Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 92 II 137



92 II 137

22. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung vom 29. September 1966
i.S. B. gegen B. Regeste

    Scheidungsklage eines psychopathischen Ehegatten gegen den gesunden
Ehepartner wegen tiefer Zerrüttung, die überwiegend dem anormalen
Geisteszustand des Klägers zuzuschreiben ist. Der Klage aus Art. 142 ZGB
steht Art. 141 nicht entgegen.

Sachverhalt

    In Gutheissung der vierten Scheidungsklage der Ehefrau, der sich
der Mann widersetzte, sprachen die Vorinstanzen die Scheidung der Ehe
gemäss Art. 142 ZGB aus. Mehrere in den Jahren 1959, 1963 und 1966
eingeholte psychiatrische Gutachten hatten ergeben, dass die Klägerin
nicht an eigentlicher Geisteskrankheit oder -schwäche leidet, jedoch
von schizoider Charakterart mit einer reaktiv-neurotischen Entwicklung
ist, die teils auf Umwelteinflüsse, teils auf ihre schizoide Artung
zurückgeht. Dieser Geisteszustand wirkte sich auf die Ehe nachteilig aus,
indem die Klägerin nicht genügend fähig zur Einfühlung und Anpassung war,
ohne dass ihr Verhalten ihr als Eigensinn oder gar Bosheit angerechnet
werden darf. Ihre Aussagen, sie empfinde keinerlei Gefühl mehr für ihren
Mann und es sei ihr seelisch unmöglich, länger bei ihm auszuharren, sind
keine Ausreden, sondern beruhen auf einer tiefeingewurzelten seelischen
Verfassung. Dieser Geisteszustand ist willensmässig nicht beeinflussbar
und auch nicht auf ein erträgliches Mass reduzierbar; die Klägerin ist
auf Grund dieser abnormen Veranlagung und Entwicklung in Bezug auf ihre
Einstellung zum Ehemann in ihrer Willensfreiheit sehr stark eingeschränkt.
Mehrjährige psychiatrische Behandlung war erfolglos geblieben. Wegen dieses
Geisteszustandes kann der Klägerin die Aufrechterhaltung der Ehe nicht
mehr zugemutet werden; er ist die überwiegende Ursache der Zerrüttung.

    Mit der vorliegenden Berufung hält der beklagte Ehemann an
seinem Widerstand gegen die Scheidung fest. Zur Begründung führt er
im wesentlichen aus, nach bundesgerichtlicher Rechtsprechung fielen
unter den Begriff der Geisteskrankheit nach Art. 141 ZGB nicht nur die
Geisteskrankheit im medizinischen Sinne, sondern auch andere psychische
Störungen, die sich auf die Ehe ähnlich nachteilig auszuwirken vermöchten
wie eine eigentliche Geisteskrankheit (BGE 73 II 5). Um solch abnormales
Verhalten handle es sich bei der Klägerin. Liege aber eine solche
gleich wirkende Störung vor und sei die Zerrüttung der Ehe allein darauf
zurückzuführen, so könne nur der andere, gesunde Ehegatte die Scheidung
durchsetzen. Ferner ergebe sich aus den Akten, dass den Beklagten kein
Verschulden treffe; dem Schuldlosen dürfe aber nach BGE 84 II 336 die
Scheidung trotz gegebenem Scheidungsgrund nicht aufgedrängt werden,
sonst würde der Ehegatte, der an der Ehe festhalten wolle, bestraft.
Der Beklagte habe an der Aufrechterhaltung der Ehe ein legitimes Interesse,
da er die Familie zusammenhalten und den Kindern eine rechte Erziehung
angedeihen lassen wolle.

Auszug aus den Erwägungen:

              Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Der Berufungskläger bestreitet die von der Vorinstanz bejahte tiefe
Zerrüttung des ehelichen Verhältnisses nicht mehr ausdrücklich, ebensowenig
die Annahme, gestützt auf die psychiatrischen Feststellungen sei der
Klägerin die Fortsetzung der Ehe nicht mehr zumutbar. Dagegen wendet er
in erster Linie ein, die Ehe hätte nur auf sein, des Ehemannes, Begehren
geschieden werden dürfen, da nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts
(73 II 4) die Ehefrau als geisteskrank im Sinne von Art. 141 ZGB gelten
müsse, nach dieser Bestimmung aber nur der gesunde Ehegatte auf Scheidung
klagen könne.

    Soweit indessen der Beklagte aus diesen beiden Momenten folgern
will, der im weiteren Sinne des zit. Entscheides geisteskranken Klägerin
komme überhaupt kein Scheidungsanspruch zu, geht die Berufung auf jene
Rechtsprechung fehl. Gewiss gewährt Art. 141 ZGB nur dem gesunden Eheteil
die Berufung auf die Geisteskrankheit des andern als Scheidungsgrund. Das
Gesetz verschafft damit in Durchbrechung des Grundsatzes, dass Krankheit
des andern Ehegatten im allgemeinen keinen Scheidungsgrund bildet,
dem gesunden Eheteil die Möglichkeit, die Scheidung zu erlangen, selbst
ungeachtet allfälligen eigenen, u.U. beträchtlichen Verschuldens. Der
Ausnahmecharakter der Bestimmung wird betont durch die von ihr für
die Durchsetzbarkeit dieses Anspruchs aufgestellten Kautelen. Ist
also der Scheidungsgrund des Art. 141 in der Tat nur zugunsten des
gesunden Ehegatten gegeben, weil nur mit Bezug auf ihn die Ausnahme von
der allgemeinen Regel einen Sinn hat, so ist damit jedoch keineswegs
gesagt, dass der kranke Ehegatte seinerseits von jedem Klagerecht auf
Scheidung ausgeschlossen sei. Mindestens soweit der im Sinne von BGE
73 II 5 geistig Kranke prozessual handlungsfähig ist, kann ihm das
Klagerecht nicht abgesprochen und könnte ihm z.B. die Berufung auf
den Ehebruch des andern, gesunden Ehepartners nicht verweigert werden.
Ebensowenig aber kann in analogen Fällen dem kranken Teil das Klagerecht
aus Art. 142 ZGB schlechtweg versagt werden, selbst wenn seine Krankheit
die Ursache für die Zerrüttung der Ehe gebildet hat (aaO Erw. 1 a.A.;
HINDERLING, Ehescheidungsrecht S. 74; ferner die von der Vorinstanz zit.
Urteile SJZ 33 S. 375 Nr. 272, Maximen des luz. Obergerichts IX/649). Die
bundesgerichtliche Rechtsprechung hat denn auch zumindest in den Fällen,
in denen die Geisteskrankheit im weiteren Sinne nicht die alleinige
Ursache der Zerrüttung bildete, die Klage auch des kranken Ehegatten
gestützt auf Art. 142 ZGB zugelassen (BGE aaO; nicht publ. Urteile vom
21. Oktober 1948 i.S. Hegglin, Erw. 3 [Kritik dazu von HINDERLING in SJZ
45 S. 289 i.f.]; vom 4. Oktober 1950 i.S. Meesmann). In den letzterwähnten
Urteilen, bei denen es sich - wie vorliegend - um die Scheidungklage
des psychopathischen Ehegatten gegen den gesunden aus Art. 142 handelte,
führte das Bundesgericht aus, bei dieser Prozessrollenverteilung unterstehe
die Klage nicht den Kautelen gemäss Art. 141 ZGB und stehe ihr Art. 142
Abs. 2 nur insofern entgegen, als die Verantwortlichkeit des Klägers für
sein ehezerrüttendes Verhalten durch die Krankheit nicht aufgehoben sei.

    Ein Fall der letztern Art zumindest liegt hier vor, stellt die
Vorinstanz doch einleuchtend fest, die Ursache der Ehezerrüttung liege
wenn nicht ganz, so doch sicher überwiegend in objektiven Faktoren -
eben in der psychischen Abartigkeit der Klägerin - begründet. Dass alle
die Ehe störenden Handlungen und Verhaltensweisen der Klägerin auf diese
objektiven Zerrüttungsfaktoren zurückzuführen seien, ist nicht anzunehmen;
auch dies stände übrigens der Klage aus Art. 142 nicht entgegen, da in
diesem Falle die Zerrüttung zwar Ursachen in der Person der Klägerin
zuzuschreiben wäre, die jedoch nicht schuldhafter Natur wären, wie
Art. 142 Abs. 2 voraussetzt. Die Berufung darauf, die Klägerin müsse
als geisteskrank im Sinne der Rechtsprechung bezeichnet werden und ihr
Klagerecht entfalle somit von vorneherein, ist deshalb nicht stichhaltig.

Erwägung 2

    2.- Hat die Vorinstanz demnach zu Recht das Scheidungsbegehren
der Klägerin unter dem Gesichtspunkt des Art. 142 ZGB behandelt, so
ist unabhängig von der Stellungnahme des Beklagten zu prüfen, ob das
eheliche Verhältnis unheilbar zerrüttet ist und - da der Beklagte sich
der Scheidung widersetzt - ob nicht ein kausales Verschulden der Klägerin
ihr Klagerecht ausschliesst. In beiden Hinsichten sind die Tatsachen,
die von der Vorinstanz zum Nachweis der Zerrüttung und ihres Grades
angeführt werden, ebenso ihre Feststellungen über die ursächliche Wirkung
jener Tatsachen auf die Zerrüttung - Kausalität, auch auf dem Gebiet der
innern, psychischen Vorgänge (BGE 69 II 355, 71 II 51, 80 II 4, u.a.) -
für das Bundesgericht verbindlich (Art. 63 Abs. 2 OG). Offensichtliches
Versehen oder Verletzung bundesrechtlicher Beweisvorschriften im Sinne
dieser Bestimmung bei den vorinstanzlichen Feststellungen ist weder
behauptet noch ersichtlich.

    Rechtsfrage dagegen und vom Bundesgericht zu überprüfen ist, ob die
Zerrüttung so tief ist, dass der Klägerin die Fortsetzung der ehelichen
Gemeinschaft nicht zugemutet werden kann, ferner ob und in welchem Masse
die als kausal festgestellten Zerrüttungsfaktoren der einen oder andern
Partei zum Verschulden angerechnet werden müssen, und gegebenenfalls ob
im Ganzen die Klägerin ein vorwiegendes, d.h. ein allfälliges Verschulden
des Beklagten plus objektive Zerrüttungsfaktoren überwiegendes kausales
Verschulden trifft (BGE 77 II 200, 74 II 1, 4; Urteile vom 19. Dezember
1963 i.S. Fischer, vom 12. Mai 1966 i.S. Mattmann, nicht publ.).

    (Berufung abgewiesen).