Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 91 I 90



91 I 90

15. Auszug aus dem Urteil vom 5. Mai 1965 i.S. Mosimann gegen Suhner AG,
Gemeinderat von Herisau und Regierungsrat von Appenzell A. Rh. Regeste

    Art. 4 BV, Art. 88 OG.

    Die Parteien haben im Verwaltungsstreitverfahren schon unmittelbar
auf Grund des Art. 4 BV ein Recht auf Teilnahme an einem Augenschein. Die
Rüge der Verletzung dieses Anspruchs und des Rechts auf prozessuale
Gleichbehandlung steht auch einer Partei zu, die nicht zur Anfechtung
des Sachurteils befugt ist.

Sachverhalt

    Mosimann beanstandete in einer Einsprache gegen das Baugesuch seiner
Nachbarin Suhner AG die Höhe des geplanten Baues. Der Gemeinderat von
Herisau lehnte die Einsprache ab, weil die Voraussetzungen, worunter
das Gemeindebaureglement Ausnahmen von den Bauhöhenvorschriften gestatte,
erfüllt seien. Mosimann rekurrierte dagegen. Im Rekursverfahren besichtigte
der mit der Instruktion beauftragte Vorsteher der Gemeindedirektion in
Begleitung eines Vertreters der Suhner AG den Bauplatz. Der Regierungsrat
wies hierauf den Rekurs ab. Er führte dazu aus, der Augenschein habe
ergeben, dass sich der geplante Bau harmonisch in das Quartier einfügen
werde. Der Bau überschreite das reglementarische Höchstmass nur um 50
cm. Der Gemeinderat sei nach den Umständen berechtigt gewesen, diese
Mehrhöhe zu bewilligen.

    Mosimann führte gegen den Entscheid des Regierungsrates
staatsrechtliche Beschwerde wegen Verletzung des Art. 4 BV und der
Eigentumsgarantie. Das Bundesgericht hat die Beschwerde im Sinne der
Erwägungen gutgeheissen, soweit es darauf eingetreten ist.

Auszug aus den Erwägungen:

                       Aus den Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- Nach BGE 74 I 168 Erw. 3 (mit Verweisungen), 89 I 209 Erw. 4
und 279 kann derjenige, dem "die Legitimation in der Sache fehlt",
auch nicht geltend machen, der angefochtene Entscheid beruhe auf
Verfahrensmängeln. BGE 90 I 66 Erw. 2 hält an dieser Rechtsprechung
fest, weist jedoch verdeutlichend darauf hin, dass die willkürliche
Beurteilung eines Ausstands- oder Ablehnungsgesuches mehr als ein
blosser Verfahrensmangel im angegebenen Sinne sei: Art. 4 BV verleihe
einer Partei den Anspruch darauf, dass ihre Rechtsbegehren von der
ordnungsgemäss besetzten Behörde beurteilt werden; die Partei müsse sich
deshalb gegen eine behauptete fehlerhafte Abweisung eines Ablehnungs-
oder Ausstandsgesuches auch dann mit der staatsrechtlichen Beschwerde zur
Wehr setzen können, wenn sie den in der Sache ergangenen Entscheid mangels
eigener materieller, rechtlich geschützter Interessen nicht anfechten
dürfe. Bei der Besprechung dieses Urteils befürwortet BONNARD (JdT 1965
I S. 18/19), die darin gewonnene Erkenntnis auf den Fall auszudehnen,
da einem Bürger oder einer Korporation das Recht verweigert worden ist,
in einem Zivil-, Straf- oder Verwaltungsverfahren nach Massgabe des
Gesetzes als Partei aufzutreten; denn auch in diesem Falle stehe eine
Missachtung unmittelbar auf der Verfassung beruhender Rechte in Frage.

    In der vorliegenden Beschwerde wird dem Regierungsrat in erster
Linie vorgeworfen, er habe Art. 4 BV dadurch verletzt, dass der mit
der Instruktion beauftragte Sachbearbeiter dem Beschwerdeführer
keine Gelegenheit bot, an dem in Begleitung eines Vertreters der
Beschwerdegegnerin vorgenommenen Augenschein teilzunehmen. Es wird
damit eine Verletzung unmittelbar aus Art. 4 BV fliessender Rechte
behauptet: des Anspruchs auf Teilnahme an einer Beweisverhandlung im
Verwaltungsstreitverfahren einerseits und des Anspruchs auf prozessuale
Gleichbehandlung andererseits. Im Lichte von BGE 90 I 66 Erw. 2 kann
es dem Beschwerdeführer nicht versagt sein, diese verfassungsmässigen
Ansprüche mit der staatsrechtlichen Beschwerde wahrzunehmen, unabhängig
davon, ob er zur Anfechtung des die Sache betreffenden Entscheides befugt
sei oder nicht. Auf die Beschwerde ist daher insoweit einzutreten.

Erwägung 2

    2.- Der Kanton Appenzell A.Rh. und die Gemeinde Herisau haben das
Baueinspracheverfahren und das daran anschliessende Rechtsmittelverfahren
als Verwaltungsstreitverfahren ausgebildet. Sie räumen dem Nachbar,
der gegen ein Baugesuch Einsprache erhoben hat, Parteistellung ein. Der
Beschwerdeführer hat im Rahmen dieses Einspracheverfahrens gehandelt:
er hat vor den kantonalen Instanzen nicht als Popularkläger die Belange
Dritter. oder der Öffentlichkeit, sondern seine eigenen (tatsächlichen
oder rechtlichen) Interessen als Eigentümer einer dem Bauplatz benachbarten
Liegenschaft wahrgenommen.

    Gleich wie im Zivilprozess (GULDENER, Schw. Zivilprozessrecht,
2. Aufl., S. 152 Ziff. 6, S. 350 oben) und im Strafprozess, haben die
Parteien in einem Verwaltungsstreitverfahren schon unmittelbar auf Grund
des Art. 4 BV einen Anspruch darauf, an einem Augenschein teilzunehmen
(ZBl 1960 S. 591; IMBODEN Schw. Verwaltungsrechtsprechung, 2. Aufl., S. 321
c; TINNER, Das rechtliche Gehör, ZSR 83 II S. 352). Zwar ist es denkbar,
dass in einem Verwaltungsverfahren ausnahmsweise schützenswerte Interessen
Dritter oder des Staates oder aber eine besondere zeitliche Dringlichkeit
den Beizug der Parteien zu einem Augenschein ausschliessen. Der
Regierungsrat beruft sich jedoch nicht auf das Vorliegen solcher
Umstände. Er wendet vielmehr ein, die Besichtigung, die der mit der
Instruktion beauftragte Gemeindedirektor in Anwesenheit eines Vertreters
der Beschwerdegegnerin vornahm, sei gar kein eigentlicher Augenschein,
sondern lediglich eine "informelle Orientierung" gewesen. Diese
Unterscheidung ist unbegründet. Der Gemeindedirektor traf bei der
Besichtigung Feststellungen über die bauliche Ausgestaltung der Umgebung
und die Anpassung des Neubaus an die Nachbarschaft. Seine Wahrnehmungen
bezogen sich auf Tatsachen, die als beweisbedürftig zu gelten hatten, weil
sie nach der Betrachtungsweise des Regierungsrates für die Entscheidung
erheblich waren und weil sie weder offenkundig (notorisch), noch ohne
weiteres aus den Plänen und übrigen Akten ersichtlich waren (vgl. ZBl
1964 S. 163 Erw. 7). Der Regierungsrat hat denn auch in seinem Entscheid
ausdrücklich auf das Ergebnis der Ortsschau abgestellt. Ungeachtet dessen,
in welchen Formen diese durchgeführt wurde, handelte es sich dabei um
eine Beweiserhebung, zu der die Parteien beizuziehen waren. Wenn der
Regierungsrat das dem Beschwerdeführer gegenüber unterlassen hat, so hat
er diesem damit das rechtliche Gehör verweigert.

    Der Regierungsrat hat bei der nämlichen Gelegenheit auch den Grundsatz
der prozessualen Gleichbehandlung verletzt, indem er die Beschwerdegegnerin
zu dem ohne Wissen des Beschwerdeführers vorgenommenen Augenschein
einlud. Die Teilnahme des Vertreters der Beschwerdegegnerin lässt sich
dabei nicht als blosse Formsache abtun. In der Beschwerdeantwort stellt
sie selber fest, sie habe sich vertreten lassen, um dem Gemeindedirektor
im Bedarfsfalle Erläuterungen zu den Plänen abgeben zu können, und um
"Unklarheiten, die sich bei kursorischer Durchsicht des Plansatzes
ergeben konnten, anhand der Pläne und der Visiere zu beheben und damit
eine rasche Abwicklung der Besichtigung zu ermöglichen". Dem Vertreter
der Beschwerdegegnerin war auf diese Weise die Möglichkeit geboten, sich
zumindest zur tatsächlichen Seite der Streitsache und zum Ergebnis des
Augenscheins zu äussern. Dem Beschwerdeführer wurde kein entsprechendes
Recht eingeräumt. Das stellt eine Rechtsungleichheit dar.

    Dass die kantonalen Instanzen in einem vorausgegangenen
Verfahrensstadium auch der Beschwerdegegnerin das rechtliche Gehör
verweigert haben sollen (indem sie ihr den Entscheid des Gemeinderates
erst verspätet zustellten und sie nicht zur Beantwortung der Rekursschrift
des Beschwerdeführers einluden), ist in diesem Zusammenhang ohne Belang,
da die eine Verfassungswidrigkeit nicht die andere zu heilen vermag. Wegen
der festgestellten Gehörsverweigerung und rechtsungleichen Behandlung im
Prozess ist der angefochtene Entscheid aufzuheben.