Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 92 IV 81



92 IV 81

21. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 13. Mai 1966
i.S. Lustenberger gegen Staatsanwaltschaft des Kantons Luzern. Regeste

    Art. 89, 91 und 93 Abs. 2 StGB.

    1.  Massgebend für die Frage, ob Jugend- oder Erwachsenenrecht
anzuwenden sei, ist das Alter zur Zeit der Tat, nicht das Alter zur Zeit
der Aburteilung.

    2.  Hat ein Jugendlicher sich teils vor und teils nach Erreichung
des achtzehnten Altersjahres strafbar gemacht, so ist ein einheitliches,
dem Zustand des Fehlbaren angepasstes Urteil zu fällen (Erw. 1).

    3.  Bei fortgeschrittener Fehlentwicklung des Jugendlichen kommt in
erster Linie die Einweisung in eine Erziehungsanstalt in Betracht.

    4.  Der Eingewiesene soll sich der Anstaltserziehung nicht durch
schlechte Führung entziehen und die Familienversorgung erzwingen können,
wenn er diese für vorteilhafter hält (Erw. 2).

Sachverhalt

    A.- Der am 19. November 1946 geborene Lustenberger entwendete im
Juli 1964 in Reinach (Aargau), wo er eine Malerlehre besuchte, wiederholt
Motorfahrräder, um in die Nachbargemeinden oder heim nach Beromünster zu
fahren. Auch führte er dabei öfters Kameraden auf dem Gepäckträger mit.

    Am 29. Juli 1964 erklärte Lustenberger dem Polizisten von Reinach, er
habe von einem Unbekannten ein Motorfahrrad gekauft, das, wie sich nunmehr
herausgestellt habe, offenbar gestohlen worden sei. Er sagte dies in der
Absicht, den angeblich bezahlten Kaufpreis von Fr. 100.-- zurückzuerhalten.

    Am 14. und 19. November 1964 entwendete Lustenberger in Grub und
Menziken weitere Motorfahrräder zu Fahrten nach Beromünster, wobei er
jeweils einen Kameraden auf dem Gepäckträger mitführte. Ein Motorfahrrad
verbrachte er in der Folge nach Gunzwil, um den Motor in ein anderes
Fahrzeug einbauen zu lassen.

    Vor und nach dem 19. November 1964 fuhr Lustenberger zudem gelegentlich
mit dem Motorrad seines Vaters, ohne den erforderlichen Führerausweis
zu besitzen.

    B.- Das Obergericht des Kantons Luzern sprach Lustenberger am
11. November 1965 des Diebstahls, des vollendeten Betrugsversuches,
der wiederholten Entwendung von Motorfahrrädern zum Gebrauch, des
wiederholten unzulässigen Mitführens von Personen sowie des Fahrens ohne
Führerausweis schuldig und wies ihn gestützt auf Art. 91 Ziff. 1 StGB in
eine Erziehungsanstalt für Jugendliche ein.

    C.- Lustenberger führt gegen die Anordnung der Massnahme
Nichtigkeitsbeschwerde. Er macht geltend, es treffe wohl zu, dass er
den grössten Teil seiner Straftaten vor Vollendung des achtzehnten
Altersjahres begangen habe; das Obergericht hätte jedoch gleichwohl
Erwachsenenstrafrecht anwenden sollen, da er erst nach Erreichung des
achtzehnten Altersjahres abgeurteilt worden sei. Eventuell sei die
Vorinstanz anzuweisen, ihn zur Nacherziehung einer vertrauenswürdigen
Familie zu übergeben.

Auszug aus den Erwägungen:

Aus den Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- Begeht ein Jugendlicher, der das vierzehnte, aber nicht das
achtzehnte Altersjahr zurückgelegt hat, eine strafbare Handlung, so finden
gemäss Art. 89 StGB die Bestimmungen des Jugendstrafrechts Anwendung.
Massgebend ist demnach das Alter zur Zeit der Tat, nicht das Alter
zur Zeit der Aburteilung, wie der Beschwerdeführer anzunehmen scheint.
Erwachsenenstrafrecht ist nur dann anwendbar, wenn der Jugendliche sich
während des Aufenthaltes in der Erziehungsanstalt als unverbesserlich
erweist oder die Erziehung anderer gefährdet und er zudem das achtzehnte
Altersjahr bereits erreicht hat; unter diesen Voraussetzungen kann er
in eine Strafanstalt für Erwachsene versetzt werden (Art. 93 Abs. 2
StGB). Auch daraus erhellt, dass es grundsätzlich auf den Zeitpunkt der
Tat ankommt.

    Welches Recht, Jugend- oder Erwachsenenrecht, anzuwenden ist, wenn
der Täter sich teils vor und teils nach Erreichung des achtzehnten
Altersjahres strafbar macht, sagt das Gesetz nicht. Der Kassationshof
hatte diese Frage noch nie zu entscheiden, und die Anklagekammer
des Bundesgerichts brauchte sich damit bloss vorfrageweise unter dem
Gesichtspunkt der örtlichen Zuständigkeit zu befassen (BGE 74 IV 184; 85
IV 249, 254; 86 IV 197). Die kantonalen Gerichte pflegen nach SCHWANDER
(Das Schweizerische Strafgesetzbuch, 2. Auflage, S. 289) jenes Recht
anzuwenden, unter dessen Herrschaft der Täter zur Zeit gestanden hat,
als er die schwereren Taten verübte. Bei gleicher Schwere halten sie
sich an das Recht für Erwachsene. Diese Rechtsprechung beruht wohl
auf einem einfachen Unterscheidungsmerkmal, trägt den Grundsätzen des
Jugendstrafrechts jedoch zu wenig Rechnung. Ihre Berechtigung wird von
SCHWANDER denn auch angezweifelt. Das Strafrecht geht von der Tatsache aus,
dass der jugendliche Täter einerseits noch in der Entwicklung begriffen ist
und der Erziehung sowie der charakterlichen Festigung bedarf, anderseits
durch erzieherische Massnahmen meistens aber noch mit gutem Erfolg
beeinflusst werden kann. Es soll demgemäss dem Minderjährigen gegenüber
ausschliesslich erziehend wirken, ihn sittlich und charakterlich festigen
helfen. Diese Wirkung hängt nicht vom Zeitpunkt der schwersten Tat, sondern
vom Zustand, der Weiterentwicklung und den erzieherischen Bedürfnissen des
Jugendlichen ab. Aufgabe des Richters ist es daher, ein Urteil zu finden,
das eine dem Zustand des Fehlbaren angepasste Behandlung ermöglicht. Dabei
muss der Richter sich zunächst darüber schlüssig werden, welche Strafe oder
Massnahme für die vor dem achtzehnten Altersjahr begangenen Verfehlungen
und welche Sanktion für die nachher verübten Straftaten am Platze ist.

    Sind auf die Verfehlungen beider Altersstufen Strafen auszusprechen,
z.B. weil eine Erziehungsmassnahme als unnötig oder zum vornherein als
zwecklos erscheint, so ist in Anlehnung an Art. 68 StBG eine einheitliche
Strafe zu bestimmen. Beim Zusammentreffen von zwei Massnahmen ist auf
diejenige zu erkennen, die dringlicher und der Entwicklung des Verurteilten
angepasst ist. Das braucht nicht notwendig die Massnahme der höhern
Altersstufe zu sein. Ergibt sich nach dem Jugendrecht eine Massnahme,
nach dem Erwachsenenrecht dagegen eine Strafe, so sind beide Sanktionen zu
verhängen. Ob und inwieweit auch die Strafe zu vollstrecken sei, hat die
zuständige Behörde jedoch erst zu entscheiden, wenn die Massnahme vollzogen
ist; erst dann kann sie beurteilen, ob die Massnahme Erfolg gehabt hat, wie
hart sie für den Verurteilten war und ob der Erfolg allenfalls durch den
Vollzug der Strafe wieder in Frage gestellt würde (vgl. BGE 78 IV 3 ff.).

    Diese Möglichkeiten erscheinen umso notwendiger, als die heutige
Jugend körperlich zwar früh reif ist, in ihrer geistigen und sittlichen
Entwicklung zum Teil aber noch lange zurückbleibt. Dazu kommt, dass das
geltende Recht zu wenig abgestuft ist und dem Richter zu enge Grenzen
zieht, um der grossen Verschiedenheit der Fälle genügen zu können. Es
soll denn auch stark gelockert und ausgebaut werden, insbesondere dahin,
dass die obere Altersgrenze bei den Jugendlichen um ein Jahr erhöht und
das Übergangsalter erheblich erweitert wird (s. Botschaft des Bundesrates
über eine Teilrevision des Strafgesetzbuches vom 1. März 1965, BBl 1965
I 586 ff.).

Erwägung 2

    2.- Der Beschwerdeführer bestreitet mit Recht nicht, dass er
der Nacherziehung im Sinne von Art. 91 StGB bedarf. Er macht bloss
geltend, dass er nicht in eine Erziehungsanstalt gehöre, sondern einer
vertrauenswürdigen Familie zu überlassen sei. Die Einweisung in eine
Erziehungsanstalt hält er für eine ungerechtfertigte und verfehlte
Massnahme, die erfahrungsgemäss keine Gewähr für eine erfolgreiche
Nacherziehung biete.

    Welche der in Art. 91 StGB vorgesehenen Massnahmen im Einzelfall
den Vorrang verdient, entscheidet die zuständige Behörde indes nach
ihrem Ermessen, in das der Kassationshof auf Nichtigkeitsbeschwerde hin
nur einzugreifen hat, wenn sie es überschreitet (BGE 80 IV 150, 88 IV
98). Davon kann hier nicht die Rede sein. Dass die Anstaltserziehung
erfahrungsgemäss schwer zu rechtfertigen sei, ist nicht zu ersehen und
wäre überdies unbeachtlich. Das Gesetz hat sich nun einmal für diese
Massnahme entschieden, die zuständige Behörde sie daher zu verhängen,
wenn die gesetzlichen Voraussetzungen gegeben sind. Das Gesetz nennt
die Anstaltserziehung sogar an erster Stelle. Der Grund dafür liegt,
wie in BGE 88 IV 98 ausgeführt wurde, offensichtlich darin, dass
eine bereits fortgeschrittene Fehlentwicklung Anforderungen an die
erzieherische Fähigkeit stellt,denen dieFamilie häufig nicht gewachsen ist,
eineBesserung in der Führung und Betreuung des Jugendlichen folglich nur
noch zu erwarten ist, wenn er in eine Anstalt mit umfassender Aufsicht
und Disziplin eingewiesen wird.

    Unbehelflich ist auch der Hinweis darauf, dass Lustenberger sich
in der Anstalt einsichtslos und widerspenstig benimmt. Das spricht wohl
dafür, dass er schwer zu beeinflussen ist, heisst aber keineswegs, er sei
deswegen einer Familie zur Nacherziehung zu überlassen. Für Jugendliche,
die in der Anstalt disziplinarische Schwierigkeiten bereiten und sich
als unverbesserlich erweisen, sieht das Gesetz gegenteils die Versetzung
in eine Strafanstalt vor, wenn sie, wie Lustenberger, das achtzehnte
Altersjahr bereits erreicht haben (Art. 93 Abs. 2 StGB). Mit Recht, denn
der Eingewiesene soll sich der Anstaltserziehung nicht durch schlechte
Führung entziehen und die Familienversorgung erzwingen können, wenn er
diese für vorteilhafter hält.