Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 92 IV 20



92 IV 20

7. Urteil des Kassationshofes vom 22. April 1966 i.S. Polentarutti gegen
Meier und Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich. Regeste

    1.  Art 277 ter Abs. 2 BStP, Art. 18 Abs. 3 StGB. Die vom Kassationshof
in einem Rückweisungsentscheid getroffene Feststellung über die zulässige
Reaktionszeit des Fahrzeugführers ist rechtlicher Natur und für die
kantonale Behörde verbindlich. Eine weniger als eine halbe Sekunde
dauernde Unaufmerksamkeit des Fahrzeugführers ist nicht als Fahrlässigkeit
anrechenbar (Erw. 2).

    2.  Art. 33 Abs. 2 SVG, Art. 6 Abs. 1 VRV, Art. 125 Abs. 1
StGB. Das Stehenbleiben des Fussgängers auf dem Fussgängerstreifen
darf im allgemeinen nicht als Verzicht auf das Vortrittsrecht ausgelegt
werden. Kausalzusammenhang zwischen der Verletzung des Vortrittsrechts
eines Fussgängers und der Körperverletzung eines andern, der, für sich
allein betrachtet, nicht mehr vortrittsberechtigt gewesen wäre (Erw. 3).

Sachverhalt

    A.- Polentarutti wurde am Nachmittag des 6. Dezember 1963 auf dem
Fussgängerstreifen, der nach der Einmündung der Dübendorferstrasse über
die 12 m breite Winterthurerstrasse führt, von einem Personenwagen,
den Meier lenkte, angefahren und verletzt. Er stellte Strafantrag wegen
fahrlässiger Körperverletzung.

    Das Obergericht des Kantons Zürich erklärte Meier am 8. Dezember
1964 wegen Übertretung des Art. 33 Abs. 2 SVG und Art. 6 Abs. 1 VRV der
fahrlässigen Körperverletzung (Art. 125 StGB) schuldig und verurteilte
ihn zu einer Busse von Fr. 200.--.

    B.- Der Kassationshof des Bundesgerichts hob am 9. April 1965 das
Urteil des Obergerichts, gegen das Meier Nichtigkeitsbeschwerde führte,
auf und wies die Sache zur Neubeurteilung zurück (BGE 91 IV 78).

    Der Kassationshof nahm im Gegensatz zum Obergericht an, Meier habe,
als er sich bereits bis auf rund 6 m dem Fussgängerstreifen genähert
hatte, nicht damit rechnen müssen, dass auf so kurze Entfernung
noch ein Fussgänger den Streifen betreten werde, um die Strasse zu
überqueren. Polentarutti sei somit nicht vortrittsberechtigt gewesen, und
Meier, der mit einer Geschwindigkeit von 22,5 km/Std fuhr, habe daher weder
gegen Art. 33 Abs. 2 SVG noch gegen Art. 6 Abs. 1 VRV verstossen. Dagegen
liess der Kassationshof offen, ob Meier, wie das Obergericht in der
Eventualbegründung seines Urteils annahm, zu spät gebremst und deshalb
den Unfall durch Nichtbeherrschung des Fahrzeuges (Art. 31 Abs. 1 SVG)
verschuldet habe, da über die Zeit, die zwischen dem Augenblick, in dem die
Absicht des Fussgängers erkennbar wurde, und dem Zusammenstoss verstrich,
hinreichende Feststellungen im angefochtenen Urteil fehlten.

    C.- Das Obergericht kam nach durchgeführter Beweisergänzung zum
Ergebnis, dass Meier eine Nichtbeherrschung des Fahrzeuges nicht
vorgeworfen werden könne und sprach ihn am 21. Dezember 1965 von der
Anschuldigung der fahrlässigen Körperverletzung frei.

    D.- Gegen dieses Urteil erhob Polentarutti Nichtigkeitsbeschwerde
mit dem Antrag, es sei aufzuheben und die Sache zur Verurteilung des
Angeklagten an das Obergericht zurückzuweisen.

    E.- Meier beantragt Abweisung der Beschwerde.

Auszug aus den Erwägungen:

              Der Kassationshof zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Nach dem Bericht der Chirurgischen Universitätsklinik erlitt
der Beschwerdeführer neben leichten Schürfungen eine Hirnerschütterung,
eine Schulterkollision und eine Fraktur des horizontalen Schambeinastes;
bleibende Nachteile sind voraussichtlich nicht zu erwarten. Diese
Verletzungen sind nicht schwere im Sinne des Art. 125 Abs. 2 StGB (BGE 68
IV 84 und ständige Rechtsprechung). Zur Strafverfolgung bedurfte es daher
gemäss Art. 125 Abs. 1 StGB des Antrages des Verletzten, weshalb dieser
nach Art. 270 Abs. 1 BStP auch zur Nichtigkeitsbeschwerde befugt ist.

Erwägung 2

    2.- Das Obergericht stellt fest, der am Rande des Trottoirs stehende
Beschwerdeführer habe sofort nach dem Handzeichen, das er gab, in einem
raschen hastigen Gehschritt die Fahrbahn zu überqueren begonnen und für den
fast 4,5 m messenden Weg bis zur Kollisionsstelle mindestens zwei Sekunden
gebraucht. In dieser Zeit hätte der Angeklagte Meier noch knapp anhalten
können, selbst wenn ihm eine volle Sekunde Reaktionszeit zugestanden werde,
die ihm nach den Umständen auch zugebilligt werden müsse. Wenn es trotzdem
zur Kollision gekommen sei, so könne diese nur damit erklärt werden,
dass der Angeklagte während eines Sekundenbruchteils ausser acht gelassen
habe, was am rechten Fahrbahnrand vor sich ging. Eine Unachtsamkeit von
so geringer Dauer könne jedoch nicht als strafrechtlich erhebliches,
fahrlässiges Nichtbeherrschen des Fahrzeuges bezeichnet werden.

    In welcher Zeit ein Fahrzeugführer bei gebotener Aufmerksamkeit auf
auftauchende Gefahren muss reagieren können, ist eine Rechtsfrage. Die im
Rückweisungsentscheid dargelegte Auffassung des Kassationshofes, dass der
Angeklagte auf Grund der Pflicht, vor Fussgängerstreifen, an denen sich
Fussgänger bereit halten, besonders vorsichtig zu fahren (Art. 33 Abs. 2
SVG), hätte Bremsbereitschaft erstellen und innert 0,7 Sekunden reagieren
müssen, war daher für das Obergericht verbindlich (Art. 277ter Abs. 2
BStP). Zur Bremsbereitschaft gehört übrigens nicht immer, dass der Fuss
vom Gaspedal weggenommen und auf das Bremspedal gesetzt wird, sondern es
kann je nach den Umständen schon genügen, dass sich der Fahrzeugführer
auf die Möglichkeit, den Fuss vom Gas- auf das Bremspedal wechseln zu
müssen, einstellt und durch diese Bereitschaft instand gesetzt wird,
beim Auftreten der Gefahr ohne jede Verzögerung und wirkungsvoll bremsen
zu können. Die Pflicht zur Bremsbereitschaft besteht auch für den, der
sich in einer Kolonne einem Fussgängerstreifen nähert, an dem Fussgänger
aufeine Gelegenheit zum Überschreiten der Fahrbahn warten, namentlich
dann, wenn er dem vorausfahrenden Wagen, wie dies beim Angeklagten der
Fall gewesen zu sein scheint, in einem grössern Abstand folgt.

    Der Schlussfolgerung des Obergerichts, dass die Unaufmerksamkeit des
Angeklagten gegenüber Polentarutti zu geringfügig gewesen sei, um sie als
fahrlässige Nichtbeherrschung des Fahrzeuges zu ahnden, ist indessen auch
zuzustimmen, wenn die zulässige Reaktionszeit statt auf eine Sekunde auf
0,7 Sekunden bemessen wird. Wird nämlich zu dieser Zeit die Bremszeit
hinzugezählt und diese gestützt auf den verbindlich festgestellten
Bremsweg von 3,3 m und die ebenfalls festgelegte Fahrgeschwindigkeit
von 22,5 km in der Stunde oder 6,25 m in der Sekunde mittels der von
Bosch (Kraftfahrtechnisches Taschenbuch, 16. Aufl., S. 215) für diese
Werte angegebenen Formel errechnet, so benötigte der Angeklagte zum
Anhalten 1,75 Sekunden (0,7 + 1,05 sec.). Das bedeutet, dass er bei den
mindestens zwei Sekunden, die ihm zur Verfügung standen, eine Viertels-,
möglicherweise eine Drittelssekunde zu spät gebremst hat. Eine um weniger
als eine halbe Sekunde verspätete Reaktion kann aber strafrechtlich nicht
als Fahrlässigkeit angerechnet werden (BGE 89 IV 105).

Erwägung 3

    3.- Das Obergericht legte in seinem Urteil vom 8. Dezember 1964 der
rechtlichen Beurteilung des Unfalles ausschliesslich die Vorgänge zugrunde,
die sich auf der rechten Strassenseite abspielten, und dies veranlasste
das Bundesgericht, bei der Überprüfung des Falles von den gleichen
tatsächlichen Voraussetzungen auszugehen, unter Ausserachtlassung dessen,
was sich auf der linken Strassenhälfte zutrug. Wird jedoch richtigerweise
das Geschehen auf dem ganzen Fussgängerstreifen in Betracht gezogen, worauf
hinzuweisen im Rückweisungsentscheid des Kassationshofes unterlassen wurde,
so gelangt man auf Grund dieses Sachverhalts zu einer andern rechtlichen
Würdigung.

    a) Frau Aimée Bühler, auf deren Aussagen das Obergericht im
angefochtenen Urteil abstellt, hatte im Zeitpunkt, in dem sich die aus drei
Wagen bestehende Autokolonne dem Fussgängerstreifen näherte, diesen mit
ihrem dreijährigen Kind von der linken Strassenseite her bereits betreten
und ungefähr die Strassenmitte erreicht, also etwa 6 m darauf zurückgelegt,
als der erste der Wagen über den Streifen fuhr. Weil der zweite Wagen nicht
anhielt, blieb sie in der Strassenmitte stehen, und dasselbe wiederholte
sich, als der Wagen des Angeklagten, der nach den Angaben der Zeugin
in einem Abstand von 20-25 m als dritter nachfolgte, mit unverminderter
Geschwindigkeit dem Streifen zufuhr. Daraus ergibt sich, dass Frau Bühler
in angemessener Entfernung vor dem Wagen des Angeklagten den Streifen
betreten hat und somit vortrittsberechtigt war (Art. 49 Abs. 2 letzter
Satz SVG, Art. 47 Abs. 3 VRV). Der Angeklagte hätte daher vor dem Streifen
anhalten müssen, um Frau Bühler die ungehinderte Überquerung der Fahrbahn
zu ermöglichen (Art. 33 Abs. 2 SVG, Art. 6 Abs. 1 VRV). Das Vortrittsrecht
stand der Fussgängerin, auch ohne es besonders kundzutun, solange zu,
als sie nicht eindeutig darauf verzichtete (BGE 86 IV 40, 89 II 53, 90 IV
216). Das hat sie entgegen der Auffassung des Obergerichts nicht getan. Ein
eindeutiger Verzicht liegt nicht schon darin, dass der Fussgänger wegen
eines herannahenden Fahrzeuges auf dem Streifen stehen bleibt (BGE 89 II
54). Im allgemeinen bleibt der Fussgänger auf dem Streifen nur stehen,
weil das herannahende Fahrzeug, ohne seine Geschwindigkeit zu mässigen,
zu rasch auf den Streifen zufährt und der Fussgänger sich deshalb der
Gefahr ausgesetzt sieht, angefahren zu werden,wenn er die Überquerung der
Strasse in der Fahrbahn des Fahrzeuges fortsetzt. Auch Frau Bühler hatte
angesichts der unverminderten Geschwindigkeit des Angeklagten nicht die
Wahl, auf der rechten Strassenseite weiterzugehen oder stehen zu bleiben,
wenn sie nicht für sich und das Kind Leib und Leben gefährden wollte. Eine
derart erzwungene Nichtausübung des Vortrittsrechts ist kein Verzicht
darauf. Der Angeklagte hat daher das Vortrittsrecht von Frau Bühler
verletzt und sich dadurch der Übertretung von Art. 33 Abs. 2 SVG und
Art. 6 Abs. 1 VRV schuldig gemacht.

    b) Zwischen dem pflichtwidrigen Verhalten des Angeklagten
und dem eingetretenen Unfall besteht auch ein rechtserheblicher
Kausalzusammenhang. Hätte der Angeklagte vorschriftsgemäss Frau Bühler den
Vortritt gelassen und vor dem Streifen angehalten, wäre Polentarutti nicht
angefahren und nicht verletzt worden, denn die beiden Fussgänger hätten
sich auf dem Fussgängerstreifen, und zwar voraussichtlich in der Fahrbahn
des Angeklagten gekreuzt. Ohne Belang ist, dass der Angeklagte durch das
Nichthalten unmittelbar nur das Vortrittsrecht von Frau Bühler missachtet
hat, während der Beschwerdeführer, als er es in Anspruch nahm, nicht mehr
vortrittsberechtigt war. Die Rechtserheblichkeit des Kausalzusammenhanges
würde nur fehlen, wenn das Verhalten des Beschwerdeführers ausserhalb des
normalen Geschehens läge. Davon kann keine Rede sein. Es ist natürlich und
entspricht der täglichen Lebenserfahrung, dass ein Fussgängerstreifen,
auf dem schon Vortrittsberechtigte die Fahrbahn überqueren, auch noch
von Fussgängern von der Gegenseite her betreten wird in der begründeten
Erwartung, dass das Vortrittsrecht der bereits auf dem Streifen
befindlichen Personen von herannahenden Fahrzeugführern respektiert
werde. Mit der Möglichkeit, dass auch noch von rechts her Fussgänger auf
den Streifen treten könnten, war um so mehr zu rechnen, als sich auf der
rechten Strassenseite mehrere Personen am Streifen aufhielten und Frau
Bühler erst die Strassenmitte erreicht hatte.

    c) Meier ist demzufolge wegen fahrlässiger Körperverletzung zu
bestrafen.

Entscheid:

Demnach erkennt der Kassationshof:

    Die Nichtigkeitsbeschwerde wird gutgeheissen, das Urteil des
Obergerichts des Kantons Zürich vom 21. Dezember 1965 wird aufgehoben
und die Sache zur Verurteilung des Beschwerdegegners Meier nach Art. 125
Abs. 1 StGB an die Vorinstanz zurückgewiesen.