Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 92 IV 26



92 IV 26

8. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 24. März 1966
i.S. Allemann gegen Staatsanwaltschaft des Kantons Solothurn. Regeste

    Art. 36 Abs. 2 Satz 1 SVG, Art. 1 Abs. 8 VRV; Strassenverzweigungen,
Ausnahmen.

    1.  Einmündungen von Seitensträsschen oder Zufahrtswegen, die im
Verhältnis zur Durchgangsstrasse praktisch ohne Verkehrsbedeutung sind,
gelten nicht als Verzweigungen und sind daher von der allgemeinen Regel,
dass der von rechts Kommende den Vortritt hat, auszunehmen.

    2.  Im Verhältnis zweier Nebenstrassen bleibt es dagegen beim
Vortrittsrecht von rechts, wenn es nicht durch ausdrückliche Regelung
aufgehoben worden ist; ob die eine der beiden Strassen mehr befahren wird
als die andere, spielt keine Rolle.

Sachverhalt

Auszug aus den Erwägungen:

                       Aus den Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- Nach Art. 36 Abs. 2 Satz 1 SVG hat auf Strassenverzweigungen das
von rechts kommende Fahrzeug den Vor tritt.

    Diese Regel war bereits in Art. 27 Abs. 1 MFG enthalten, der bestimmte,
dass bei Strassengabelungen und -kreuzungen der Fahrer einem gleichzeitig
von rechts kommenden Motorfahrzeug den Vortritt zu lassen hat. Unter
Strassenkreuzungen im Sinne dieser Bestimmung sowie des Art. 26 Abs. 3
MFG waren unter der Herrschaft des alten Rechts auch Stellen zu verstehen,
an denen eine Strasse in eine andere einmündet (BGE 81 IV 49, 137, 251; 82
IV 24). Nicht als Kreuzungen (Einmündungen) galten dagegen Abzweigungen
von blossen Feldwegen und Zufahrten zu Garagen, Gewerbebetrieben,
Liegenschaften, Hausvorplätzen und dergleichen (BGE 64 II 318, 76 IV 58,
78 IV 183, 83 IV 165). Diese Rechtsprechung beruhte auf der Überlegung,
dass dem auf der Durchgangsstrasse verkehrenden Motorfahrzeugführer
nicht zugemutet werden kann, vor jedem unbedeutenden Seitensträsschen
die gleiche Vorsicht walten zu lassen wie vor einmündenden Strassen
mit Durchgangsverkehr, weil dadurch der Verkehr in einem nicht zu
rechtfertigenden Ausmass beeinträchtigt würde (BGE 84 IV 35).

    Das neue Recht hat an dieser Ordnung nichts geändert, sondern sie
ausdrücklich beibehalten. Es versteht unter Strassenverzweigungen
Kreuzungen, Gabelungen und Einmündungen von Fahrbahnen, nicht aber
Stellen, wo lediglich Rad- oder Feldwege, Garage-, Parkplatz-, Fabrik-
oder Hofausfahrten usw. mit einer Fahrbahn zusammentreffen (Art. 1 Abs. 8
VRV). Dass solche Ausnahmen weiterhin auch sachlich gerechtfertigt sind,
kann angesichts des ständig zunehmenden Verkehrs, der auf Flüssigkeit
eingestellt und angewiesen ist, nicht zweifelhaft sein. Der Verkehr
auf der Durchgangsstrasse soll weder innerorts noch ausserorts durch
Abzweigungen behindert werden, die für den Motorfahrzeugverkehr praktisch
keine oder nur geringe Bedeutung haben. Voraussetzung ist demgemäss
nicht, dass auf dem abzweigenden Wege Motorfahrzeuge überhaupt nicht
verkehren können; es genügt, dass nach der Natur des Weges und nach der
allgemeinen Verkehrserfahrung an der Abzweigung nicht mit dem Einbiegen
von Fahrern zu rechnen ist, die gegenüber den auf der Durchgangsstrasse
Fahrenden den Vortritt beanspruchen könnten. Sache des Einbiegenden ist
es, an solcher Stelle sich so vorsichtig auf die Strasse zu begeben,
dass es nicht zu einem Zusammenstoss kommt (BGE 80 IV 132, 84 IV 112).

Erwägung 2

    2.- Der Bubenrainweg in Önsingen ist gemäss Situationsplan 2,30 m
breit und hat von der Abzweigung an eine Steigung von 14%. Er ist nicht
als Strasse signalisiert und für den Ortsunkundigen auch nicht als solche
erkennbar, weil er an sehr unübersichtlicher Stelle einmündet; seine
Einführung in die Kluserstrasse lässt selbst aus geringer Entfernung
noch eher auf eine kurze Zufahrtsrampe als auf eine dem Motorfahrzeug-
oder Fahrradverkehr dienende Strasse schliessen. Den Akten ist ferner zu
entnehmen, dass der Bubenrainweg mit grobem Schotter versehen, schlecht
unterhalten ist und nur wenig befahren wird, obschon er eine kleine
Wohnsiedlung erschliesst. Die Kluserstrasse ist dagegen gut ausgebaut,
asphaltiert und weist einen grossen Durchgangsverkehr auf.

    Danach aber verhält es sich im vorliegenden Fall nahezu gleich
wie bei dem in BGE 84 IV 32 veröffentlichten, wo es ebenfalls um die
Einmündung eines unbedeutenden Quartiersträsschens in eine grössere
Durchgangsstrasse ging. Unterschiede bestehen nur insofern, als der
Birsblickweg in Grellingen teils asphaltiert, 2,20 m breit ist und
über einen Fussgängersteig in die Durchgangsstrasse einführt, während
der Bubenrainweg in Önsingen durchgehend beschottert, 2,30 m breit
ist und unmittelbar in die Kluserstrasse einmündet. Abgesehen von
diesen geringfügigen Unterschieden, die sich übrigens ausgleichen,
sind die beiden Fälle sich so auffallend ähnlich, dass eine gleiche
Behandlung sich aufdrängt. Freilich wurde das Urteil in BGE 84 IV 32
ff. noch unter der Herrschaft des alten Rechtes gefällt. Das neue Recht
hat indes die Ausnahmen, welche die Rechtsprechung für Abzweigungen
unbedeutender Strässchen gemacht hat, durchwegs übernommen. Die in Art. 1
Abs. 8 Satz 2 VRV aufgezählten Beispiele lassen darüber keine Zweifel
offen. Einmündungen von Zufahrtswegen, wie hier, sind daher weiterhin
vom Begriff der Strassenverzweigung und damit von der Vortrittsregel des
Art. 36 Abs. 2 SVG auszunehmen.

    Das in BGE 90 IV 87 ff. veröffentlichte Urteil steht dem
nicht entgegen. Gewiss wurde dort entschieden, dass es für Fahrer
auf Nebenstrassen, deren Bahnen sich überschneiden, selbst dann beim
Vortritt von rechts bleibt, wenn die Strassen unterschiedlichen Verkehr
aufweisen (Erw. 2 a). An der bisherigen Rechtsprechung wurde dadurch jedoch
nichts geändert. Die Vorinstanz übersieht, dass jenes Urteil sich auf die
Verzweigung von Nebenstrassen bezieht, dass es hier aber, wie in BGE 84 IV
32 ff., um das Verhältnis eines unbedeutenden Quartiersträsschens zu einer
grösseren Durchgangsstrasse geht. Im Verhältnis zweier Nebenstrassen gilt
das Vortrittsrecht von rechts, wenn es nicht durch das Signal Nr. 116 oder
217 aufgehoben worden ist; ob die eine der beiden Strassen mehr befahren
wird als die andere, kann aus den in BGE 90 IV 91 Erw. c dargelegten
Gründen keine Rolle spielen (s. auch BGE 85 IV 38, 86 IV 188, 90 IV 37,
91 IV 94/5).