Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 92 IV 138



92 IV 138

35. Urteil des Kassationshofes vom 5. Juli 1966 i.S. Candolfi gegen
Generalprokurator des Kantons Bern. Regeste

    Art. 26 und 36 Abs. 2 SVG.

    1.  Ausübung des Vortrittsrechtes, Verkehrssicherheit und
Vertrauensgrundsatz (Erw. 1).

    2.  Die Pflicht des Berechtigten, auf den von links kommenden Verkehr
Rücksicht zu nehmen, besteht nicht nur im Falle, den Art. 14 Abs. 2 VRV
besonders hervorhebt, sondern immer dann, wenn Anzeichen dafür bestehen,
dass das Vortrittsrecht missachtet wird (Erw. 2).

Sachverhalt

    A.- Die Strassen Gampelen-Cudrefin und Ins-Witzwil sind asphaltiert und
fast gleich breit. In einer weiten und übersichtlichen Ebene bei Witzwil,
wo sie beide nahezu gerade verlaufen, kreuzen sie sich in einem Winkel
von etwa 60 o.

    Am 3. August 1963, kurz nach 14 Uhr, fuhr Candolfi am Steuer eines
"Volkswagens" mit ungefähr 70 km/Std von Gampelen her gegen die erwähnte
Kreuzung. Zu gleicher Zeit näherte sich ihr von Ins her ein Personenwagen
"Ford-Zephir", der von Pittet gesteuert war. Candolfi wollte nach Cudrefin,
Pittet nach Witzwil fahren. Sie konnten einander schon von weitem sehen, da
die Sicht zwischen ihren Anfahrtsstrecken durch nichts beeinträchtigt war.
Als Candolfi etwa 130 m vor der Verzweigung nach links blickte, war der
Wagen Pittets noch 160 m davon entfernt. Bei einem weitern Blick nach
links hatte er selber sich bis auf 83 und Pittet sich bis auf 72 m der
Kreuzung genähert. Wegen eines frischen Splittbelages, der 75 m vor der
Kreuzung begann, setzte Candolfi seine Geschwindigkeit auf 55-60 km/Std
herab. Nach links schaute er nicht mehr, sondern nur noch nach rechts
und auf seine Fahrbahn; er nahm an, Pittet werde ihm ordnungsgemäss den
Vortritt lassen. Mitten in der Kreuzung stiessen die beiden Fahrzeuge, ohne
dass sie abgebremst worden wären, seitlich zusammen. Der "Ford-Zephir"
wurde deswegen nach links abgedreht und prallte an eine Pappel, während
der "Volkswagen" nach rechts in eine Wiese abgetrieben wurde. Pittet und
sein Mitfahrer wurden getötet, Candolfi und seine drei Begleiter verletzt;
zudem entstand beträchtlicher Sachschaden.

    B.- Das Obergericht des Kantons Bern verurteilte Candolfi am 13. April
1965 wegen Übertretung von Art. 31 Abs. 1 und 32 Abs. 1 SVG zu einer
Busse von Fr. 80.-.

    In der Begründung führt das Obergericht insbesondere aus, der
Angeklagte sei von rechts gekommen und daher gemäss Art. 36 Abs. 2 SVG
vortrittsberechtigt gewesen. Er habe gesehen, dass Pittet sich der Kreuzung
rascher näherte als er selber; trotzdem habe er sich während fünf Sekunden,
die er für die letzten 83 m vor der Unfallstelle brauchte, nicht mehr
um den "Ford" gekümmert. Freilich habe Candolfi sich auch nach rechts
vergewissern müssen, dass ihm von dieser Seite her keine Gefahr drohte;
dazu hätte jedoch bei den sehr guten Sichtverhältnissen ein kurzer Blick
genügt. Das einzige Fahrzeug, mit dem er überhaupt habe rechnen müssen,
sei der fast gleichzeitig von links kommende Wagen gewesen. Indem er
diesen in den letzten fünf Sekunden vor dem Zusammenstoss nicht mehr
beobachtete, habe er es an der gebotenen Sorgfalt fehlen lassen, sich
folglich auch nicht darauf einstellen können, den Zusammenstoss durch
Bremsen oder eine andere Vorkehr, wenn nicht zu vermeiden, so doch in
den Auswirkungen zu mildern.

    C.- Candolfi führt Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag auf
Freisprechung. Er bestreitet, sich als Vortrittsberechtigter strafbar
gemacht zu haben.

Auszug aus den Erwägungen:

              Der Kassationshof zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Nach ständiger Rechtsprechung (BGE 90 IV 90 Erw. 2 b und dort
angeführte Urteile) braucht der Berechtigte an Strassenkreuzungen nicht
zum vorneherein mit der Missachtung seines Vortrittsrechtes zu rechnen
und sich darnach zu verhalten. Wo er nach den gegebenen Umständen
keinen Anlass zu besonderen Vorsichtsmassnahmen hat, soll er sein
Vortrittsrecht im Vertrauen darauf ausüben können, dass es beachtet werde,
die anderen Verkehrsteilnehmer sich also pflichtgemäss verhalten. Er hat
an Verzweigungen die Geschwindigkeit nur so zu mässigen, dass er die
gleichzeitig von rechts Kommenden vor ihm durchfahren lassen kann und
den von links Kommenden nicht verunmöglicht, ihm den Vortritt zu gewähren.

    Anders verhält es sich nach der angeführten Rechtsprechung, wenn der
Berechtigte sieht oder bei gehöriger Aufmerksamkeit sehen könnte, dass er
an der Ausübung des Vortritts gehindert wird. Das ist insbesondere dann der
Fall, wenn ein von links kommendes Fahrzeug mit solcher Geschwindigkeit
fährt, dass es dem Berechtigten den Vortritt nicht mehr lassen kann. In
solcher Lage darf der Berechtigte weder in blindem Vertrauen auf sein
Vortrittsrecht beliebig schnell weiterfahren noch auf dessen Ausübung
beharren, sondern muss seinerseits alles Zumutbare vorkehren, um
einen Unfall zu verhüten. Das neue Recht hat daran nichts geändert; im
Gegenteil, es verpflichtet in Art. 26 Abs. 2 SVG jeden Strassenbenützer,
also auch den Vortrittsberechtigten, ausdrücklich zu besonderer Vorsicht,
wenn Anzeichen dafür bestehen, dass ein anderer sich nicht richtig
verhalten wird. Lässt er diesfalls die nach den Umständen gebotene
Vorsicht ausser acht, so handelt auch der Berechtigte pflichtwidrig
und kann sich infolgedessen nicht auf den Vertrauensgrundsatz berufen,
um sein Verhalten zu rechtfertigen (vgl. BGE 91 IV 94).

Erwägung 2

    2.- Nach den tatsächlichen Feststellungen des Obergerichts, das auf
die Angaben Candolfis abstellte, schaute dieser 130 und 83 m vor der
Verzweigung je einmal nach links. Das erste Mal war der Wagen Pittets
160, das zweite Mal nur noch 72 m von der Kreuzung entfernt. Daraus
erhellt, dass der "Ford-Zephir" beim zweiten Blick nach links einen
Vorsprung von 11 m hatte und schneller gegen die Verzweigung fuhr als der
"Volkswagen". Das ist dem Beschwerdeführer denn auch nicht entgangen. Unter
diesen Umständen durfte Candolfi nicht leichthin annehmen, Pittet werde
die Fahrt verlangsamen und ihn durchlassen, ganz abgesehen davon, dass er
83 m vor der Verzweigung noch nicht wissen konnte, ob sie gleichzeitig auf
der Kreuzung eintreffen würden, die Voraussetzungen für den Rechtsvortritt
also gegeben seien. Bei pflichtgemässer Überlegung hätte er sich sagen
sollen, dass die Lage unsicher sei und er nicht unbekümmert um den von
links kommenden Wagen weiterfahren dürfe. Wenn er die Lage nicht durch ein
Warnsignal klären wollte, so musste der Beschwerdeführer sich jedenfalls
vorsehen, um der Gefahr nötigenfalls selber begegnen zu können, sei es,
dass er den anderen Wagen im Auge behielt und Bremsbereitschaft erstellte,
sei es, dass er ihn vor sich durchfahren liess. Zu grösserer Vorsicht und
Aufmerksamkeit hätte der Beschwerdeführer auch deshalb Anlass gehabt,
weil er die Geschwindigkeit auf den letzten 75 m vor der Unfallstelle
wegen des Splittbelages auf 55-60 km/Std herabsetzte und Pittet das leicht
falsch auslegen konnte. Umso unvorsichtiger war es, sich im entscheidenden
Augenblick um den andern Wagen überhaupt nicht mehr zu kümmern.

    Der Kassationshof hat freilich im Falle Oberli (BGE 90 IV 93)
ausgeführt, dass der Berechtigte sich um Fahrer, die gleichzeitig von
links kommen, ihn aber beizeiten sehen können, nicht weiter zu kümmern
brauche; das ergebe sich mittels Umkehrschlusses aus Art. 14 Abs. 2 VRV,
der bestimmt, dass der Vortrittsberechtigte auf Strassenbenützer Rücksicht
zu nehmen hat, welche die Strassenverzweigung erreichen, bevor sie ihn
erblicken können.

    Diese Schlussfolgerung. auf die der Beschwerdeführer sich schon im
kantonalen Verfahren berufen hat, kann indes nicht aufrechterhalten werden.
Die Pflicht des Berechtigten, auf den von links kommenden Verkehr Rücksicht
zu nehmen, besteht nicht nur im Falle, den Art. 14 Abs. 2 VRV besonders
hervorhebt, sondern immer dann, wenn aus der Fahrweise eines andern zu
erkennen ist, dass das Vortrittsrecht missachtet wird. Das setzt voraus,
dass der Berechtigte sich zumindest durch einen raschen Blick auch nach
links vergewissert, ob er freie Fahrt habe, und zwar muss er das in einem
Zeitpunkt tun, in dem er sich darüber wirklich Rechenschaft geben kann,
also weder zu früh noch zu spät. Dadurch unterscheidet sich der vorliegende
Fall - wenn man von den Sichtverhältnissen absieht - denn auch von dem
in BGE 90 IV 87 veröffentlichten, wo die Angeschuldigte im richtigen
Augenblick nach links geschaut und nichts festgestellt hat, was auf eine
bevorstehende Verletzung ihres Vortrittsrechtes hingedeutet hätte. Candolfi
dagegen durfte es nicht bei der schon 83 m vor der Kreuzung angestellten
Beobachtung nach links bewenden lassen. Auf eine solche Entfernung kann
ein von links Kommender immer noch versucht sein, als erster und ohne
dass er das Vortrittsrecht eines andern verletzen würde, eine Kreuzung
zu durchfahren. Dies gilt insbesondere dann, wenn er schneller fährt und
gegenüber dem von rechts Kommenden im Vorsprung liegt. Gerade das war,
wie der Beschwerdeführer selber feststellte, hier denn auch der Fall.
Diese Feststellung hätte Candolfi veranlassen sollen, dem andern Fahrer
gegenüber aufmerksam zu bleiben; er hatte allen Grund zu bezweifeln,
dass er das Vortrittsrecht gefahrlos ausüben könne. Den Wagen Pittets im
Auge zu behalten, wäre dem Beschwerdeführer übrigens umsomehr zuzumuten
gewesen, als sein Fahrzeug mit einer Linkssteuerung versehen war und ihre
Anfahrtsstrecken in einem Winkel von 60° zusammentrafen.

    Die Vorinstanz wirft daher dem Beschwerdeführer mit Recht vor, dass
er nicht so aufmerksam und so vorsichtig gefahren sei, als die Umstände
es erforderten, demzufolge auch nichts mehr habe vorkehren können, um
den Unfall zu vermeiden. Dass die Beobachtung nach rechts ihn nicht daran
gehindert hätte, nochmals nach links zu blicken, stellt das Obergericht
für den Kassationshof verbindlich fest; was in der Beschwerde dagegen
vorgebracht wird, ist Kritik an der Beweiswürdigung und daher nicht zu
hören (Art. 273 Abs. 1 lit. b BStP). Dem Beschwerdeführer hilft auch nicht,
dass Pittet einen ungleich grössern Fehler begangen und den Zusammenstoss
weitgehend selber verschuldet hat. Strafe wegen Übertretung von Art. 31
Abs. 1 und 32 Abs. 1 SVG setzt nicht voraus, dass der Verkehr tatsächlich
gestört oder ein Unfall verursacht worden sei; es genügt, dass der Fahrer
die Vorsicht missachtet hat, zu der er nach den Verhältnissen verpflichtet
war (vg. BGE 77 IV 221).

Entscheid:

Demnach erkennt der Kassationshof:

    Die Nichtigkeitsbeschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten
ist.