Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 91 IV 60



91 IV 60

18. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 28. Mai 1965 i.S. Müller
gegen Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich. Regeste

    Art. 41 Ziff. 3 Abs. 1 StGB.

    1.  Wird über das während der Probezeit verübte Verbrechen oder
Vergehen kein Strafverfahren eröffnet oder das Verfahren aus irgendwelchen
prozessualen Gründen wieder eingestellt, so muss der Richter, der über
den Vollzug der bedingt aufgeschobenen Strafe zu entscheiden hat, die
neue Straftat selber feststellen und würdigen können (Bestätigung der
Rechtsprechung).

    2.  Wie sie festzustellen ist, beurteilt sich nach dem kantonalen
Verfahrensrecht, dessen Anwendung der Kassationshof nicht zu überprüfen
hat (Art. 269 Abs. 1, 273 Abs. 1 lit. b. BStP).

Sachverhalt

                       Aus dem Tatbestand:

    A.- Das Obergericht des Kantons Zürich verurteilte am 15. September
1959 Herta Müller wegen Betruges zu zwei Monaten Gefängnis. Es schob
den Vollzug der Strafe bedingt auf und setzte der Verurteilten fünf
Jahre Probezeit.

    Am 3. Januar 1964 leitete die Bezirksanwaltschaft Zürich auf Antrag
des Hotels Argovia in Zürich gegen Herta Müller eine Untersuchung wegen
Zechprellerei ein. Nachdem die Bezirksanwaltschaft bereits Anklage
erhoben hatte, wurde die Hotelrechnung, die sich auf Fr. 340.-- belief,
durch die Reformierte Kirchenpflege Zollikon bezahlt, worauf das Hotel
den Strafantrag zurückzog und das Bezirksgericht Zürich am 10. März 1964
den Prozess als erledigt abschrieb.

    B.- Am 26. März 1965 beschloss das Obergericht, den der Herta Müller
im Urteil vom 15. September 1959 gewährten bedingten Strafvollzug zu
widerrufen. Der Beschluss stützt sich darauf, dass Herta Müller sich
vom 8. Januar bis 8. Februar 1963 im Hotel Argovia beherbergen liess,
obwohl sie sich bewusst war oder zum mindesten in Kauf nahm, dass sie
die Rechnung von Fr. 340.-- nicht wie vereinbart bis zum 8. Februar 1963
werde bezahlen können.

    C.- Herta Müller führt gegen diesen Beschluss Nichtigkeitsbeschwerde
mit dem Antrag, ihn aufzuheben.

Auszug aus den Erwägungen:

                       Aus den Erwägungen:

    Der Kassationshof hat in BGE 79 IV 113 entschieden, dass nach
Art. 41 Ziff. 3 StGB über das während der Probezeit verübte Vergehen oder
Verbrechen kein Strafverfahren eröffnet zu sein braucht; der Richter, der
über den Vollzug einer bedingt aufgeschobenen Strafe zu erkennen habe,
könne das Vergehen oder Verbrechen selber feststellen, es vorfrageweise
strafrechtlich würdigen und ihm als Täuschung des richterlichen Vertrauens
Rechnung tragen. BGE 86 IV 85 machte dazu die Einschränkung, dass das
neue Verbrechen oder Vergehen ohne weiteres und unzweifelhaft feststehen
müsse. In den andern Fällen dürfe der Widerrufsrichter nicht auf die Gefahr
hin vorgreifen, dass widersprechende Entscheidungen gefällt würden. Die
Bestimmung von Art. 41 Ziff. 3 Abs. 1 StGB, dass vorsätzliche Verbrechen
oder Vergehen, die in der Probezeit begangen werden, den Widerruf des
bedingten Strafvollzuges unter Vorbehalt von Abs. 2 zwingend nach sich
zögen, habe grundsätzlich den Sinn, dass die neue Straftat in dem dafür
vorgesehenen, mit den entsprechenden Garantien versehenen Urteilsverfahren
festgestellt werde.

    Diese Rechtsprechung ist von SCHULTZ in ZBJV 98 104 kritisiert worden,
weil sie für den Fall, dass noch kein Strafverfahren eröffnet worden sei,
den Widerrufsrichter selber zur Feststellung des neuen Verbrechens oder
Vergehens befugt erkläre. SCHULTZ befürwortet eine Rückkehr zur früheren,
bewährten Praxis von BGE 68 IV 119 und 74 IV 17, nach der das zuständige
Gericht durch rechtskräftiges Urteil entschieden haben müsse, dass
der zu einer bedingt vollziehbaren Strafe Verurteilte in der Probezeit
vorsätzlich ein Verbrechen oder Vergehen begangen habe. BGE 86 IV 85
bedeute eine hocherfreuliche Rückwendung zu dieser Praxis, doch sollte
eine vorbehaltlose Rückkehr vollzogen werden.

    Die Kritik übersieht, dass sich die Urteile in BGE 68 IV 119 und 74
IV 17 nur mit der Frage befassen, ob dann, wenn über das neue Verbrechen
oder Vergehen ein rechtskräftiges Urteil vorliege, der Widerrufsrichter
vom Bundesrecht aus dieses Urteil auf seine materielle Richtigkeit
zu prüfen habe. Im ersten Urteil wurde diese Frage verneint, und im
zweiten wurde erkannt, dass das Bundesrecht eine solche Prüfung sogar
ausschliesse. Davon, dass der Widerruf immer ein rechtskräftiges Urteil
über die neue Straftat voraussetze, der Widerrufsrichter also dann,
wenn kein solches Urteil vorliege, sie nicht von sich aus feststellen
dürfe, steht nichts in den beiden Urteilen. Es kann daher keine Rückkehr
zu dieser Rechtsprechung geben, noch war BGE 86 IV 85 eine beschränkte
Rückwendung dazu.

    Die Grundsätze, die in BGE 79 IV 113 und 86 IV 85 aufgestellt wurden,
aufzugeben, wäre entgegen der Ansicht von SCHULTZ auch sachlich nicht
gerechtfertigt. Ist über die neue Straftat ein Verfahren eröffnet worden,
so soll der Widerrufsrichter in der Regel dessen Ergebnis abwarten und
der Entscheidung nur ausnahmsweise, wenn das Verbrechen oder Vergehen ohne
weiteres und unzweifelhaft feststeht, vorgreifen. Wenn kein Strafverfahren
eröffnet oder es aus irgendwelchen prozessualen Gründen - zu denen auch
der Rückzug des Strafantrages gehört - wieder eingestellt worden ist,
muss dagegen der Widerrufsrichter die neue Straftat selber und ohne
besondere Voraussetzungen feststellen können. Die Notwendigkeit der
Feststellung zeigt sich gerade in den Fällen, wo ein Verfahren vor dem
zuständigen Richter nicht mehr zu erwarten ist, so bei den Verbrechen
und Vergehen, die nur auf Antrag verfolgt werden und bei denen entweder
innert der dreimonatigen Frist kein Antrag gestellt oder ein gestellter
nachträglich zurückgezogen wurde. Könnte der Widerrufsrichter die
Straftat in einem solchen Falle nicht vorfrageweise selber feststellen
und würdigen, so müsste sie bei der Entscheidung über den Strafvollzug
überhaupt unberücksichtigt bleiben. Das wäre nicht nur stossend im
Verhältnis zu den Fällen, in denen es zu einem Urteilsverfahren gekommen
ist, sondern vor allem auch unerträglich im Vergleich mit einem das
richterliche Vertrauen täuschenden Verhalten des Verurteilten, das keinen
Straftatbestand darstellt. Das Gesetz könnte es nicht verantworten, dass
ein solches Verhalten zum Vollzug der Strafe oder zumindest zu einer
Ersatzmassnahme nach Art. 41 Ziff. 3 Abs. 2 StGB führen müsste, eine
vielleicht viel schwerer wiegende Täuschung des richterlichen Vertrauens
durch ein Verbrechen oder Vergehen dagegen völlig zu übersehen wäre,
nur weil aus irgendeinem Grunde das Verfahren darüber nicht durchgeführt
werden konnte. WAIBLINGER hat den in BGE 79 IV 113 aufgestellten Grundsatz
denn auch vorbehaltlos gebilligt (s. ZBJV 92 221).

    Der Umstand, dass das Verfahren wegen Zechprellerei gegen die
Beschwerdeführerin eingestellt werden musste, weil der Strafantrag
zurückgezogen wurde, konnte und durfte deshalb die Vorinstanz nicht
hindern, den Tatbestand unter dem Gesichtspunkt des Art. 41 Ziff. 3 Abs. 1
StGB selber festzustellen und zu würdigen. Wie er festzustellen war, ob
es genügte, die Beschwerdeführerin durch einen Sekretär des Obergerichts
ein vernehmen zu lassen, ist eine Frage des kantonalen Prozessrechtes,
dessen Anwendung der Kassationshof auf Nichtigkeitsbeschwerde hin nicht
zu überprüfen hat (Art. 269 Abs. 1, 273 Abs. 1 lit. b BStP).