Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 92 II 68



92 II 68

11. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung vom 11. März 1966
i.S. Vollenweider gegen Agrarhandel AG. Regeste

    Revision (Art. 137 lit. a und b OG).

    1.  Haben die Strafbehörden durch Einstellungsbeschluss oder
Freisprechung die Begehung der im Revisionsgesuch behaupteten strafbaren
Handlung verneint, so ist ihr Entscheid für das Bundesgericht verbindlich
(Erw. 1). Es steht dem Bundesgericht in einem solchen Falle nicht zu,
anhand der Strafakten oder weiterer Beweismittel selbständig zu prüfen,
ob die betreffende Handlung doch begangen worden sei, wenn auch als nicht
strafbare (Erw. 2).

    2.  Die Revision eines Urteils des Bundesgerichtes kann nicht dadurch
erwirkt werden, dass zu einer schon im frühern Verfahren aufgestellten
Behauptung nachträglich ein Gutachten angerufen oder vorgelegt wird. Das
gilt sowohl dann, wenn durch ein neues Gutachten das Ergebnis einer
bereits erfolgten Begutachtung widerlegt werden will, als auch dann,
wenn im frühern Verfahren der Antrag auf Begutachtung abgelehnt (oder
nicht gestellt) wurde (Erw. 3).

Sachverhalt

                       Aus dem Tatbestand:

    Vollenweider war bis Ende Juni 1955 bei der Agrarhandel AG in Amriswil
angestellt. Auf Weisung des Verwaltungsratspräsidenten der Agrarhandel AG
und ihrer in Utzenstorf niedergelassenen Muttergesellschaft E. Steffen-Ris
AG beauftragte Buchhalter Keller in Utzenstorf mit Schreiben vom 8. Juli
1955 die Filiale Amriswil der Thurgauischen Kantonalbank, Vollenweider
Fr. 292.-- als Restanspruch Lohn Juni zur Verfügung zu halten und ihn
den Empfang des Betrages auf einer dem Schreiben beigelegten Quittung
bestätigen zu lassen. Die Zahlung erfolgte am 18. Juli 1955. Die von
Vollenweider unterzeichnete Quittung für die Agrarhandel AG nennt als
Schuldgrund "Lohn Rest-Guthaben pro Juni 1955, als Saldo aller Ansprüche".

    Mit Klage vom 12. Juni 1959 verlangte Vollenweider von seiner
frühern Arbeitgeberin unter anderm die Nachzahlung von Fr. 500.--
Lohn für den Monat Juni 1955. Er machte geltend, der Saldovermerk auf
der Quittung vom 18. Juli 1955 sei erst nach der Unterzeichnung durch
ihn angebracht worden. Nach Anhörung von Zeugen wies das Obergericht des
Kantons Thurgau die Klage ab. Es nahm an, die Saldoklausel habe sich schon
bei der Unterzeichnung der Quittung darauf befunden. Am 11. Februar 1963
bestätigte das Bundesgericht dieses Urteil.

    In der Folge erhob Vollenweider Strafklage wegen Urkundenfälschung. Die
Untersuchungsbehörde liess die Quittung vom 18. Juli 1955 durch einen
Schriftsachverständigen begutachten. Mit Beschluss vom 2. Dezember 1965
stellte die Anklagekammer des Kantons Thurgau das Strafverfahren ein.

    Das vor allem auf die Strafakten gestützte Gesuch Vollenweiders
um Revision des Urteils vom 11. Februar 1963 wird vom Bundesgericht
abgewiesen.

Auszug aus den Erwägungen:

                       Aus den Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- Der Gesuchsteller ist der Meinung, die Strafuntersuchung habe
durch das Gutachten Bachmann ergeben, dass die Quittung vom 18. Juli 1955
die Saldoklausel noch nicht enthalten habe, als er sie unterzeichnete. Es
liege also objektiv der Tatbestand der Urkundenfälschung vor. Damit sei
Art. 137 lit. a OG erfüllt, wonach die Revision eines bundesgerichtlichen
Entscheides zulässig ist, wenn auf dem Wege des Strafverfahrens
erwiesen wird, dass durch ein Verbrechen oder Vergehen zum Nachteil des
Gesuchstellers auf den Entscheid eingewirkt wurde.

    a) In BGE 81 II 478 Erw. 2 lit. b hat die I.  Zivilabteilung
entschieden, wenn ein Strafverfahren stattgefunden habe, könne das
behauptete Verbrechen oder Vergehen nur durch dieses Verfahren selber
bewiesen werden. Satz 2 von Art. 137 lit. a OG, wonach die Verurteilung
durch den Strafrichter nicht erforderlich ist, bedeute nicht, das
Bundesgericht müsse die im Strafverfahren erhobenen Beweise stets selber
würdigen und frei entscheiden. Es sei nur dann frei, wenn sich der
Strafrichter über die Begehung der strafbaren Handlung, z.B. wegen Todes
oder Unzurechnungsfähigkeit des Beschuldigten, nicht habe aussprechen
können. Wenn dagegen die Strafbehörde durch Einstellungsbeschluss oder
Freisprechung die Tatbestandsmerkmale der strafbaren Handlung verneint
habe, dürfe das Bundesgericht diesen Entsch eid nicht überprüfen.

    An dieser - in BGE 86 II 199 f. bestätigten - Rechtsprechung, gegen
die der Gesuchsteller nichts vorbringt, ist festzuhalten. Sie wird durch
Art. 137 lit. a Satz 3 OG gestützt.

    b) Die Anklagekammer des Kantons Thurgau hat das Strafverfahren mit der
Begründung eingestellt, die Untersuchung, besonders das Schriftgutachten,
habe wohl ergeben, dass die Saldoklausel der umstrittenen Quittung erst
in einem zweiten Schriftgang beigefügt wurde, doch lasse sich nicht mehr
feststellen, wer sie schrieb und in welchem Zeitpunkt das geschah. Mit
an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit müsse nur angenommen werden,
dass die Quittung in Utzenstorf im Büro der Firma Steffen vorbereitet und
am 18. Juli 1955 auf der Filiale Amriswil der Thurgauischen Kantonalbank
datiert und von Vollenweider unterzeichnet wurde. Ob der beanstandete
Nachsatz damals noch nicht auf der Quittung stand, stehe bereits nicht mehr
mit Sicherheit fest, wenn es auch eher unwahrscheinlich sei. Die Frage
aber, wo und allenfalls von wem dieser Nachsatz nachträglich beigefügt
worden sei, habe überhaupt nicht abgeklärt werden können.

    Der Einstellungsbeschluss wurde also nicht wegen Unmöglichkeit
des Strafverfahrens, sondern deshalb gefasst, weil schon der objektive
Tatbestand der Urkundenfälschung nicht habe bewiesen werden können und
auch nicht feststehe, wer sie begangen hätte. Hieran ist das Bundesgericht
gebunden. Es darf nicht prüfen, ob die Anklagekammer den Beweis anders
hätte würdigen sollen. Der Revisionsgrund von Art. 137 lit. a OG liegt
also nicht vor.

Erwägung 2

    2.- Der Gesuchsteller macht geltend, "die Feststellungen in der
Strafuntersuchung, insbesondere des Experten Bachmann zur Urkunde, wären
natürlich eventuell neue Tatsachen im Sinne von Art. 137 lit. b OG". Damit
will er wahrscheinlich sagen, die Behauptung, die Saldoklausel sei der
Quittung vom 18. Juli 1955 erst nach der Unterzeichnung beigefügt worden,
müsse unabhängig von der Frage, ob eine strafbare Handlung vorliege,
anhand der erst durch die Strafuntersuchung zutage geförderten Indizien
neu geprüft (und bejaht) werden.

    Diese Auffassung widerspricht der schon angeführten Rechtsprechung,
wonach das Bundesgericht an einen die strafbare Handlung verneinenden
Entscheid der Strafbehörden gebunden ist. Diese Bindung schliesst aus,
dass das Bundesgericht anhand der Strafakten oder weiterer Beweismittel
selbständig prüfe, ob die betreffende Handlung doch begangen worden sei,
wenn auch als nicht strafbare.

    Übrigens hat die Strafuntersuchung keine Tatsachen aufgedeckt, die
erheblich wären...

Erwägung 3

    3.- Das Gutachten Bachmann ist auch nicht etwa ein neues entscheidendes
Beweismittel im Sinne von Art. 137 lit. b OG. Abgesehen davon, dass es,
wie ausgeführt, nicht entscheidend ist, kann die Revision eines Urteils
des Bundesgerichtes nicht dadurch erwirkt werden, dass zu einer schon
im Prozess aufgestellten Behauptung nachträglich ein Gutachten angerufen
oder vorgelegt wird. Das Bundesgericht hat so entschieden in einem Falle,
wo durch ein neues Gutachten das Ergebnis einer bereits im frühern Prozess
erfolgten Begutachtung widerlegt werden wollte (BGE 86 II 386). Gleiches
muss gelten, wenn der Antrag auf Begutachtung in vorweggenommener Würdigung
des mutmasslichen Ergebnisses abgelehnt wurde. Das traf im vorliegenden
Falle zu. Der Gesuchsteller stellte im kantonalen Verfahren den Antrag
auf Begutachtung, und das Bundesgericht ging davon aus, die Vorinstanz habe
die Abnahme weiterer Beweise zur Frage, ob die Saldoklausel erst nach der
Unterzeichnung der Quittung hinzugefügt worden sei, in vorweggenommener
Würdigung des Beweises abgelehnt. Damit war die Frage, ob der Gesuchsteller
versuchen dürfe, seine Behauptung durch ein Gutachten zu beweisen,
ein für allemal verneint. Würde Art. 137 lit. b OG anders ausgelegt,
so hätten die Parteien es in der Hand, die Beweiswürdigung nachträglich
immer wieder durch Gutachten anzufechten. Das ist nicht der Sinn der
Bestimmung. Sie will nur Beweismittel zulassen, die der Gesuchsteller
"im frühern Verfahren nicht beibringen konnte", wobei "können" nicht
"dürfen", sondern eine tatsächliche Fähigkeit bedeutet. Gutachten können
die Parteien im Prozess immer anrufen. Der Umstand, dass der Richter sie
nicht zulässt, besonders weil er sie als unerheblich erachtet, bildet
keinen Grund, sie unter dem Gesichtspunkt von Art. 137 lit. b OG nach
dem Abschluss des Prozesses dann doch zuzulassen.