Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 91 I 11



91 I 11

4. Urteil vom 20. Januar 1965 i.S. X. gegen Bank Y. und Obergericht des
Kantons Zürich. Regeste

    Art. 59 BV. Gerichtsstandsklausel. Der Verzicht auf die Garantie
des Art. 59 BV darf nicht leicht angenommen werden; es bedarf dazu
einer ausdrücklichen, von andern Vertragsbestimmungen abgehobenen
Erklärung, deren Inhalt unmissverständlich ist und den Willen, einen
andern Gerichtsstand zu begründen, klar und deutlich zum Ausdruck
bringt. Anwendung dieses Grundsatzes auf eine schwer verständliche,
in englischer Sprache abgefasste Gerichtsstandsklausel in einem in der
Schweiz abgeschlossenen Vertrag zwischen einer schweizerischen Firma
und einer in der Schweiz wohnhaften, geschäftlich nicht erfahrenen und
rechtsunkundigen Person.

Sachverhalt

    A.- Der Beschwerdeführer X. ist Musiker von Beruf und wohnt in Genf. Am
8. November 1961 schloss er mitder BankY., die ihren Sitz in Zürich und
in Genf eine Zweigniederlassung hat, einen als "Margin Account Agreement"
bezeichneten Vertrag. Das von der Bank in englischer Sprache abgefasste,
maschinengeschriebene und mit Matrize vervielfältigte Vertragsformular
besteht aus einer einzigen Seite und enthält einen in sechs numerierte
Absätze gegliederten Text. Der letzte Absatz steht unmittelbar vor den
Unterschriften und lautet:

    "6. For the present contract Swiss law ist applicable. Venue is Zürich,
Switzerland".

    Auf Grund dieses Vertrages führte die Bank eine Reihe von
Börsengeschäften für X. aus. Im Dezember 1963 reichte sie beim
Bezirksgericht Zürich eine Klage ein, mit der sie X. auf Bezahlung von
Fr. 47'539.75 nebst Zins und Kosten belangte. X. bestritt die örtliche
Zuständigkeit des Gerichts. Dieses wies die Einrede mit Beschluss
vom 27. August 1964 ab, da der Beklagte mit Ziff. 6 des Vertrages vom
8. November 1961 auf den Wohnsitzgerichtsstand gültig verzichtet und
Zürich als Gerichtsstand vereinbart habe.

    X. rekurrierte hiegegen an das Obergericht des Kantons Zürich, wurde
aber durch Entscheid vom 19. Oktober 1964 abgewiesen, im wesentlichen mit
folgender Begründung: Die streitige Gerichtsstandsklausel stehe an gut
sichtbarer Stelle des Vertrages und sei vom übrigen Text deutlich getrennt,
so dass sie in dieser Beziehung den Anforderungen der bundesgerichtlichen
Rechtsprechung genüge und angenommen werden könne, der Verzicht auf den
ordentlichen Richter sei bewusst erfolgt. Der Einwand, der Wortlaut der
Klausel sei missverständlich und der Beklagte habe infolge mangelhafter
Kenntnisse der englischen Sprache nicht gewusst, dass "venue" Gerichtsstand
bedeute, sei unbehelflich, da derjenige, der einen fremdsprachigen
Vertragstext unterschreibe, sich um dessen Verständnis zu bemühen habe,
nötigenfalls unter Beiziehung eines Wörterbuchs oder eines sprachkundigen
Dritten. Es verstosse offensichtlich gegen Treu und Glauben, wenn der
Beklagte, der einen Vertrag von so erheblicher Bedeutung und Tragweite
abgeschlossen habe, sich jetzt, wo er aus dem Vertrag belangt werde, auf
Unkenntnis der englischen Sprache berufe. Die Berufung des Beklagten auf
die bundesgerichtliche Rechtsprechung (BGE 52 I 269 und ZR 1932 Nr. 153)
gehe fehl, da in jenen Fällen die Gerichtsstandsklausel sich vom übrigen
Vertragstext nicht genügend abgehoben habe. In ZR 1953 Nr. 100 sei die
Klausel "Rechtsdomizil für beide Parteien ist Zürich" mangels Eindeutigkeit
des Begriffs Rechtsdomizil als ungenügende Gerichtsstandsklausel betrachtet
worden. Demgegenüber bedeute der vorliegend verwendete Ausdruck "venue" in
der anglo-amerikanischen Rechtssprache den Ort, wo eine Gerichtsverhandlung
stattfindet und damit klar und eindeutig den Gerichtsstand, wie sich ohne
weiteres aus den einschlägigen Wörterbüchern (die näher genannt werden)
ergebe.

    B.- Gegen diesen Rekursentscheid des Obergerichts hat X.
staatsrechtliche Beschwerde wegen Verletzung des Art. 59 BV erhoben. Er
beantragt, den angefochtenen Entscheid aufzuheben, die streitige
Gerichtsstandsklausel als ungültig und demzufolge die zürcherischen
Gerichte als zur Anhandnahme der Klage unzuständig zu erklären. Die
Begründung der Beschwerde ist, soweit wesentlich, aus den nachstehenden
Erwägungen ersichtlich.

    C.- Das Obergericht des Kantons Zürich hat auf Vernehmlassung
verzichtet. Die beschwerdebeklagte Bank beantragt Abweisung der Beschwerde.

Auszug aus den Erwägungen:

              Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Der Beschwerdeführer macht ausschliesslich eine Verletzung des Art.
59 BV geltend. Diese Garantie kann gegen jede richterliche Handlung,
die sich als Ausübung der Gerichtsbarkeit darstellt, angerufen werden
(BGE 87 I 129 mit Verweisungen), ohne vorherige Erschöpfung des kantonalen
Instanzenzuges (Art. 86 Abs. 2 OG). Die vorliegende, im Anschluss an das
Urteil des Obergerichts eingereichte Beschwerde ist daher ohne Rücksicht
auf die allfällige Möglichkeit einer kantonalen Nichtigkeitsbeschwerde
gemäss § 344 zürch. ZPO zulässig; sie hätte schon gegen die Vorladung
zur Sühneverhandlung erhoben werden können. Auf die Beschwerde ist somit
einzutreten, und zwar auch insoweit, als der Beschwerdeführer damit, über
die Aufhebung des angefochtenen Entscheids hinaus, beantragt, die streitige
Gerichtsstandsklausel als unzulässig und demzufolge die zürcherischen
Gerichte als zur Anhandnahme der Klage unzuständig zu erklären, da diese
Anträge mit der grundsätzlich kassatorischen Natur der Beschwerde wegen
Verletzung des Art. 59 BV vereinbar sind (vgl. BGE 46 I 249, 52 I 138, 53 I
136, 66 I 238). Dagegen fallen nur die in der Eingabe an das Bundesgericht
erhobenen Einwendungen des Beschwerdeführers in Betracht; die Verweisung
auf die kantonalen Eingaben, die zum integrierenden Bestandteil der
staatsrechtlichen Beschwerde erklärt werden, ist unbeachtlich (BGE 86 I
41 und 228 mit Verweisungen).

Erwägung 2

    2.- Es ist unbestritten, dass der Beschwerdeführer aufrechtstehend
ist, dass er in Genf wohnt und dass die gegen ihn erhobene Klage eine
persönliche Ansprache im Sinne von Art. 59 BV zum Gegenstand hat. Für diese
braucht er sich daher nur dann in Zürich belangen zulassen, wenn er gültig
auf den Richter an seinem Wohnort verzichtet hat. Ob ein solcher Verzicht
vorliegt, hat das Bundesgericht in tatsächlicher und rechtlicher Beziehung
frei zu prüfen (BGE 46 I 248; BIRCHMEIER, Handbuch des OG S. 329).

Erwägung 3

    3.- Die Beschwerdegegnerin behauptet, dass die Parteien in
Ziff. 6 des Vertrages vom 8. November 1961 den Gerichtsstand Zürich
vereinbart hätten und der Beschwerdeführer dadurch auf den Richter an
seinem Wohnort verzichtet habe. Nach der ständigen Rechtsprechung des
Bundesgerichts darf ein solcher Verzicht auf die Garantie des Art. 59
BV nicht leicht angenommen werden; es bedarf dazu einer ausdrücklichen,
von andern Vertragsbestimmungen deutlich abgehobenen Erklärung, deren
Inhalt unmissverständlich ist und den Willen, einen andern Gerichtsstand
zu begründen, klar und deutlich zum Ausdruck bringt (BGE 84 I 36/37 und
dort zitierte frühere Urteile, 85 I 150, 87 I 51 Erw. 3 und 56 lit. c).

    a) Zur Gültigkeit einer in ein Vertragsformular aufgenommenen
Gerichtsstandsklausel gehört danach, dass sie an einer für den
Verzichtenden gut sichtbaren Stelle angebracht ist und hervortritt
(vgl. BGE 49 I 49, 52 I 268). Dass es hieran fehle, wird in der
staatsrechtlichen Beschwerde mit Recht nicht mehr behauptet. Die streitige
Klausel steht am Ende eines nur 6 kurze Absätze mit insgesamt 18 Zeilen
umfassenden, gut lesbar mit Maschine geschriebenen Vertragstextes
unmittelbar vor der Unterschrift und konnte daher, obschon weder durch
Fettdruck noch sonst hervorgehoben, selbst bei nur flüchtiger Durchsicht
nicht übersehen werden (vgl. BGE 57 I 11/12, 87 I 52).

    b) Dagegen wird geltend gemacht, dass die streitige Klausel sogar
für einen der englischen Rechtssprache Kundigen unverständlich sei und
jedenfalls vom Beschwerdeführer, der kein Geschäftsmann sei und die
englische Sprache lediglich auf dem Gebiete der Musik und allgemeinen
Konversation einigermassen beherrsche, nicht als Gerichtsstandsvereinbarung
habe verstanden werden können und müssen.

    Wie die Beschwerdegegnerin in der Klageschrift vom 6. Dezember 1963
anerkannt hat, kann im angelsächsischen Recht der Gerichtsstand nicht von
den Parteien vereinbart werden. Die Klausel "venue is Zürich" wird somit
von einem Engländer nicht als Gerichtsstandsvereinbarung verstanden. Sie
bekommt diese Bedeutung erst durch die Übersetzung ins Deutsche oder
Französische. In den Wörterbüchern wird "venue" meist (auch) mit Ort
der Gerichtsverhandlung, zuständiger Gerichtsort, Gerichtsstand, lieu du
jugement, juridiction und dergleichen übersetzt. Nach diesen Übersetzungen
und auf schweizerische Verhältnisse übertragen, kann die an die Bestimmung
des auf den Vertrag anwendbaren Rechts anschliessende Klausel "venue is
Zürich" von einem Rechtskundigen kaum anders verstanden werden denn als
Bezeichnung des Ortes, vor dessen Gerichten im Streitfall der Prozess
durchzuführen ist, d.h. als Bezeichnung des Gerichtsstands. Damit ist aber
noch nicht gesagt, dass der Beschwerdeführer mit der Unterzeichnung des
diese Klausel enthaltenden Vertrages gültig auf die Garantie des Art. 59
BV verzichtet habe.

    Nach der erwähnten Rechtsprechung liegt ein solcher Verzicht nur
dann in einer Erklärung, wenn deren Inhalt unmissverständlich ist und den
Willen, einen anderweitigen Gerichtsstand zu begründen, klar und deutlich
zum Ausdruck bringt. Beim Entscheid hierüber hat das Bundesgericht von
jeher dem Umstand, dass eine Person geschäftlich unerfahren und nicht
rechtskundig ist, besonderes Gewicht beigelegt. So hat es in BGE 34 I 59,
52 I 269, ZR 1932 Nr. 153 und BGE 85 I 151 in bezug auf solche Personen
keine gültigen Gerichtsstandsklauseln erblickt in Vertragsbestimmungen,
welche eine geschäftserfahrene und rechtskundige Person als verbindlich
gegen sich hätte gelten lassen müssen. Auch im vorliegenden Falle verhält
es sich so. Die Klausel "venue is Zürich" ist nicht ohne weiteres, sondern
nur für denjenigen verständlich, der die englische Rechtssprache kennt
und dazu mit den schweizerischen Rechtsverhältnissen vertraut ist oder
wenigstens Geschäftserfahrung besitzt. Dies trifft beim Beschwerdeführer
offenbar nicht zu. Er ist von Beruf Musiker. Wohl hat er sich im
vorliegenden Falle auf Börsenspekulationen eingelassen. Dass er sich
schon früher mit solchen Geschäften befasst habe oder sonst geschäftliche
Erfahrungen besitze, hat die Beschwerdegegnerin indes nicht behauptet
und noch weniger dargetan.

    In der Bestreitung der Gültigkeit der fraglichen Klausel ist auch
kein Verstoss gegen Treu und Glauben zu erblicken. Wer einen Vertrag
unterschreibt, muss zwar seine Bestimmungen grundsätzlich auch insoweit
gegen sich gelten lassen, als er sie nicht gelesen oder nicht verstanden
hat (vgl. BGE 76 I 350 und dort zitierte Urteile). Dieser Grundsatz gilt
indes, jedenfalls soweit Gerichtsstandsklauseln in Frage stehen, nur in
bezug auf Geschäftsleute vorbehaltslos. Bei einer geschäftsunerfahrenen
und rechtsunkundigen Person dagegen ist eine Ausnahme zu machen, wenn es,
wie hier, als glaubhaft und entschuldbar erscheint, dass sie die Bedeutung
der Klausel nicht richtig erfasste und sich nicht bewusst war, damit sich
einem auswärtigen Richter zu unterwerfen und auf die Garantie des Art. 59
BV zu verzichten.

    Gegen die Gutheissung der Beschwerde bestehen umso weniger Bedenken,
als in der Beschwerdeantwort nicht angegeben wird, aus welchen Gründen
die Beschwerdegegnerin, die nach den Akten sonst in deutscher oder
französischer Sprache mit dem Beschwerdeführer verkehrte, den Vertrag vom
8. November 1961 in englischer Sprache mit ihm abgeschlossen hat. Selbst
wenn sie es nicht darauf abgesehen haben sollte, dass der Beschwerdeführer
die Tragweite der Gerichtsstandsklausel und anderer Vertragsbestimmungen
nicht voll erfasse, ist es ein Unfug, wenn eine schweizerische Firma
einem in der Schweiz ansässigen Schweizer ein nicht in einer Landessprache
abgefasstes Vertragsformular zur Unterzeichnung vorlegt. Dies rechtfertigt
es durchaus, die Unklarheit, die sich aus einer so ungebräuchlichen und
schwer verständlichen Gerichtsstandsklausel ergeben kann, zu Ungunsten
der Beschwerdegegnerin sich auswirken zu lassen.

Entscheid:

Demnach erkennt das Bundesgericht:

    Die Beschwerde wird dahin gutgeheissen, dass der Beschluss des
Obergerichts des Kantons Zürich vom 19. Oktober 1964 aufgehoben und
festgestellt wird, dass die zürcherischen Gerichte zur Behandlung der Klage
der Beschwerdegegnerin gegen den Beschwerdeführer nicht zuständig sind.