Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 91 I 94



91 I 94

16. Auszug aus dem Urteil vom 12. Mai 1965 i.S. Cemin gegen Gemeinderat
Wattwil und Regierungsrat des Kantons St. Gallen. Regeste

    Abänderung von Verwaltungsakten, Abbruch eines nicht bewilligten
Bauteiles. Art. 4 BV.

    Die Baubewilligung ist eine Verwaltungsverfügung und wird als solche
zwar formell, aber nicht materiell rechtskräftig. Ob eine materiell
rechtswidrige Verfügung zurückgenommen oder abgeändert werden darf,
hängt - soweit darüber nicht positive Vorschriften bestehen - von einer
Abwägung der Interessen ab, die einerseits an der Verwirklichung des
objektiven Rechtes und anderseits an der Vermeidung von Rechtsunsicherheit
bestehen. Abwägung dieser Interessen, wenn nicht der Baubewilligung
entsprechend gebaut wurde.

Auszug aus den Erwägungen:

                       Aus den Erwägungen:

Erwägung 3

    3.- Der Regierungrat hat zur Begründung des angefochtenen Entscheides
im wesentlichen ausgeführt, der Beschwerdeführer habe sich in einer
Weise, "die jede geregelte Bauweise verunmöglichen würde", über die
Baubewilligung des Gemeinderates hinweggsetzt. Der Einwand, der errichtete
Balkon entspreche dem örtlichen Baurecht, hätte mit einem Rekurs gegen
die Baubewilligung geltend gemacht werden müssen und sei gegenüber der
rechtskräftig gewordenen Baubewilligung nicht mehr zulässig. - Nach
Auffassung des Beschwerdeführers verstösst diese Argumentation gegen
Art. 4 BV und gegen die Eigentumsgarantie (Art. 31 KV).

    Die Verletzung der Eigentumsgarantie erblickt der Beschwerdeführer
darin, dass der Regierungsrat einen "Grundsatz des öffentlichen Baurechts"
missachtet habe. Dass dieser "Grundsatz" selber dem Verfassungsrecht
angehöre, behauptet die Beschwerde nicht. Handelt es sich aber um
eine Regel, die dem kantonalen Gesetzesrecht oder dem Gemeinderecht
angehört, so prüft das Bundesgericht deren Verletzung auch im Rahmen der
Eigentumsgarantie nur unter dem beschränkten Gesichtswinkel von Art. 4
BV. Eine Ausnahme besteht nur, wenn es sich um einen schweren Eingriff
in das Privateigentum handelt, der wesentlich über das hinaus geht, was
in der Schweiz bisher als öffentlich-rechtliche Eigentumsbeschränkung
üblich war: Ein solcher Eingriff ist nach der Praxis nur zulässig,
wenn er auf einer klaren gesetzlichen Grundlage beruht (BGE 89 I 467
mit Verweisungen). Die Vorschriften über die Abstände von Bauten von
der Strasse, über die zulässige Ausladung von Vorbauten und dergleichen
gehören zum traditionellen Baupolizeirecht (vgl. ZSR 1947 324 a). Beide
vom Beschwerdeführer in diesem Zusammenhange erhobenen Rügen sind demnach
nur unter dem Gesichtspunkte der Willkür und rechtsungleicher Behandlung
zu überprüfen.

    a) Die Baubewilligung ist eine Verwaltungsverfügung. Als solche erlangt
sie formelle Rechtskraft (Urteil des Bundesgerichtes vom 7. Februar 1962,
veröffentlicht in den aargauischen Gerichts-und Verwaltungsentscheiden
1962 S. 300) und kann deshalb mit keinem ordentlichen Rechtsmittel mehr
angefochten werden (GULDENER, Zivilprozessrecht, 2. Auflage S. 301);
materiell rechtskräftig wird sie dagegen nicht (Urteil des Bundesgerichtes
vom 13. Februar 1963, veröffentlicht in ZBl 1963 S. 468). Der Eigenart des
öffentlichen Rechtes und der Natur des öffentlichen Interesses entspricht
es, dass ein nicht der Rechtsordnung entsprechender Verwaltungsakt
nicht unabänderlich sein kann. Anderseits kann es die Rechtssicherheit
erheischen, dass eine formell rechtskräftige Verwaltungsverfügung nicht
nachträglich in Frage gestellt wird. Ob eme materiell rechtswidrige
Verfügung zurückgenommen oder abgeändert werden darf, hängt deshalb,
soweit darüber nicht positive Vorschriften bestehen, von einer Abwägung
der Interessen ab, die einerseits an der Verwirklichung des objektiven
Rechtes und anderseits an der Vermeidung von Rechtsunsicherheit bestehen
(BGE 78 I 406 mit Verweisungen). Das Postulat der Rechtssicherheit geht
unter anderem dann vor, wenn durch den Verwaltungsakt subjektive Rechte
begründet wurden, wenn die Verfügung auf Grund eines Einsprache- und
Ermittlungsverfahrens erlassen wurde, dessen Aufgabe in der allseitigen
Prüfung des öffentlichen Interesses und seiner Abwägung gegenüber dem
ihm entgegengesetzten Privatinteresse besteht, und wenn der Private von
einem ihm eingeräumten Recht schon Gebrauch gemacht hat (BGE 78 I 407).

    Der Errichtung der fraglichen Baute des Beschwerdeführers ist ein
Einsprache- und Ermittlungsverfahren gemäss Art. 86 ff. der Bauordnung der
Gemeinde Wattwil vom 5. Januar 1909 (BOW) vorangegangen. Dabei wurde vor
allem auch die Frage geprüft und erörtet, welche Ausladung für den Balkon
zulässig sei. Durch die hernach erteilte Baubewilligung ist auf keinen Fall
ein subjektives Recht des Beschwerdeführers auf Erstellung eines Balkons
von 1,20 m Ausladung begründet worden. Von einem solchen Recht konnte
demnach auch kein Gebrauch gemacht werden. An die ihm erteilte Bewilligung
hat sich der Beschwerdeführer in der Folge nicht gehalten, obschon er
sie nicht angefochten hatte. Der Einwand, die Baubewilligung habe keine
Rechtsmittelbelehrung enthalten, wird erstmals vor dem Bundesgericht
erhoben und ist daher nicht zu würdigen (BGE 89 I 244/245). Abgesehen davon
und ohne Rücksicht darauf, ob er schon früher einen Baurekurs erhoben hatte
oder nicht, musste es dem Beschwerdeführer auch klar sein, dass es jeder
Ordnung widerspricht, zunächst eine Baubewilligung einzuholen und alsdann,
ohne sich um eine Änderung dieser Bewilligung zu bemühen, das zu tun, was
darin ausdrücklich verboten worden war. In einem solchen Falle anzunehmen,
das von der Behörde zu wahrende Rechtssicherheitsinteresse prävaliere
gegenüber dem Privatinteresse des Beschwerdeführers an der richtigen
Anwendung des Baupolizeirechtes, war mindestens nicht willkürlich. Dabei
lässt sich der Begriff der Rechtssicherheit hier in einem doppelten Sinne
verstehen: als Sicherheit, dass die formell rechtskräftig zugelassene
Ausladung des Balkons nicht überschritten werde, aber auch als Sicherheit,
dass die mutwillige Verletzung der Baubewilligung nicht nachträglich ohne
triftigen Grund belohnt werde. Im Vordergrunde steht nicht die Bestrafung
des Bauherrn, sondern die Bewährung der baurechtlichen Verfahrensordnung,
die einer allgemeinen Unordnung weichen müsste, wenn das Verhalten des
Beschwerdeführers Schule machen sollte: Bei den mit der Durchführung des
baupolizeilichen Bewilligungsverfahrens betrauten Behörden würde leicht
der Eindruck entstehen, es sei gleichgültig, ob und wie sie ihre Aufgabe
erfüllen. Der angefochtene Entscheid lässt sich demnach mit guten Gründen
vertreten, sodass er dem Vorwurf der Willkür standhält. In diesem Sinne
hat das Bundesgericht auch in einem nicht veröffentlichten Entscheid vom
22. Juni 1960 i.S. Brodard erklärt, der Staatsrat des Kantons Freiburg
habe nicht willkürlich entschieden, als er den Abbruch eines nicht
bewilligten Bauteiles angeordnet habe. Beigefügt wurde allerdings, der
Abbruch hätte nicht verlangt verden können, wenn die Unterschiede gegenüber
der Baubewilligung "minimes ou sans importance pour l'intérêt public"
gewesen wären. Dass das hier zutreffe, behauptet die Beschwerde nicht.

    Die bisherigen Ausführungen sind auch mit dem Text der Bauordnung
Wattwil vereinbar. Nach Art. 98 BOW kann der Bauherr zum Abbruch
von Bauten, "die plan- und vorschriftswidrig errichtet worden sind",
verpflichtet werden. Auf Grund dieser Formulierung lässt sich ohne
Willkür annehmen, eine Baute sei planwidrig, wenn sie dem genehmigten
Bauplan widerspricht, und sie sei vorschriftswidrig, wenn sie einer
in der Baubewilligung enthaltenen Vorschrift nicht entspricht. Der
Beschwerdeführer macht demgegenüber unter Hinweis auf Entscheide kantonaler
Regierungen und die Ansicht verschiedener Autoren geltend, auszulegen sei
die angeführte Bestimmung in dem Sinne, dass eine Baute nur abgebrochen
werden müsse, wenn sie dem Quartierplan und der Gemeindebauordnung
widerspreche. Hierzu ist festzuhalten, dass nicht alle der vom
Beschwerdeführer angerufenen Autoren und Entscheide die Frage behandeln,
was mit einem in der Baubewilligung ausdrücklich verbotenen Bauteil zu
geschehen habe; soweit sie sich mit dem Problem überhaupt befassen, tun
sie dies unter dem Gesichtswinkel freier Kognition. Nirgends aber wird die
Meinung vertreten, es gebe für den Abbruch einer Baute, die der Bauherr mit
Vorbedacht entgegen der unangefochten gebliebenen Baubewilligung erstellt
hat, überhaupt keine vertretbaren Gründe. Willkürlich wäre indessen die
Anordnung des Abbruches bereits ausgeführter Bauteile nur in diesem Falle.

Entscheid: