Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 92 IV 29



92 IV 29

9. Urteil des Kassationshofes vom 22. April 1966 i.S. Rhein gegen
Staatsanwaltschaft des Kantons Nidwalden. Regeste

    Art. 39 SVG, Art. 28 VRV, Zeichengebung.

    Die Verkehrsteilnehmer dürfen sich auf das Zeichen, durch das ein
Fahrzeugführer eine Richtungsänderung ankündigt, solange verlassen,
als nicht nach den Umständen an der Zuverlässigkeit des Zeichens zu
zweifeln ist.

Sachverhalt

    A.- Rhein fuhr am Vormittag des 24. März 1965 mit einem Opel-Kombiwagen
von Rotzloch kommend auf der Ausserfeldstrasse, die rechtwinklig mit der
Kantonsstrasse Stansstad/Stans zusammentrifft und vor der Einmündung durch
das Signal Nr. 116 als Nebenstrasse ohne Vortritt gekennzeichnet war. Als
sich Rhein der Verzweigung näherte, wo er nach links Richtung Stansstad in
die Kantonsstrasse einbiegen wollte, erblickte er auf dieser in rund 100
m Entfernung einen Opel-Kapitän, der mit einer Geschwindigkeit von ca. 50
km/Std von Stansstad her kam und das rechte Blinklicht eingeschaltet
hatte. Rhein schloss aus dem Blinkzeichen, das herannahende Fahrzeug
werde in die Ausserfeldstrasse abbiegen, und fuhr, bevor dieses die
Verzweigung erreichte, in die Kantonsstrasse ein. Da Tognola, der Führer
des Opel-Kapitän, den Richtungsanzeiger aus Versehen nicht zurückgestellt
hatte, kam es in der Einmündung zu einem Zusammenstoss mit Sachschaden.

    B.- Die Justizkommission des Kantons Unterwalden nid dem Wald büsste
Rhein wegen Missachtung des Vortrittsrechts mit Fr. 40.- und Tognola wegen
Nichteinstellens der Zeichengebung (Art. 28 Abs. 2 VRV) mit Fr. 30.-.

    Gegen die Bussenverfügung rekurrierte Rhein an das Kantonsgericht des
Kantons Nidwalden. Dieses erklärte ihn am 3. November 1965 der Übertretung
von Art. 26 Abs. 2 und Art. 36 Abs. 2 SVG schuldig und bestätigte die
Busse von Fr. 40.-.

    C.- Rhein führt gegen das Urteil des Kantonsgerichts
Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag, er sei freizusprechen.

Auszug aus den Erwägungen:

              Der Kassationshof zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Nach Art. 39 Abs. 1 SVG muss der Fahrzeugführer jede
Richtungsänderung, z.B. das Einspuren, Wechseln des Fahrstreifens,
Abbiegen, mit dem Richtungsanzeiger oder durch deutliche Handzeichen
rechtzeitig bekanntgeben, so auch das Abbiegen nach rechts (Art. 28 Abs. 1
VRV) und das Anhalten am Strassenrand (Art. 39 Abs. 1 lit. c SVG). Er hat
das Zeichen nicht nur frühzeitig (vgl. BGE 85 IV 51) zu geben, sondern
er ist, wie Art. 28 Abs. 2 VRV ausdrücklich bestimmt, auch verpflichtet,
den Richtungsanzeiger nach erfolgter Richtungsänderung unverzüglich wieder
zurückzustellen. Nach dieser Ordnung dürfen andere Verkehrsteilnehmer ohne
gegenteilige Anhaltspunkte darauf vertrauen, dass der Fahrzeugführer, der
kein Zeichen gibt, seine Fahrrichtung nicht ändert oder dass er, wenn er
ein Zeichen gibt, die angekündigte Richtungsänderung tatsächlich vornehmen
wird. Die Bekanntgabe der Absicht, aus einer Hauptstrasse nach rechts in
eine Strasse ohne Vortritt abzubiegen, hat daher für den Wartepflichtigen
in der Nebenstrasse grundsätzlich die Bedeutung, dass der Abbiegende ihm
gegenüber auf sein Vortrittsrecht verzichte.

Erwägung 2

    2.- Aus dem eingeschalteten rechten Blinklicht, mit dem Tognola auf der
Hauptstrasse von Stansstad Richtung Stans fuhr, war zu schliessen, er wolle
entweder am rechten Strassenrand anhalten oder in der nächsten Verzweigung,
der Einmündung der Ausserfeldstrasse, nach rechts abschwenken. Mit der
Möglichkeit, dass er erst nach dieser Verzweigung am rechten Strassenrand
anhalten könnte, musste dagegen nicht gerechnet werden. Eine solche Absicht
hätte nicht schon auf eine Entfernung von über 100 m angezeigt werden
müssen, und vor allem hätte dann das Zeichen nicht so frühzeitig vor der
Verzweigung gegeben werden dürfen, dass es allfällige Wartepflichtige
zur Annahme verleiten konnte, der Vortrittsberechtigte wolle in die
Nebenstrasse abbiegen und gebe dadurch die Einfahrt in die Hauptstrasse
frei. Es frägt sich einzig, ob sich der wartepflichtige Beschwerdeführer
auf das Blinkzeichen verlassen durfte oder ob Umstände vorlagen, die es
unsicher erscheinen liessen, ob Tognola in der Verzweigung nach rechts
abbiegen werde.

    Ein solcher Umstand lag jedenfalls nicht darin, dass Richtungsanzeiger
hin und wieder versehentlich gestellt oder nach einer Richtungsänderung
nicht sofort zurückgestellt werden. Diese Erfahrungstatsache darf nicht zu
einer Einschränkung des Grundsatzes führen, dass der Fahrzeugführer nicht
ohne weiteres auf ein pflichtwidriges Verhalten anderer Fahrzeugführer
gefasst zu sein braucht, sondern ist nur ein Grund zu vermehrter
Vorsicht und Aufmerksamkeit. Auch die örtlichen Verhältnisse gaben zu
keinem Zweifel Anlass, wie es an Stellen zutrifft, wo zwei oder mehrere
Strassen nahe beieinander in die Hauptstrasse einmünden; nach den Akten
war die Ausserfeldstrasse die einzige Querstrasse, in die ein Abbiegen
nach rechts in Frage kam.

    Die Vorinstanz wirft dem Beschwerdeführer namentlich vor, er hätte
als Ortskundiger aus der Geschwindigkeit von 50 km/Std, mit der Tognola,
ohne sie herabzusetzen, zugefahren sei, erkennen können, dass mit dieser
Geschwindigkeit die Biegung in die rechtwinklig einmündende Nebenstrasse
nicht hätte befahren werden können und dass deswegen der Richtungsanzeiger
irrtümlich gestellt worden sein müsse. Als der Beschwerdeführer das
vortrittsberechtigte Fahrzeug erstmals sah, war es aber noch rund 100 m
entfernt, und innerhalb dieser Strecke hätte Tognola die Geschwindigkeit
ohne weiteres im erforderlichen Masse verlangsamen können, um anstandslos
in die Nebenstrasse zu gelangen. Der Beschwerdeführer musste also an
der Zuverlässigkeit des Blinklichtes nicht zum vornherein zweifeln,
sondern erst, als Tognola der Einmündung so nahe gekommen war, dass es
unsicher wurde, ob er die Geschwindigkeit zum gefahrlosen Abbiegen noch
genügend herabsetzen könne. Zur Beantwortung der Fragen, wie lange sich
der Beschwerdeführer auf das Blinkzeichen verlassen durfte und ob er
das Vortrittsrecht verletzt habe, müsste somit bekannt sein, in welcher
Entfernung von der Einmündung Tognola seine Geschwindigkeit zum Abbiegen
hätte vermindern müssen und ob der Beschwerdeführer vor oder erst nach
diesem Zeitpunkt in die Hauptstrasse hinausgefahren ist. Hierüber
fehlen im angefochtenen Urteil und in den Akten nähere Angaben, und
schlüssige Anhaltspunkte ergeben sich auch nicht aus der Tatsache des
Zusammenstosses. Dieser beweist nur, dass der Beschwerdeführer zum
Einbiegen nicht genügend Zeit hatte, wenn Tognola mit unverminderter
Geschwindigkeit geradeaus fuhr. Insbesondere kann dann, wenn der
Beschwerdeführer, wie er behauptet, wegen eines mitgeführten Möbelstückes
langsam in die Hauptstrasse hinausgefahren ist, nicht ausgeschlossen
werden, dass er im Zeitpunkt der Einfahrt das Blinkzeichen noch als
Verzicht auf das Vortrittsrecht auslegen durfte, und in diesem Falle kann
ihm auch die langsame Fahrweise nicht als Fehler angerechnet werden.

    Das angefochtene Urteil ist daher gemäss Art. 277 BStP aufzuheben und
die Sache zur Feststellung der für die Beurteilung notwendigen Tatsachen
zurückzuweisen. Die Stelle, wo Tognola mit dem Abbremsen hätte beginnen
müssen, kann naturgemäss nicht genau ermittelt, sondern nur annähernd
geschätzt werden. Dabei darf nicht knapp gerechnet werden. Das durfte auch
der Beschwerdeführer nicht, da er als Wartepflichtiger im Augenblick der
Einfahrt in die Hauptstrasse sicher sein musste, dass Tognola noch genügend
Zeit habe, um seine Geschwindigkeit zum Abbiegen ausreichend herabzusetzen.

Erwägung 3

    3.- Für den Fall, dass dem Beschwerdeführer eine Verletzung des
Vortrittsrechts gemäss Art. 36 Abs. 2 SVG in Verbindung mit Art. 14 Abs. 1
VRV zur Last fällt, ist er daneben nicht auch wegen Übertretung von Art. 26
SVG zu bestrafen. Diese allgemeine Grundregel hat neben den besondern
Verkehrsregeln nur subsidiäre Bedeutung und ist daher nur anwendbar,
wenn das pflichtwidrige Verhalten durch eine andere Bestimmung des SVG
oder eine Vollziehungsvorschrift des Bundesrates nicht oder nicht voll
erfasst wird (BGE 92 IV 20; Botschaft des Bundesrates in BBl 1955 II 30).

Entscheid:

Demnach erkennt der Kassationshof:

    Die Nichtigkeitsbeschwerde wird dahin gutgeheissen, dass das Urteil
des Kantonsgerichts von Nidwalden vom 3. November 1965 aufgehoben und die
Sache zur Ergänzung der Tatbestandsfeststellung und zur Neubeurteilung
im Sinne der Erwägungen an die Vorinstanz zurückgewiesen wird.