die Prozessparteien Anspruch auf volle Akteneinsicht haben, sondern
noch aus einem weiteren Grunde eine Verweigerung des rechtlichen Gehörs
dar. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichts darf die durch
ein Zivil- oder Strafurteil bestimmte Rechtsstellung einer Partei zu
ihrem Nachteil nicht abgeändert werden, ohne dass ihr Gelegenheit geboten
wird, sich zu den Gründen zu äussern, die zu einer solchen Änderung
führen könnten (BGE 85 I 75 und 202 Erw. 2 und dort angeführte frühere
Urteile). Die Rekurskommission hat zwar die dem Beschwerdeführer von der
ersten Instanz auferlegte Strafe und Genugtuungssumme aufgehoben, jedoch
das erstinstanzliche Urteil insofern zu seinem Nachteil abgeändert, als
sie die sehr schwer wiegende Massnahme der Versorgung nach Art. 15 StGB
anordnete. Dies durfte nicht geschehen, ohne dass dem Beschwerdeführer
Gelegenheit gegeben wurde, sich zu den für diese Änderung sprechenden
Gründen zu äussern. Diese Gründe aber waren, da die Frage der Versorgung
bisher im Prozess von keiner Seite aufgeworfen worden war, ausschliesslich
aus dem von der Rekurskommission von Amtes wegen beigezogenen Gutachten
zu ersehen, weshalb dessen Mitteilung an den Beschwerdeführer (oder einen
Vertreter desselben) unumgänglich war.

    Der Anspruch auf rechtliches Gehör ist nach feststehender
Rechtsprechung formeller Natur, und es hat seine Missachtung die Aufhebung
des angefochtenen Entscheids auch dann zur Folge, wenn der Beschwerdeführer
ein materielles Interesse hieran nicht nachzuweisen vermag (BGE 89 I 158
mit Verweisungen). Der Einwand der Rekurskommission, dass die Ausführungen
des Beschwerdeführers zur Meinung des Psychiaters "rechtlich kaum von
Bedeutung gewesen" wären, ist daher unbehelflich. Übrigens hätte der
Beschwerdeführer bei gehöriger Mitteilung des Gutachtens nicht nur die
Voraussetzungen für Massnahmen nach Art. 14 oder 15 StGB bestreiten oder
eine Oberexpertise verlangen, sondern auch seine Appellation zurückziehen
können mit der Wirkung, dass das erstinstanzliche Urteil rechtskräftig
geworden wäre und dass über die Frage seiner Versorgung in dem in
Weinfelden anhängigen Strafverfahren oder in einem Administrativverfahren
hätte entschieden werden müssen.