Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 92 IV 105



92 IV 105

27. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 27. Mai 1966 i.S. Raths
gegen Staatsanwaltschaft des Kantons Graubünden. Regeste

    Art. 35 Abs. 2 und 90 Ziff. 2 SVG. Der Autofahrer, der unbekümmert
darum, dass er andere Fahrzeuge ernstlich gefährdet, überholt, macht sich
einer groben Verletzung der Verkehrsregeln schuldig.

Sachverhalt

                       Aus dem Tatbestand:

    Raths fuhr am 20. Mai 1964, kurz nach 19 Uhr, am Steuer seines
Personenwagens (Mercedes) auf der 7,50 m breiten Hauptstrasse von
Maienfeld gegen Chur. Zwischen dem alten Bahnübergang nach Untervaz
und dem Armenhaus Trimmis, wo die Strasse eine langgezogene, nach rechts
beginnende S-Biegung beschreibt, holte er einen Personenwagen ein, der von
Frau Lichtensteiger gesteuert war. Diese folgte mit 70 km/Std und einem
Abstand von etwa 30 m einem Lastwagen. Raths liess zwei entgegenkommende
Fahrzeuge durch und setzte dann zum Überholen an. Als er sich nach
seinen Angaben auf der Höhe des Wagens von Frau Lichtensteiger befand,
sah er aus der Gegenrichtung einen Personenwagen nahen, der von De Chesne
geführt war. Raths bog daraufhin hinter dem Lastwagen nach rechts ein,
wodurch er Frau Lichtensteiger zu schnellem Bremsen veranlasste. De
Chesne musste ebenfalls bremsen und zudem rasch nach rechts halten,
um einen Zusammenstoss zu vermeiden. Sein Fahrzeug kam deswegen auf
der nassen Fahrbahn ins Gleiten, wobei es über den rechten Strassenrand
hinausgeriet und einen Drahtzaun durchstiess.

    Der Kantonsgerichtsausschuss von Graubünden sprach Raths am 31. Januar
1966 insbesondere der Verletzung von Art. 35 Abs. 2 SVG schuldig und
verurteilte ihn in Anwendung von Art. 90 Ziff. 2 SVG zu einer bedingt
vollziehbaren Gefängnisstrafe von sechs Tagen sowie Fr. 100.-- Busse.
Die Nichtigkeitsbeschwerde des Verurteilten wurde abgewiesen.

Auszug aus den Erwägungen:

                       Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- (Gekürzt.) Art. 35 Abs. 2 SVG hat der Beschwerdeführer schon
dadurch verletzt, dass er sich vor dem Überholen nicht pflichtgemäss
vergewisserte, ob die dazu notwendige Strecke frei sei. Obschon Raths vor
Beginn des Überholens die Strasse angeblich über 400 m weit überblicken
konnte, übersah er den entgegenkommenden Wagen; er gewahrte ihn erst,
als er auf der Höhe des zu überholenden Fahrzeugs angelangt und vom
entgegenkommenden nur noch etwa 220 m entfernt war.

    Pflichtwidrig war es sodann, nach der Wahrnehmung des entgegenkommenden
Wagens, der sich ihm mit 60-70 km/Std näherte, mit dem Überholen
fortzufahren. Der Beschwerdeführer meint zwar, dass der offene Zwischenraum
auch dann noch ausgereicht habe, um das Unternehmen fortsetzen und
ordnungsgemäss wieder einbiegen zu können. Die Vorinstanz stellt jedoch
fest, dass es unweigerlich zu einem frontalen Zusammenstoss gekommen wäre,
wenn De Chesne seinen Wagen nicht stark abgebremst und der Angeklagte
nicht brüsk nach rechts gehalten hätte. Sie hält zudem für erwiesen, dass
daraufhin auch Frau Lichtensteiger die Fahrt sofort verlangsamen musste,
um einen Unfall zu vermeiden. Daraus geht deutlich hervor, dass der nötige
Raum zum Überholen fehlte. Dasselbe folgt aus den eigenen Aussagen des
Beschwerdeführers, gab er doch während der Untersuchung wiederholt zu,
dass er angesichts des entgegenkommenden Fahrzeuges die Geschwindigkeit
forcieren, d.h. äusserst beschleunigen musste, um noch vor der Durchfahrt
De Chesnes die Lücke zwischen den beiden vorausfahrenden Wagen erreichen
zu können.

Erwägung 5

    5.- Der Beschwerdeführer macht geltend, dass seine Handlungsweise
auf jeden Fall nicht als grobe Verletzung von Verkehrsregeln im Sinne
von Art. 90 Ziff. 2 SVG gewürdigt werden könne.

    Er verkennt, dass er Art. 35 Abs. 2 SVG in mehrfacher Hinsicht gröblich
missachtet und dadurch sowohl den entgegenkommenden wie den überholten
Personenwagen erheblich gefährdet hat. Raths bekümmerte sich weder zu
Beginn des Manövers noch im Zeitpunkt, als er das entgegenkommende
Fahrzeug erblickte, gewissenhaft darum, ob er ohne Behinderung und
Gefährdung anderer überholen könne. Um eines schnöden Zeitgewinnes willen -
Raths hatte es zugegebenermassen eilig - liess er von seinem Unternehmen
selbst dann nicht ab, als er die Gefahr erkannte; er steigerte vielmehr
die Geschwindigkeit noch weiter und überliess es den Gefährdeten,
wie sie dem drohenden Unglück ausweichen wollten. Solch verwegenes
und unverantwortliches Gebaren, das immer wieder zu schweren Unfällen
führt, lässt sich nicht damit verharmlosen, dass selbst einem erprobten
Automobilisten derartige Fehlbeurteilungen unterlaufen könnten. Es stellt
im Gegenteil eine grobe Unbekümmertheit um wichtige Verkehrsverpflichtungen
dar, der auch dann, wenn die Gefahr dank sofortiger Vorkehren Dritter,
wie hier, glimpflich verläuft, mit aller Strenge entgegenzutreten ist.

    Der Beschwerdeführer ist deshalb mit Recht nach Art. 90 Ziff. 2 SVG
bestraft worden.