Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 91 I 124



91 I 124

20. Auszug aus dem Urteil vom 31. März 1965 i.S. Wohlfahrtsfonds für
das Personal der Neue Warenhaus AG und Konsorten gegen Einwohnergemeinde
Lauterbrunnen und Regierungsrat des Kantons Bern. Regeste

    Eigentumsgarantie. Das Freihalten von Skipisten durch Bauverbote ist
ein schwerer Eingriff in das Privateigentum und deshalb nur gestützt auf
eine klare gesetzliche Grundlage zulässig.

Sachverhalt

                       Aus dem Tatbestand:

    Im Hinblick auf die "Erhaltung der Skipisten" hat die Einwohnergemeinde
Lauterbrunnen im Jahre 1963 für das Gebiet von Mürren und Wengen
Baulinienpläne ausarbeiten lassen, in denen für die Skipisten 12 Meter
breite, mit folgender Legende versehene Zonen vorgesehen waren:

    "Freifläche als Übungsgelände für den Skisport und andere
Wintersportarten gemäss Art. 9 des Gesetzes über Bauvorschriften.

    Diese Zone darf nicht überbaut werden und ist von allen
skisporthindernden Bauten, Anlagen und Bepflanzungen frei zu halten.

    Vorspringende Gebäudeteile, wie Lauben, Terrassen, Vordächer etc.,
dürfen nur in einer Höhe von 2,80 m über dem gewachsenen Terrain und 1,50
m in die Bauverbotszone hineinragen.

    Bauten und Anlagen von öffentlichem Interesse, die der Zweckbestimmung
dieser Zone dienen, können mit der Zustimmung des Gemeinderates erstellt
werden."

    Nachdem der Baulinienplan Mürren-Dorfvon der Einwohnergemeinde
angenommen und vom Regierungsrat des Kantons Bern am 16. Juni 1964
genehmigt worden war, erhoben drei der betroffenen Grundeigentümer
staatsrechtliche Beschwerde wegen Willkür und Verletzung der
Eigentumsgarantie.

    Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab.

Auszug aus den Erwägungen:

                       Aus den Erwägungen:

    Beim Entscheid über die Frage, ob eine öffentlich-rechtliche
Eigentumsbeschränkung auf einer gesetzlichen Grundlage beruhe, ist
das Bundesgericht nicht frei. Es überprüft Auslegung und Anwendung der
kantonalen Vorschriften, welche die kantonalen Instanzen zur Stützung
des beanstandeten Eingriffes herangezogen haben, im allgemeinen nur
unter dem beschränkten Gesichtswinkel der Willkür und rechtsungleichen
Behandlung. Eine Ausnahme besteht nur, wenn es sich um einen schweren
Eingriff in das Privateigentum handelt, der wesentlich über das
hinaus geht, was in der Schweiz bisher als öffentlich-rechtliche
Eigentumsbeschränkung üblich war: Ein solcher Eingriff ist nach der Praxis
nur zulässig, wenn er aufeiner unzweideutigen gesetzlichen Grundlage beruht
(BGE 89 I 467 mit Verweisungen). Das Freihalten von Skigelände durch
Bauverbote ist ein derart schwerer Eingriff (vgl. BGE 89 I 104), so dass
auf das Erfordernis einer klaren Grundlage nicht verzichtet werden kann.

    Das die Beschwerdeführer treffende Bauverbot stützt sich auf Art. 9 des
bernischen Gesetzes über die Bauvorschriften vom 26. Januar 1958 (BVG),
wonach Freiflächen "als Übungsgelände für den Skisport" ausgeschieden
werden können, sowie auf die vom Grossen Rat ausgehende authentische
Interpretation, dass unter "Übungsgelände für den Skisport ... auch die
Abfahrtsstrecken und die notwendigen Zufahrten nach den Talstationen von
Personentransportmitteln" zu verstehen sind.

    a) Dass schon der von den kantonalen Instanzen als gesetzliche
Grundlage für die fragliche Eigentumsbeschränkung angerufene Rechtssatz
selber die Eigentumsgarantie verletze, wird von den Beschwerdeführern
nicht behauptet.

    b) Ob geltend gemacht werden will, der Grosse Rat habe die
ihm durch Art. 10 KV eingeräumte Kompetenz zur authentischen
Interpretation eines vom Volk angenommenen Gesetzes überschritten,
lässt die Beschwerde nicht einwandfrei erkennen. Abgesehen davon
wäre eine solche Rüge unbegründet. Freilich kann, wenn die Befugnis
zur authentischen Gesetzesinterpretation nach der Verfassung einem
vom Gesetzgeber verschiedenen Staatsorgan zukommt, dessen Erlassen
verfassungsmässige Gültigkeit nur zukommen, "sofern sie die Grenzen
möglicher Gesetzesauslegung nicht überschreiten, also nicht Rechtssätze
aufstellen, welche nicht im Sinne des geltenden Gesetzes liegen können,
sondern faktisch eine Gesetzesänderung bedeuten würden ..." (BGE 34 I
79). An diese Grenzen hat sich indessen der Grosse Rat gehalten. Der in
Art. 9 BVG verwendete Ausdruck "Übungsgelände für den Skisport" ist nicht
von vorneherein derart eindeutig und unmissverständlich, dass er nicht
der Auslegung bedürfte. Wohl weist er zunächst auf die Abhänge hin, die
den Anfängern und auch fortgeschritteneren Skifahrern für das Erlernen und
Verbessern der Fahrtechnik dienen. Es geht aber nicht über den möglichen
Wortsinn hinaus, auch Abfahrtsstrecken, die von einem hoch gelegenen Punkt
ins Tal führen, zum Übungsgelände zu zählen. Auch das Befahren dieser
Abfahrtsstrecken kann dem Bestreben dienen, die Fahrtechnik zu verbessern,
also zu üben, werden sie doch auch von Skilehrern mit fortgeschritteneren
Schülern benutzt. Eine feste Grenze zwischen Üben und Skifahren als
solchem besteht nicht. Unter "Übungsgelände" auch Abfahrtsstrecken zu
verstehen ist umso eher zulässig, als zu ihrer Freihaltung verfügte
Bauverbote flächenmässig regelmässig weniger schwer ins Privateigentum
eingreifen werden als Verbote, die ganze Übungshänge sichern sollen. Die
"notwendigen Zufahrten nach den Talstationen" von Bergbahnen schliesslich
erscheinen bei der heute üblichen Ausübung des Skisportes als blosses
Anhängsel zu den eigentlichen Abfahrtsstrecken.

    c) In aller Form rügen die Beschwerdeführer, dass für die im
Baulinienplan auf ihren Grundstücken vorgesehenen Bauverbotszonen Art. 9
BVG auch mit dem Inhalt, der ihm durch die authentische Interpretation
gegeben worden sei, keine genügende gesetzliche Grundlage bilde. Nach der
authentischen Interpretation gehe es nur darum, die von der eigentlichen
Abfahrtsstrecke zu unterscheidende "Zufahrt" zur Station eventuell
auch im Dorf zu sichern, soweit dies "notwendig" sei. Wäre die Frage
der Notwendigkeit geprüft worden, so hätte sich ergeben, dass die
Zufahrt durch die Grundstücke der Beschwerdeführer für die Skifahrer
vielleicht etwas bequemer, aber keineswegs notwendig sei, da andere
Lösungen sich anböten. Es sei auch nicht überprüft worden, ob nicht ein
Bauverbotsstreifen von weniger als 12 Meter Breite den Bedürfnissen der
Skifahrer genügen würde.

    Da nach der authentischen Interpretation auch Skipisten mit
ihren Zufahrten zu den Talstationen von Personentransportmitteln
unter Art. 9 BVG fallen, ist indessen die klare gesetzliche
Grundlage für die im vorliegenden Falle vorgesehene Bauverbotszone
gegeben. Ob die im Baulinienplan abgegrenzte Zufahrt zur Talstation der
Mürren-Allmendhubel-Bahn "notwendig", also zur Erreichung des angestrebten
Zieles erforderlich sei, hängt mit der Frage zusammen, ob und wie weit ein
öffentliches Interesse an der umstrittenen Eigentumsbeschränkung bestehe.