Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 92 IV 10



92 IV 10

4. Urteil des Kassationshofes vom 10. Januar 1966 i.S. Ingold gegen
Justizdirektion des Kantons Appenzell A.Rh. Regeste

    Art. 1 Abs. 2 SVG. Begriff der "dem öffentlichen Verkehr dienenden
Strassen" (Erw. 1 und 2).

    Art. 37 Abs. 2 SVG. Zum "Verkehr" gehört auch die Ausfahrt aus der
Garagenboxe auf einen Vorplatz (Erw. 3).

    Art. 19 Abs. 2 lit. g und a VRV in Verbindung mit Art. 18 Abs. 3
VRV. Behinderung und Gefährdung des Verkehrs sowie Behinderung eines
öffentlichen Verkehrsmittels durch das Aufstellen eines Wagens vor der
Ausfahrt einer Postautoboxe (Erw. 4).

Sachverhalt

    A.- Frau Ingold fuhr am 2. September 1964 um 13.15 Uhr mit ihrem
Personenwagen auf den Vorplatz der Postgarage in Heiden, um ihn dort
zu wenden und alsdann hinter einem Postauto anzuhalten, das für einen
Ausflug bereit stand und hinter dem sie herzufahren beabsichtigte. Als
sie, im Wagen bleibend, auf dem Vorplatz hielt, fuhr ein anderes Postauto
rückwärts aus der Boxe und stiess auf ihr Fahrzeug. An beiden Wagen
entstand Sachschaden.

    B.- Das Bezirksgericht Vorderland büsste Frau Ingold am 7. Juli
1965 wegen Übertretung von Art. 37 Abs. 2 SVG und Art. 18 Abs. 3 VRV mit
Fr. 30.-.

    C.- Hiegegen führt die Gebüsste Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag,
die Sache sei zur Freisprechung an das Bezirksgericht zurückzuweisen. Die
Justizdirektion des Kantons Appenzell A.-Rh. hat auf Gegenbemerkungen
verzichtet.

Auszug aus den Erwägungen:

              Der Kassationshof zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Für die Führer von Motorfahrzeugen gelten die Verkehrsregeln (Art.
26-57 SVG in Verbindung mit den entsprechenden Ausführungsvorschriften
der VRV) nur auf den "dem öffentlichen Verkehr dienenden Strassen"
(Art. 1 Abs. 2 SVG). Strassen sind die von Motorfahrzeugen, motorlosen
Fahrzeugen oder Fussgängern benützten Verkehrsflächen (Art. 1 Abs. 1 VRV),
und öffentlich sind Strassen, die nicht ausschliesslich privatem Gebrauch
dienen (Art. 1 Abs. 2 VRV). Massgeblich ist dabei nicht, ob die Strasse
in privatem oder öffentlichem Eigentum stehe, sondern ob sie auch dem
allgemeinen Verkehr diene. Letzteres trifft dann zu, wenn die Bodenfläche
einem unbestimmbaren Personenkreis zur Verfügung steht, selbst wenn die
Benutzung nach Art oder Zweck eingeschränkt ist (BGE 86 IV 31 und nicht
veröffentlichte Urteile in Sachen Zbinden/Luzern vom 15. September 1964,
Erw. 1; in Sachen Bolz/Luzern vom 27. September 1965, Erw. 1).

Erwägung 2

    2.- Der Vorplatz vor der Postgarage in Heiden wird von den in
den Boxen untergebrachten Postfahrzeugen benützt und ist daher eine
Strasse im Sinne von Art. 1 Abs. 1 VRV. Darüber, ob er gemäss Abs. 2
der genannten Bestimmung auch öffentlich sei, hat sich die Vorinstanz
nicht ausgesprochen, obwohl die Beschwerdeführerin - wie im Urteil
ausdrücklich vermerkt - bestritten hatte, dass jener Bodenfläche die
fragliche Eigenschaft zukomme. Die Sache ist daher an das Bezirksgericht
zur Klärung der Frage zurückzuweisen, ob der Vorplatz ausschliesslich
dem internen Betrieb der Postverwaltung (Ein- und Ausfahrt, Abstellen
der Wagen usw.) vorbehalten sei, oder ob er daneben auch öffentlichen
Zwecken diene. Das wäre beispielsweise dann anzunehmen, wenn der Vorplatz
zugleich als Haltestelle für Fahrgäste bestimmt wäre oder wenn er sonst
dem Fahr- oder auch nur dem Fussgängerverkehr in der oben umschriebenen
Weise offen stünde. Nicht zur öffentlichen Strasse wird dieser Vorplatz,
wenn er nur unbefugterweise auch von andern als den zum Postbetrieb
gehörenden Personen benutzt wird.

Erwägung 3

    3.- Für den Fall, dass der bezeichnete Vorplatz als öffentlich
angesehen werden müsste, ist zu untersuchen, ob und gegebenenfalls
inwiefern die Beschwerdeführerin eine Verkehrsregel verletzt habe, bezw. ob
die weiteren gegen das angefochtene Urteil erhobenen Einwendungen der
Beschwerde begründet seien.

    Die Vorinstanz nimmt eine Übertretung von Art. 37 Abs. 2 SVG an,
wonach Fahrzeuge dort nicht angehalten oder aufgestellt werden dürfen,
wo sie den Verkehr behindern oder gefährden könnten. Diese Beurteilung
ist nicht zu beanstanden. Entgegen der Auffassung der Beschwerdeführerin
gehört zum Verkehr im Sinne der angeführten Bestimmung auch die Ausfahrt
aus einer Garagenboxe auf einen Vorplatz. Unwesentlich ist dabei, ob ein
solcher Vorplatz auch dem durchfahrenden oder nur dem übrigen öffentlichen
Verkehr zugänglich sei. Dem widerspricht nicht die mit der Beschwerde
angerufene Bestimmung von Art. 36 Abs. 4 SVG, nach welcher der Führer, der
sein Fahrzeug in den Verkehr einfügen, wenden oder rückwärts fahren will,
andere Strassenbenützer nicht behindern darf, sondern ihnen den Vortritt zu
lassen hat. Diese Vorschrift gilt sinngemäss nur gegenüber dem fliessenden
Verkehr; sie gestattet keinem Motorfahrzeugführer, eine Ausfahrt durch
Anhalten oder Parkieren zu versperren oder zu gefährden. Art. 36 Abs. 4
SVG und die Ausführungsvorschrift von Art. 15 Abs. 3 VRV gehen daher
Art. 37 Abs. 2 SVG nicht, wie die Beschwerde meint, vor, sondern nach.

Erwägung 4

    4.- Wann gemäss Art. 37 Abs. 2 SVG der Verkehr behindert oder gefährdet
werden kann, ist in den Ausführungsvorschriften (Art. 18-21 VRV) näher
umschrieben, wobei für Halten und Parkieren Verschiedenes gilt.

    a) Nach Art. 19 Abs. 2 lit. g VRV ist das Parkieren vor Zufahrten zu
fremden Gebäuden oder Grundstücken untersagt. Unter Parkieren ist gemäss
Art. 19 Abs. 1 VRV das Abstellen des Fahrzeuges zu verstehen, das nicht
bloss dem Ein- und Aussteigenlassen von Personen oder Güterumschlag
dient. Darnach hat die Beschwerdeführerin ihren Wagen parkiert. Denn
nach ihrer eigenen Darstellung beschränkte sie sich nicht nur darauf,
Fahrgäste aufzunehmen, sondern sie stellte ihr Fahrzeug hinter den
für einen Sonderausflug vorgesehenen Gesellschaftswagen hin, um dessen
Abfahrt abzuwarten. Dass sie dies in ihrem Wagen sitzend tat und dabei den
Motor laufen liess, ändert nichts. Entscheidend ist, dass sie mit ihrem
Fahrzeug noch zu einem andern, als den im Gesetz (Art. 19 Abs. 1 VRV)
für das blosse Anhalten umschriebenen Zweck (Ein- und Aussteigenlassen
von Personen oder Güterumschlag) stehen blieb (vgl. BGE 89 IV 216 und 90
IV 232). Hat die Beschwerdeführerin auf diese Weise, wenn auch nur für
kurze Zeit, vor einer Zu- bezw. Ausfahrt parkiert, so machte sie sich der
Übertretung von Art. 19 Abs. 2 lit. g VRV schuldig, immer vorausgesetzt,
dass der Vorplatz dem öffentlichen Gebrauch dienstbar war.

    b) Darüber hinaus hat die Beschwerdeführerin ein öffentliches
Verkehrsmittel behindert, wozu entgegen ihrer Auffassung auch das aus
einer Boxe auf den Vorplatz fahrende Postauto gehört. Sie parkierte
demnach an einer Stelle, wo nach Art. 18 Abs. 3 VRV schon das blosse
Anhalten und deshalb nach Art. 19 Abs. 2 lit. a auch das Parkieren verboten
war. Diese Vorschrift hat die Beschwerdeführerin demnach auf alle Fälle
übertreten. Ist auch, wenn der Vorplatz öffentlich gewesen sein sollte,
Art. 19 Abs. 2 lit. g übertreten, so stehen die beiden Übertretungen in
Idealkonkurrenz zueinander.

Entscheid:

Demnach erkennt der Kassationshof:

    Die Nichtigkeitsbeschwerde wird dahin gutgeheissen, dass das Urteil
des Bezirksgerichtes Vorderland vom 7. Juli 1965 aufgehoben und die
Sache zu neuer Entscheidung im Sinne der Erwägungen an die Vorinstanz
zurückgewiesen wird.