Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 92 IV 122



92 IV 122

32. Urteil des Kassationshofes vom 27. Oktober 1966 i.S. Jugendamt des
Kantons Zürich gegen W. Regeste

    Art. 98 StGB. Ob die Straftat eines Jugendlichen als Verbrechen,
Vergehen oder Übertretung zu würdigen ist und wann sie verjährt, beurteilt
sich nach den Bestimmungen des allgemeinen Strafrechts.

Sachverhalt

    A.- Rolf W. und Monika K. hatten miteinander im Winter 1961/62 in
einem Kinderheim wiederholt Geschlechtsverkehr. Sie waren damals beide
14-15 Jahre alt. Ihre Verfehlungen kamen erst am 26. August 1965 an den
Tag, als Monika K. in einem Vaterschaftsprozess über ihre Beziehungen zu
Männern befragt wurde.

    B.- Das Bezirksgericht Zürich als Jugendgericht erklärte W. am
17. März 1966 der wiederholten Unzucht mit einem Kinde (Art. 191 Ziff.
1 Abs. 1 StGB) schuldig, sah aber gestützt auf Art. 98 StGB von jeder
Strafe und Massnahme ab.

    Das Obergericht des Kantons Zürich bestätigte dieses Urteil am
23. Mai 1966.

    C.- Das Jugendamt des Kantons Zürich führt Nichtigkeitsbeschwerde
mit dem Antrag, das Urteil des Obergerichts aufzuheben und dieses
anzuweisen, gegen W. eine Strafe oder Massnahme im Sinne von Art. 91
ff. StGB auszusprechen.

    Es macht geltend, dass sämtliche Verjährungsfristen des Art. 70 StGB
auch im Jugendstrafrecht anwendbar seien. Danach verjähre aber eine
Straftat wie die vorliegende erst in zehn Jahren. Die Voraussetzung,
unter der gemäss Art. 98 StGB von jeder Strafe und Massnahme abgesehen
werden könne, sei somit hier nicht gegeben.

    D. - Rolf W. und sein Vormund beantragen, die Beschwerde abzuweisen.

Auszug aus den Erwägungen:

              Der Kassationshof zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Das Obergericht führt aus, das Jugendstrafrecht regle die
Verfolgungsverjährung nicht besonders, weshalb die allgemeinen Bestimmungen
der Art. 70 und 109 StGB auch für Jugendstrafsachen gälten. Dabei
sei jedoch zu beachten, dass das Jugendrecht ein vom Erwachsenenrecht
abweichendes Strafen- und Massnahmensystem entwickelt habe; es sehe
für Verbrechen und Vergehen Jugendlicher namentlich keine Zuchthaus-
oder Gefängnisstrafe, sondern stets andere Sanktionen vor. Für solche
Verfehlungen sei daher im Jugendrecht die fünfjährige Frist des Art. 70
Abs. 4 StGB massgebend, denn diese Frist gelte nach dem Wortlaut des
Gesetzes immer dann, wenn die strafbare Handlung mit einer andern Strafe
bedroht sei. Sei aber von der fünfjährigen Verjährungsfrist auszugehen,
so könne bei Verbrechen und Vergehen Jugendlicher bereits nach zweieinhalb
Jahren, d.h. wenn die Hälfte der Frist abgelaufen sei (Art. 98 StGB),
von jeder Massnahme und Strafe abgesehen werden.

    a) Diese Auffassung widerspricht schon der Systematik und Sprache des
Gesetzes. In Art. 70 StGB sind die Verjährungsfristen abgestuft nach der
Strafe, mit der die Tat bedroht ist: Je nach der Schwere der angedrohten
Strafe soll die Strafverfolgung in fünf, zehn oder erst in zwanzig Jahren
verjähren. Angedroht aber ist nicht die Strafe, mit welcher ein bestimmter
Täter für eine Handlung belegt werden muss, sondern diejenige, welche
das Gesetz in der Strafbestimmung für eine Tat der betreffenden Art in
Aussicht stellt. Ähnlich verhält es sich mit der gesetzlichen Einteilung
der Straftaten. Nicht die Straffälle, sondern die gesetzlichen Tatbestände
werden nach der angedrohten Höchststrafe in Verbrechen, Vergehen und
Übertretungen gruppiert (Art. 9 und 101 StGB). Diese Begriffe werden auch
im Jugendrecht verwendet (Art. 91 Ziff. 3, 95 Abs. 1 und 361 StGB). Käme
es auf die auszufällende Strafe oder auf die Person des Täters an, so
würde die gesetzliche Dreiteilung der Straftaten verlassen. Eine Tat,
die im einen Fall ein Verbrechen bliebe, wäre in einem andern nur noch
ein Vergehen oder eine Übertretung. Die stossenden Unterschiede, die
sich daraus für die Verjährung ergäben, liegen auf der Hand. In Fällen
von Massnahmen, die gerade im Jugendrecht im Vordergrund stehen, würde
die Betrachtungsweise des Obergerichts überhaupt versagen; denn eine
Massnahme ist auf jeden Fall keine andere Strafe im Sinne von Art. 70
Abs. 4 StGB. Diese Folgen zeigen, dass für die Verjährung nur die objektive
Schwere der Tat, wie sie in der Strafdrohung zum Ausdruck kommt, massgebend
sein kann.

    Es wäre daher von vorneherein systemwidrig und mit der Sprache des
Gesetzes nicht vereinbar, wenn bei strafbaren Handlungen Jugendlicher
auf die Person des Täters, statt auf die Schwere der Tat abgestellt
würde. Es besteht dazu auch kein innerer Grund. Objektiv ist eine Tat
gleich schwer, ob sie von einem Erwachsenen oder einem Jugendlichen
begangen wird. Art. 70 StGB unterscheidet denn auch nicht nach Täter-,
sondern nach Tatkategorien. Das heisst nicht, dass im Jugendrecht eine
von der allgemeinen Ordnung abweichende Regelung nicht möglich und
vertretbar wäre. Eine solche Regelung kann aber nicht auf dem Wege
freier richterlicher Rechtsfindung, sondern allein vom Gesetzgeber
eingeführt werden. Mangels einer Sonderregelung beurteilt sich daher
nach den Vorschriften des allgemeinen Strafrechts, ob die Straftat eines
Jugendlichen als Verbrechen, Vergehen oder Übertretung anzusehen ist und
wann sie verjährt (vgl. Verwaltungsentscheide der Bundesbehörden 1955
Nr. 87).

    b) Die Auffassung des Obergerichts findet auch in den
Gesetzesmaterialien keine Stütze. Die Entstehungsgeschichte des
Gesetzes zeigt im Gegenteil, dass der Gesetzgeber die Verjährung im
Jugendrecht nicht anders regeln wollte als im Erwachsenenrecht. Der
Entwurf von 1908 bestimmte in Art. 11 und derjenige von 1916 in Art. 98:
"Die Verjährungsfristen sind auf die Hälfte herabgesetzt". Dabei waren,
wie sich aus den Materialien klar ergibt, die nach der Schwere der
Strafhandlungen abgestuften Verjährungsfristen des allgemeinen Strafrechts
gemeint (vgl. Prot. 2 Exp. Kom., Bd. 1 S. 70 ff. und 401 ff.). Der Entwurf
von 1918 hat diese Ausnahme zugunsten Jugendlicher nicht übernommen,
sondern statt dessen in Art. 95, der nun Art. 98 geworden ist, lediglich
bestimmt, dass der Richter von jeder Massnahme absehen könne, wenn seit
der Tat die Hälfte der Verjährungsfrist abgelaufen sei. Damit wurde wohl
die Herabsetzung der Fristen um die Hälfte, nicht aber die Anknüpfung an
die allgemeinen Verjährungsfristen des Art. 70 StGB aufgegeben.

    Dass es bei der Abstufung der Fristen nach der Schwere der
Strafhandlungen geblieben ist, ergibt sich auch aus der Revision des
Jugendrechts, die gegenwärtig bei den Eidgenössischen Räten hängig ist. Ist
weder eine Massnahme noch eine Strafe notwendig, so kann nach Art. 98 des
Revisionsentwurfes die zuständige Behörde davon absehen, namentlich wenn
seit der Tat ein Jahr verstrichen ist. Damit wird die Verkoppelung mit
den Verjährungsfristen überhaupt gelöst, was nach den Vorarbeiten aber
nicht heisst, dass man von der Gliederung der Verjährungsfristen nach den
Strafdrohungen habe abgehen wollen. Der Bundesrat führt in der Botschaft
zur Revision des Jugendstrafrechtes (BBl 1965 I 586 ff. insbes. 596)
aus, dass nach dem geltenden Art. 98 ein Absehen von Massnahmen und
Strafen selbst bei den leichtesten Delikten erst nach zweieinhalb
Jahren möglich sei. Dieser Satz kann nur dahin verstanden werden, dass
die fünfjährige Verjährungsfrist, nicht wie HAFTER (Allg. Teil S. 474)
meint, für alle Verbrechen und Vergehen von Jugendlichen gilt, sondern
nur für die leichtesten Strafhandlungen, d.h. diejenigen, die nicht mit
lebenslänglichem oder zeitlich begrenztem Zuchthaus bedroht sind. Es wird
also vorausgesetzt, dass für die schwereren Straftaten Jugendlicher die
längeren Verjährungsfristen des Abs. 2 und 3 von Art. 70 StGB gelten.

    Dasselbe folgt aus den Beratungen der Expertenkommission, die die
Revision des Jugendstrafrechts vorzubereiten hatte. Nach der Meinung
dieser Kommission soll die Verfolgungsverjährung sich im Jugendrecht auch
weiterhin nach der Schwere der Tat richten, weshalb man an den Fristen
von zwanzig Jahren bei Mord und zehn Jahren bei andern Verbrechen nicht zu
rütteln brauche. Einem Vorschlag, von der bisherigen Ordnung abzurücken,
wurde insbesondere entgegengehalten, dass es unannehmbar wäre, wenn gegen
einen Jugendlichen, der z.B. mit 17 Jahren einen Raubmord begehen und
erst mit 21 Jahren gefasst würde, nicht mehr vorgegangen werden könnte
(vgl. Prot. B III S. 9/10, Voten Moppert und Frey).

    c) Die Auffassung des Obergerichts wäre auch sachlich nicht
gerechtfertigt. Gewiss besteht bei Jugendlichen ein besonderes Interesse,
dass ihnen das weitere Fortkommen, namentlich die berufliche Ausbildung
und die Stellenbewerbung, nicht unnötig erschwert wird, ihre Straftaten
daher möglichst rasch erledigt werden (vgl. HAFTER, aaO S. 474). Wenn ein
Jugendlicher der Nacherziehung oder einer besonderen Behandlung bedarf,
ist eine solche Erledigung jedoch schon wegen der Natur der Massnahme
ausgeschlossen. Erziehungsmassnahmen erstrecken sich zwangsläufig über
eine längere Zeit und müssen, wenn sie einen Sinn haben sollen, so lange
dauern, bis sie ihren Zweck erreicht haben.

    Dem entspricht denn auch das gesamte System von Massnahmen, die das
Jugendstrafrecht vorsieht. Bei der Familienversorgung (Art. 91 Ziff. 2) und
der besondern Behandlung (Art. 92) enthält das geltende Recht zwar keine
Angaben über die Beendigung der Massnahme. Nach dem Sinn und Zweck der
Bestimmungen unterliegt jedoch keinem Zweifel, dass die Massnahme jeweils
so lange dauern soll, als der Zustand und das erzieherische Bedürfnis
des Jugendlichen es erfordern. Wer wegen sittlicher Verwahrlosung oder
Gefährdung in ein Erziehungsheim eingewiesen wird, hat mindestens ein Jahr
und höchstens bis zum zweiundzwanzigsten Altersjahr dort zu verbleiben
(Art. 91 Ziff. 1). Ist der Jugendliche besonders verdorben oder hat
er ein Verbrechen oder ein schweres Vergehen begangen, so dauert die
Anstaltserziehung mindestens drei und höchstens zehn Jahre (Art. 91
Ziff. 3).

    Zu bedenken ist ferner, dass das Jugendstrafrecht weitgehend aus
Erziehungsmassnahmen besteht; Sühne und Strafe spielen in diesem Teil
des Strafrechts eine völlig untergeordnete Rolle. Diese Reihenfolge
der Sanktionen beruht vor allem auf der Tatsache, dass der Jugendliche
einerseits noch in der Entwicklung begriffen ist und der Erziehung sowie
der charakterlichen Festigung bedarf, anderseits durch erzieherische
Massnahmen meistens aber noch gebessert werden kann (BGE 92 IV 84). Das
Bedürfnis nach solchen Massnahmen ist der Natur der Sache nach umso
grösser, je schwerer die Tat ist, die der Jugendliche begangen hat;
denn die Schwere der Tat zeugt in der Regel nicht bloss von schweren
sittlichen oder charakterlichen Mängeln, sondern bringt regelmässig auch
die Notwendigkeit einer strengen Nacherziehung oder einer besondern,
namentlich psychiatrischen Behandlung zum Ausdruck.

    Alle auch noch so notwendigen Massnahmen wären aber gerade bei
schwersten Verbrechen, wie Mord, Raubmord, Notzucht und dergleichen,
nicht mehr möglich, wenn die Tat erst nach fünf Jahren an den Tag kommt
oder der Jugendliche sich solange, z.B. durch Flucht ins Ausland, der
Strafuntersuchung zu entziehen vermag. Dass man damit dem Jugendlichen, der
den behördlichen Verzicht auf jede Sanktion leicht falsch auslegen könnte,
einen schlechten Dienst erweisen würde, bedarf keiner Begründung. Man
denke nur an das bereits erwähnte Beispiel der Expertenkommission. Freilich
sind solche Fälle eher selten; sie können aber durchaus eintreten, zumal
auch schwere Verbrechen Jugendlicher immer häufiger vorkommen. Nach fünf
Jahren könnte die Behörde nichts mehr zur notwendigen Behandlung des
Jugendlichen vorkehren; sie dürfte selbst bei einem sozial gefährlichen
Täter nicht die dringendsten Massnahmen anordnen, noch ihn sonstwie zur
Rechenschaft ziehen. Das würde von der Öffentlichkeit mit Recht nicht
verstanden und kann auch nicht der Sinn des Gesetzes sein.

Erwägung 2

    2.- Das Urteil des Obergerichts, das von der irrtümlichen Annahme
ausgeht, Verbrechen von Jugendlichen verjährten bereits nach fünf Jahren,
ist daher aufzuheben und die Sache zur neuen Beurteilung an die Vorinstanz
zurückzuweisen.

    Das heisst nicht, dass gegen Rolf W. nach nahezu fünf Jahren noch
mit Strenge vorgegangen werden müsse. Der Angeschuldigte hat sich seit
seinen Verfehlungen im Winter 1961/62 wohlverhalten, so dass keine
besonderen Erziehungsmassnahmen mehr nötig erscheinen. Diesem Umstand
sowie dem Zeitablauf kann auch im Rahmen des Art. 95 StGB Rechnung
getragen werden. Das zeigt zudem, dass Jugendstrafsachen selbst dann,
wenn die allgemeinen Verjährungsbestimmungen anwendbar bleiben, rasch
und angemessen erledigt werden können. Wo eine rasche Erledigung den
erzieherischen Bedürfnissen des Jugendlichen dagegen widerspricht, ist
es Pflicht des Richters, darauf Rücksicht zu nehmen und den Entscheid
dem Zustand und der Weiterentwicklung des Täters anzupassen. Dazu gehört
auch, dass der Richter das Interesse nicht übersieht, das darin besteht,
je nach der Schwere der Tat auch nach Ablauf von fünf Jahren Massnahmen
anordnen zu können, wenn die Persönlichkeit des Täters solche erfordert.

Entscheid:

Demnach erkennt der Kassationshof:

    Die Nichtigkeitsbeschwerde wird gutgeheissen, das Urteil des
Obergerichts des Kantons Zürich vom 23. Mai 1966 aufgehoben und die Sache
zu neuer Entscheidung an die Vorinstanz zurückgewiesen.