Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 91 IV 64



91 IV 64

19. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 9. August 1965 i.S
X. gegen Staatsanwaltschaft des Kantons Luzern. Regeste

    1.  Der Begriff des fortgesetzten Delikts setzt nicht voraus, dass
alle Einzelhandlungen, die auf denselben Willensentschluss zurückgehen,
unter die gleiche Strafbestimmung fallen; es genügt, dass sie den gleichen
gesetzlichen Tatbestand erfüllen oder Begehungsformen desselben Verbrechens
oder Vergehens darstellen (Erw. 1a).

    2.  Art. 191 Ziff. 1 und 2 StGB. Zwischen Unzuchtshandlungen im Sinne
dieser Bestimmungen kann Fortsetzungszusammenhang bestehen (Erw. 1 b
und c).

    3.  Art. 13 Abs. 1 StGB. Der Umstand, dass der Beschuldigte die Tat in
angetrunkenem Zustand begangen hat, ist noch kein Grund, ihn psychiatrisch
begutachten zu lassen (Erw. 2).

Sachverhalt

    A.- Der 41-jährige X. sprach am 23. August 1964 im Bahnhof Luzern den
14 Jahre alten Y. an, der dort herumstrich. Er nahm den Knaben in seine
Wohnung, wo er ihn umarmte und küsste. Sie legten sich beide nackt auf
ein Bett und rieben sich den Geschlechtsteil, und als auch beim Knaben
der Same floss, nahm X. dessen Glied in den Mund. Y. begab sich hierauf
in die Küche, wusch und parfümierte sich. Alsdann befriedigte sich X.,
der immer noch unbekleidet war, in Gegenwart des Knaben abermals.

    B.- Das Obergericht des Kantons Luzern verurteilte X. am 30. März 1965
wegen Unzucht mit einem Kinde im Sinne von Art. 191 Ziff. 1 und 2 StGB zu
einem Jahr Zuchthaus und stellte ihn für drei Jahre in der bürgerlichen
Ehrenfähigkeit ein.

    Das Obergericht ist der Auffassung, es lägen zwei strafbare Handlungen
vor, denn zwischen der Selbstbefriedigung des X. vor dem Knaben und dem,
was vorausgegangen sei, habe ein namhafter zeitlicher Unterbruch bestanden.

    C.- X. führt gegen dieses Urteil Nichtigkeitsbeschwerde, welcher unter
anderem zu entnehmen ist, dass er die Verurteilung nach Art. 191 Ziff. 2
StGB anficht und die Anordnung eines psychiatrischen Gutachtens verlangt.

    D.- Die Staatsanwaltschaft des Kantons Luzern beantragt, die Beschwerde
abzuweisen.

Auszug aus den Erwägungen:

Aus den Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- Gegen seine Verurteilung nach Art. 191 Ziff. 1 StGB wendet der
Beschwerdeführer nichts ein. Mit Recht, denn indem er das Glied des Knaben
in den Mund nahm, beging er eine beischlafsähnliche Handlung (BGE 87 IV
124 Erw. 1).

    Der Beschwerdeführer macht dagegen geltend, dass er für das, was er
nachher getan habe, nicht gemäss Art. 191 Ziff. 2 StGB bestraft werden
könne; die Selbstbefriedigung, die er vor dem Knaben vorgenommen habe,
nachdem dieser von der Küche ins Zimmer zurückgekehrt sei, bilde zusammen
mit den vorher begangenen Handlungen eine Einheit, könne daher keinen
selbständigen Straftatbestand mehr darstellen. Massgebend sei, dass er
schon in der Bahnhofhalle den Entschluss gefasst habe, mit dem Knaben
gleichgeschlechtliche Handlungen vorzunehmen, wozu er ihn denn auch in
seine Wohnung eingeladen habe.

    Der Einwand kann nur dahin verstanden werden, dass fortgesetzte
Begehung vorliege.

    a) Ein fortgesetztes Delikt setzt nach der Rechtsprechung des
Bundesgerichts gleichartige oder ähnliche Handlungen voraus, die
gegen das gleiche Rechtsgut gerichtet sind und auf ein und denselben
Willensentschluss zurückgehen (BGE 68 IV 99; 72 IV 165, 184; 78 IV
154; 83 IV 159; 88 IV 65 Erw. 3; 90 IV 132). Der Begriff ist von der
Gerichtspraxis entwickelt worden, um das Verfahren (z.B. bei einer
Unzahl von Diebstählen) zu vereinfachen und um Unbilligkeiten, die
sich bei der Anwendung des Art. 68 StGB auf solche Handlungen ergeben
können, zu vermeiden. Das fortgesetzte Delikt wird deshalb ohne Rücksicht
darauf, dass mehrere strafbare Handlungen vorliegen, rechtlich wie eine
Straftat behandelt. Diese Betrachtungsweise hat zur Folge, dass eine
Gesamtstrafe ausser Betracht fällt und der für die schwerste Einzeltat
vorgesehene Strafrahmen allein anwendbar ist und nicht überschritten
werden darf. Sie bedingt aber auch, dass die Verjährungsfrist für alle
Einzelhandlungen erst mit dem Tage zu laufen beginnt, an dem die letzte
dieser Handlungen ausgeführt wird (Art. 71 Abs. 3 StGB) und dass im Falle
eines Antragsdeliktes die Strafverfolgung nicht auf die dreimonatige
Frist des Art. 29 StGB beschränkt bleibt, sondern der Täter auch wegen
weiter zurückliegender Handlungen verfolgt werden darf (BGE 80 IV 8).

    Dass sämtliche Einzelhandlungen unter die gleiche Strafbestimmung
fallen, ist für die Annahme eines fortgesetzten Deliktes nicht
erforderlich; es genügt, dass sie den gleichen gesetzlichen
Tatbestand erfüllen oder Begehungsformen desselben Deliktes
darstellen. Fortsetzungszusammenhang ist deshalb insbesondere möglich
zwischen Handlungen, die teils einer leichteren, teils einer schwereren
Form desselben Verbrechens oder Vergehens angehören. Beispiele hiefür
sind: schwere und einfache Körperverletzung (Art. 122 und 123), einfache
und privilegierte Fälle von Sachentziehung (Art. 143 Abs. 1 und 2),
Hehlerei (Art. 144 Abs. 1 und 2), Geldfälschungen (Art. 240 Abs. 1 und 2),
Urkundenfälschungen (Art. 251 Ziff. 1 und 3), einfache und qualifizierte
Fälle politischen oder militärischen Nachrichtendienstes (Art. 272
Ziff. 1 und 2, 274 Ziff. 1 Abs. 1 und 3 StGB). In diesem Sinne hat der
Kassationshof denn auch schon in BGE 83 IV 159 ff. entschieden. Nicht
im Fortsetzungszusammenhang stehen können dagegen Strafhandlungen,
die dem gesetzlichen Tatbestand oder ihrer rechtlichen Natur nach
verschieden sind, wie z.B. vorsätzliche Tötung und Mord (Art. 111 und
112), Diebstahl und Veruntreuung (Art. 137 und 140), Urkundenfälschung und
Urkundenunterdrückung (Art. 251 und 254 StGB) (vgl. Entscheidungen des
Bundesgerichtshofes in Strafsachen, Bd. 12 S. 147 und dort angeführte
Urteile; ferner Komm. SCHÖNKE/SCHRÖDER, 12. Auflage, S. 488 ff.).

    b) Art. 191 StGB stellt die verschiedenen Begehungsformen der "Unzucht
mit Kindern" unter Strafe. Missbrauch eines Kindes zum Beischlaf oder zu
einer ähnlichen Handlung (Ziff. 1) werden als qualifizierte Fälle besonders
streng bestraft. Die übrigen Formen, nämlich Missbrauch eines Kindes zu
einer andern unzüchtigen Handlung, die Vornahme einer solchen Handlung
vor einem Kinde und die Verleitung eines Kindes zur Unzucht (Ziff. 2
Abs. 1-3), werden milder bestraft, unter sich aber gleich behandelt. Daraus
erhellt, dass es sich im Verhältnis von Ziff. 1 zu Ziff. 2 um schwere
und leichtere, innerhalb der Ziff. 2 um gleichwertige Strafhandlungen
desselben Verbrechens handelt. Zwischen Unzuchtshandlungen im Sinne dieser
Bestimmungen ist daher nach dem hiervor Gesagten Fortsetzungszusammenhang
möglich. Dass Art. 191 StGB nicht ausdrücklich von schweren oder
leichteren Fällen spricht, ändert nichts. Die vorwiegend kasuistisch
bedingte Verschiedenheit in der Umschreibung des Verbrechens darf nicht
ausschlaggebend sein dafür, ob ein fortgesetztes Delikt vorliege oder
nicht. Sonst würde die Frage von Zufälligkeiten der Formulierung abhängig
gemacht. Zu bedenken ist zudem, dass diesfalls nicht nur die Möglichkeit,
zwischen ähnlichen oder gleichartigen Handlungen Fortsetzungszusammenhang
anzunehmen, sondern auch das Anwendungsgebiet der Art. 29 und 71 Abs. 3
StGB erheblich eingeschränkt würde.

    c) Der Beschwerdeführer hat den Knaben in seine Wohnung genommen,
um ihn zur Unzucht zu missbrauchen. Dass sich seine Absicht auf
bestimmte Unzuchtshandlungen beschränkt habe, stellt die Vorinstanz
nicht fest und ist auch nach den Akten nicht anzunehmen. Es ging dem X.,
der angetrunken war und in diesem Zustand zu gleichgeschlechtlichen
Handlungen neigte, vielmehr darum, die sich bietende Gelegenheit zur
Unzucht auszunützen. Seine Verfehlungen an und vor dem Knaben entsprangen
daher zweifellos einem einheitlichen Willensentschluss. Sie richteten sich
zudem nicht nur gegen das gleiche Rechtsgut, sondern auch gegen die gleiche
Person. Der Umstand, dass X. nach der beischlafsähnlichen Handlung nackt
liegen blieb und die Rückkehr des Knaben abwartete, lässt bei natürlicher
Betrachtungsweise die spätere Handlung ebenfalls als Fortsetzung der
früheren erscheinen. Von einem Unterbruch des Tatzusammenhanges kann
keine Rede sein.

    Das angefochtene Urteil, das auf der Annahme beruht, es lägen
zwei strafbare Handlungen vor, ist daher aufzuheben und die Sache zur
Überprüfung der Strafzumessung an die Vorinstanz zurückzuweisen. Das
Obergericht hat von einem fortgesetzten Delikt auszugehen, die Strafe
folglich unter Ausschluss des Art. 68 StGB zuzumessen.

Erwägung 2

    2.- Der Beschwerdeführer macht ferner geltend, dass er zuviel getrunken
habe, was die Vorinstanz hätte veranlassen sollen, ihn psychiatrisch
begutachten zu lassen.

    Nach dem angefochtenen Urteil war der Beschwerdeführer nur
leicht angetrunken. Deswegen brauchte die Vorinstanz an seiner
Zurechnungsfähigkeit noch keineswegs zu zweifeln, zumal er sich nach
einer weitern Feststellung des Obergerichts an alle Vorgänge während,
vor und nach der Tat gut zu erinnern vermochte. Der Angetrunkene neigt
wohl zu Unbeherrschtheiten, bleibt im allgemeinen aber durchaus fähig,
das Unrecht einer Tat einzusehen und gemäss dieser Einsicht zu handeln;
einzig wer seine Neigung zu Straftaten infolge einer Beeinträchtigung im
Sinne von Art. 11 StGB - sei diese dem Alkoholgenuss zuzuschreiben oder
nicht - nur mit ungewöhnlicher Willensanstrengung meistern kann, begeht die
Tat unter dem Einfluss verminderter Willensfreiheit (BGE 71 IV 193, 77 IV
216 und nicht veröffentlichtes Urteil des Kassationshofes vom 15. Oktober
1954 i.S. Walther). Dass dies bei ihm der Fall gewesen sei, behauptet der
Beschwerdeführer selber nicht. Der Hinweis auf die Urteile in BGE 90 IV 159
ff. und 224 ff. geht fehl. Dass die Fähigkeit, ein Motorfahrzeug sicher zu
führen, beeinträchtigt wird, wenn der Führer einen Alkoholgehalt von 0,8
Gewichtspromille aufweist, heisst noch keineswegs, der Lenker sei deswegen
auch vermindert zurechnungsfähig. Dieser ist normalerweise dennoch fähig
einzusehen, dass er in seinem Zustand kein Motorfahrzeug führen darf,
und gemäss seiner Einsicht zu handeln. Es ist denn auch nicht üblich,
angetrunkene Fahrer begutachten zu lassen (vgl. nicht veröffentlichtes
Urteil des Kassationshofes vom 21. November 1952 i.S. Engi).