Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 91 IV 91



91 IV 91

27. Urteil des Kassationshofes vom 28. Mai i.S. Ramspeck gegen
Polizeirichteramt der Stadt

    Zürich.  Regeste

Art. 36 Abs. 2 Satz 1 SVG, Art. 14 Abs. 1 VRV. 1. Vorsichtspflicht
des vortrittsbelasteten Führers vor einer unübersichtlichen
Verzweigung. Bedeutung des Umstandes, dass der Vortrittsberechtigte
vorschriftswidrig fährt. Gleichzeitigkeit. Verhältnis zu Art. 26 Abs. 1
SVG. Gepflogenheiten Dritter. Unterschiedliche Verkehrsbedeutung der
sich kreuzenden Strassen (Erw. 1). 2. Verhältnis zu Art. 32 Abs. 1
SVG. 1dealkonkurrenz ist auch innerhalb des Art. 90 Ziff. 1 SVG
möglich. Strafzumessung (Erw. 2).

Sachverhalt

A.- Ramspeck fuhr am 26. Juli 1963, um 22.15 Uhr, am Steuer seines
"Maserati"-Sportwagens auf der steilen Klosbachstrasse in Zürich
aufwärts gegen deren Kreuzung mit der Carmenstrasse. Er hielt eine
Geschwindigkeit von 40 km /Std. inne. Beide Strassen sind beidseitig
mit Fussgängersteigen versehen und weisen eine Fahrbahnbreite von
etwa 6 m auf; die Klosbachstrasse wird aber mehr befahren als die
Carmenstrasse. Die Sicht gegen rechts war für Ramspeck durch ein Haus
und - unmittelbar vor der Einmündung - durch eine etwa 1 m hohe Mauer
behindert. Ramspeck hatte die Mitte der Kreuzung bereits erreicht, als
sein Fahrzeug von einem Lieferwagen, der mit etwa 35 km /Std. von rechts
her kam und von Bisang gesteuert war, auf der Höhe des rechten Hinterrades
gerammt wurde. Der Sportwagen wurde dadurch abgedreht und prallte gegen
eine Gartenmauer; er wurde schwer beschädigt. B.- Der Einzelrichter
in Strafsachen des Bezirksgerichtes Zürich büsste am 19. November 1964
Ramspeck wegen Übertretung von Art. 32 Abs. 1 und 36 Abs. 2 SVG sowie
Art. 4 Abs. 1 VRV mit Fr. 50.-. C.- Ramspeck führt gegen dieses Urteil
Nichtigkeitsbeschwerde. Er beantragt, es aufzuheben und die Sache zu seiner
Freisprechung, eventuell zur neuen Beurteilung oder zur Herabsetzung der
Busse an die Vorinstanz
   zurückzuweisen.

Auszug aus den Erwägungen:

Der Kassationshof zieht in Erwägung:

Erwägung

1.- Nach Art. 36 Abs. 2 Satz 1 SVG hat auf Strassenverzweigungen das von
rechts kommende Fahrzeug den Vortritt. In Art. 14 Abs. 1 VRV wird dazu
ergänzend bestimmt, dass der Fahrer, der zur Gewährung des Vortritts
verpflichtet ist, den Vortrittsberechtigten in seiner Fahrt nicht
behindern darf; er hat seine Geschwindigkeit vielmehr frühzeitig zu
mässigen und, wenn er warten muss, vor Beginn der Verzweigung zu halten.
Diese Vorschriften hat der Beschwerdeführer offensichtlich verletzt. Nach
dem angefochtenen Urteil handelt es sich bei der fraglichen Kreuzung um
eine gefährliche Verzweigung. Die schlechten Sichtverhältnisse zwängen die
Fahrer, von allen Seiten langsam in die Kreuzung einzufahren. Auch für den
Beschwerdeführer sei die Sicht schlecht gewesen. Das Polizeirichteramt
gehe zwar davon aus, dass er etwa 20 m vor der Kreuzungsmitte die
Querstrasse nach rechts ebenso weit habe überblicken können. In
Wirklichkeit dürfte seine Sicht aber wegen der 1 m hohen Mauer bei der
Einmündung und wegen des Umstandes, dass er in einem niedrigen Sportwagen
auf einer steilen Strasse aufwärts fuhr, erheblich geringer gewesen sein;
jedenfalls hätte er selbst dann, wenn die Annahme des Polizeirichteramtes
zutreffen sollte, erst in der linken Fahrbahn der Carmenstrasse anhalten
können und auch dies nur unter der Voraussetzung, dass er innert 0,6
sec die Bremse betätigte. Unter diesen Umständen war es pflichtwidrig
unvorsichtig, mit mindestens 40 km /Std. auf die Kreuzung zuzufahren
und sie mit unverminderter Geschwindigkeit überqueren zu wollen. Wie der
Beschwerdeführer bei seiner Fahrweise und den schlechten Sichtverhältnissen
einem gleichzeitig von rechts kommenden Fahrer den Vortritt hätte einräumen
können, ist nicht zu ersehen. Das Vortrittsrecht steht dem Berechtigten
nicht bloss an einer bestimmten Stelle der Verzweigung zu, sondern auf der
ganzen Fläche, auf der sich die zusammentreffenden Strassen überschneiden
(BGE 80 IV 199, 85 IV 87), und zwar grundsätzlich unabhängig davon, ob der
Vortrittsberechtigte pflichtgemäss rechts oder in der Strassenmitte fährt
(BGE 80 IV 200 E. 2, 84 IV 114 E. 3). Das neue Recht hat daran nichts
geändert, verlangt es doch vom wartepflichtigen Fahrer, vor Beginn der
Verzweigung zu halten. Mit Recht, denn dieser kann nicht zum vorneherein
wissen, ob ein Vortrittsberechtigter gezwungen sei, gegen die Strassenmitte
zu halten, und ob er auf der Verzweigung geradeaus weiterfahren oder
abbiegen wolle. Der Umstand, dass Bisang sich wegen der besondern Art
der Kreuzung an die Strassenmitte hielt, hob sein Vortrittsrecht nicht
auf. Daran änderte auch seine übersetzte Geschwindigkeit nichts (BGE 77 IV
220, 79 II 214, 82 II 538). Dass das neue Recht in der Vortrittsregel das
Erfordernis der Gleichzeitigkeit nicht mehr ausdrücklich erwähnt, hilft dem
Beschwerdeführer nicht. Der Sinn der Regel ist deshalb kein anderer als
nach dem alten Recht. Das Vortrittsrecht setzt notwendigerweise voraus,
dass zwei Fahrzeuge gleichzeitig auf der Verzweigung eintreffen. Das
Erfordernis der Gleichzeitigkeit ist im neuen Recht denn auch nur deshalb
gestrichen worden, weil man eine Erwähnung nicht mehr für nötig hielt
(StenBull StR 1958 S. 106). Ebensowenig hilft dem Beschwerdeführer
die Berufung auf Art. 26 Abs. 1 SVG. Diese allgemeinste Regel des
SVG liegt ihrem Sinne nach zwar auch jeder Einzelregel zugrunde; für
sich allein ist sie jedoch nur dann anwendbar, wenn das Verhalten eines
Verkehrsbenützers von keiner andern Regel erfasst wird. Das trifft hier
nicht zu. Ein Verkehrsvorgang, wie er hier zur Beurteilung steht, ist durch
die Vorschriften der Art. 36 Abs. 2 SVG und 14 Abs. 1 VRV geregelt. Der
Beschwerdeführer verkennt zudem, dass Art. 26 Abs. 1 SVG nur zugunsten des
ordnungsgemässen Strassenbenützers aufgestellt ist. Wer sich, wie Ramspeck,
selber pflichtwidrig verhält, kann sich zum vorneherein nicht auf diese
Bestimmung berufen. Aus dem gleichen Grunde kann der Beschwerdeführer
auch aus dem Vertrauensgrundsatz nichts zu seinen Gunsten
   ableiten.
Unerheblich ist auch, dass Fahrer in der Fahrrichtung des Bisang
vor der Kreuzung einen Sicherheitshalt einzuschalten pflegen. Wie
ein Fahrer sich zu verhalten hat, entscheidet sich nicht nach den
Gepflogenheiten Dritter, sondern nach dem Gesetz, das im vorliegenden
Fall dem Beschwerdeführer gebot, dem von rechts Kommenden den Vortritt zu
lassen. Dass die Klosbachstrasse mehr befahren wird als die Carmenstrasse,
ändert nichts. Sache der Behörde ist es, den Rechtsvortritt aus der
Carmenstrasse durch entsprechende Massnahmen aufzuheben, wenn er sich
nach der unterschiedlichen Verkehrsbedeutung der beiden Strassen als zu
gefährlich erweist.

Erwägung

2.- Die Vorinstanz hat statt Art. 14 Abs. 1 VRV Art. 32 Abs. 1 SVG und die
dazugehörige Ausführungsvorschrift angewendet. Nach dem alten Recht schloss
Art. 27 Abs. 1 als Sondernorm die Anwendung der allgemeinen Bestimmung des
Art. 25 Abs. 1 MFG auf ein und denselben Sachverhalt aus (BGE 73 IV 196,
76 IV 259). Ob es sich zwischen Art. 36 Abs. 2 SVG und Art. 14 Abs. 1
VRV einerseits und Art. 32 Abs. 1 SVG andererseits ebenso verhält, kann
dahingestellt bleiben. Der Vorwurf, der Beschwerdeführer sei zu schnell
auf die Kreuzung zugefahren, sodass er selbst einem ordnungsgemäss von
rechts kommenden Fahrzeug den Vortritt nicht mehr hätte einräumen können,
bleibt so oder anders aufrecht. Auch hat der Beschwerdeführer mindestens
zwei verschiedene Verkehrsregeln verletzt. Das genügt zur Annahme von
Idealkonkurrenz. Solche ist entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers
nicht nur im Verhältnis von Art. 90 zu den übrigen Strafbestimmungen
des SVG möglich, sondern auch innerhalb des Art. 90 Ziff. 1, da
diese Bestimmung eine Vielzahl von Tatbeständen mit Strafe bedroht.
Im übrigen könnte der Kassationshof auf Nichtigkeitsbeschwerde hin in die
Strafzumessung nur eingreifen, wenn die Busse aus dem gesetzlichen Rahmen
fiele oder vom kantonalen Richter in Überschreitung des ihm zustehenden
Ermessens verhängt worden wäre (BGE 68 IV 21, 78 IV 72). Davon kann hier
angesichts des Verschuldens des Beschwerdeführers und seiner Vorstrafen,
welche der Einzelrichter mit Recht mitberücksichtigt hat, keine Rede
   sein.

Entscheid:

Demnach erkennt der Kassationshof: Die Nichtigkeitsbeschwerde wird
abgewiesen. wird abgewiesen.