Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 92 IV 1



92 IV 1

1. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 11. Februar 1966
i.S. X. gegen Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich. Regeste

    Art. 28 Abs. 1 und 220 StGB.

    1.  Eheleute, die wegen Verletzung in der elterlichen Gewalt
Strafantrag stellen, handeln nicht aus abgeleitetem, sondern aus eigenem
Rechte (Erw. a).

    2.  Auch kann diesfalls jeder der beiden Ehegatten das Antragsrecht
ausüben, ohne dass es der Zustimmung des andern bedürfte (Erw. b).

Sachverhalt

    A.- X. ist verheiratet und wegen Unzucht mit Kindern mehrfach
vorbestraft. Im Jahre 1964 unterhielt er mit der am 4. Januar 1948
geborenen Beatrice R. ein Liebesverhältnis. Als es deswegen am 2. November
zwischen Mutter und Tochter zu einer heftigen Auseinandersetzung kam, liess
sich Beatrice R. von X. überreden, mit ihm ins Ausland zu verreisen. Sie
fuhren über Deutschland nach Frankreich, wo sie sich bis Ende 1964
versteckt hielten.

    B.- Auf Antrag der Frau R., der Mutter von Beatrice, erklärte das
Obergericht des Kantons Zürich X. am 5. November 1965 der Entziehung einer
Unmündigen im Sinne von Art. 220 StGB schuldig und verurteilte ihn wegen
dieser sowie anderer Straftaten zu drei Monaten Gefängnis.

    C.- Der Verurteilte führt Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag,
ihn von der Anklage, sich nach Art. 220 StGB strafbar gemacht zu haben,
freizusprechen; eventuell sei die Sache zur Ergänzung des Sachverhaltes
an die Vorinstanz zurückzuweisen.

Auszug aus den Erwägungen:

Aus den Erwägungen:

    Der Beschwerdeführer macht geltend, mangels eines rechtsgenügenden
Strafantrages könne er nicht nach Art. 220 StGB bestraft werden. Er hält
dafür, dass der Strafantrag, um gültig zu sein, nicht nur von der Mutter,
sondern auch vom Vater der Beatrice R. hätte unterzeichnet werden müssen;
jedenfalls hätte die Mutter nicht ohne Zustimmung des Vaters handeln
dürfen. Dass dieser dem Antrag zugestimmt habe, sei aber nicht erwiesen.

    a) Als Verletzter im Sinne von Art. 28 StGB kommt nach ständiger
Rechtsprechung nur der Träger des unmittelbar angegriffenen Rechtsgutes
in Betracht; wer durch die strafbare Handlung bloss mittelbar (z.B. als
Angehöriger oder Gläubiger) betroffen worden ist, gilt nicht als verletzt
und ist folglich auch nicht antragsberechtigt (BGE 86 IV 82, 87 IV 106).

    Art. 220 StGB will im Unterschied zu Art. 185 StGB nicht die
Freiheit der unmündigen Person, sondern vor allem die Ausübung der
Rechte und Pflichten schützen, die dem Inhaber der elterlichen Gewalt
über den Unmündigen zustehen (vgl. HAFTER, Bes. Teil S. 443). Der Schutz
kommt freilich stets auch dem Minderjährigen zugute, da die elterliche
Gewalt ihren Sinn und Zweck im Wohle des Kindes hat. Ob die unmündige
Person deshalb als durch die Tat verletzt anzusehen sei, wenn sie den
Eltern entzogen oder vorenthalten wird, kann dahingestellt bleiben. Denn
verletzt sind auf jeden Fall die Eltern selber, hat die Tat für sie doch
zur Folge, dass sie ihre Befugnisse dem Kinde gegenüber nicht mehr ausüben
können. Wenn sie die Bestrafung des Täters verlangen, handeln sie daher
als unmittelbar betroffene Gewalthaber aus eigenem, nicht abgeleitetem
Rechte. Art. 28 StGB dient, zumal in Verbindung mit Art. 220 StGB, nicht
nur dem Schutze materieller Interessen, bei deren Verletzung übrigens
unabhängig vom Strafverfahren Schadenersatz verlangt werden kann, sondern
auch und in erster Linie dem Schutze ideeller Werte. Zu diesen gehört
auch das Interesse der Eltern, in der Ausübung ihrer Befugnisse über das
Kind nicht gestört zu werden (vgl. BGE 87 IV 110 Nr. 24).

    Besitzen die Eltern aber in Fällen, wie hier, ein eigenes und
selbständiges Antragsrecht, so lässt sich nicht sagen, Frau R. habe bloss
in Vertretung ihrer Tochter gehandelt, wie der Beschwerdeführer anzunehmen
scheint. Auch kommt nichts darauf an, ob ihr Vorgehen den Interessen der
Tochter entsprochen habe. Art. 28 StGB macht das Antragsrecht nicht davon
abhängig, dass das Wohl des geschädigten oder mitbetroffenen Kindes die
Strafverfolgung gegen den Täter nahe lege. Voraussetzung ist bloss, dass
der Antragsteller durch die Tat verletzt worden ist. Das aber traf hier
zu. Wieso Frau R. einzig deshalb, weil ihre Tochter als Zeugin beizuziehen
war, von der Strafverfolgung hätte Umgang nehmen sollen, ist übrigens
nicht zu ersehen. Das Strafverfahren dürfte für die nahezu siebzehnjährige
Beatrice R., wie sich bereits bei ihrer ersten Einvernahme zeigte, eher
heilsam gewesen sein und ihr den Bruch mit X. erleichtert haben.

    b) Durch das Verhalten des Beschwerdeführers wurde zwar auch der Vater
der Beatrice in seinen Elternrechten verletzt. Fragen kann sich deshalb
nur noch, ob Frau R. unbekümmert darum, dass ihr Mann für die Verfolgung
des Täters kein Interesse zeigte, für sich allein Strafantrag stellen
konnte und, wenn ja, ob sie hiezu der Zustimmung des Mannes bedurfte.

    Es kommt nicht selten vor, dass ein und dieselbe Straftat mehrere
Personen trifft. Ist sie nur auf Antrag strafbar, so kann nach Art. 28
Abs. 1 StGB jeder, der durch die Tat verletzt worden ist, die Bestrafung
des Täters verlangen. Das Antragsrecht steht dem einzelnen Verletzten
selbst dann zu, wenn ein anderer sich der Tat und ihren Folgen gegenüber
gleichgültig verhält. Daran ändert auch Art. 30 StGB nichts. Der Grundsatz
der Unteilbarkeit des Strafantrages bezieht sich nur auf Personen,
die als Mittäter, Anstifter oder Gehilfen an der Verwirklichung des
Straftatbestandes beteiligt sind (BGE 81 IV 274 Erw. 2); auf eine Mehrheit
von Verletzten findet er keine Anwendung.

    Das gilt auch bei Vergehen gegen die elterliche Gewalt im Sinne
von Art. 220 StGB. Gewiss haben die Eltern gemäss Art. 274 ZGB die Gewalt
während der Ehe gemeinsam auszuüben, und ist die Ehefrau in der praktischen
Ausübung insofern beschränkt, als sie im Einvernehmen mit dem Ehemann zu
handeln und bei Uneinigkeit seinen Willen als entscheidend anzuerkennen
hat (BGE 67 II 11/12). Am Recht der Ehefrau, selbständig Strafantrag zu
stellen, ändert dies jedoch nichts. Inhalt und Umfang der elterlichen
Gewalt ergeben sich aus den Art. 275-282 ZGB. Die Gewalt umfasst die
Fürsorge für die Person und das Vermögen der Kinder sowie deren Vertretung
in persönlichen und vermögensrechtlichen Angelegenheiten (Komm. EGGER,
N. 4 zu Art. 273 ZGB). Sie ausüben, heisst demgemäss, Entscheidungen
und Massnahmen im Sinne der angeführten Bestimmungen treffen. Die
Befugnis der Ehefrau, aus eigenem Rechte gegen einen Täter, der ihr ein
Kind entzogen hat, Strafantrag zu stellen, gehört offensichtlich nicht
zu den in Art. 275-282 ZGB umschriebenen Rechten, unterliegt folglich
weder der Zustimmung noch dem Entscheidungsrecht des Ehemannes. Es lässt
sich denn auch nicht sagen, die Ehefrau übe die elterliche Gewalt aus,
wenn sie wegen Verletzung in dieser Gewalt die Bestrafung des Täters
verlangt. Das Antragsrecht ist ein höchstpersönliches Recht, das jeder
der beiden Ehegatten ausüben kann, ohne dass es der Zustimmung des andern
bedürfte. Dass der Vater der Beatrice sich mit der Verletzung in der
elterlichen Gewalt abfand oder es jedenfalls nicht für notwendig hielt,
die Bestrafung des Beschwerdeführers zu verlangen, hinderte die Mutter
nicht, von dem ihr gemäss Art. 28 Abs. 1 StGB zustehenden Recht Gebrauch
zu machen. Die Vorinstanz ist deshalb mit Recht davon ausgegangen, der
Strafantrag der Frau R. sei gültig.