Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 91 IV 57



91 IV 57

17. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 5. April 1965
i.S. Generalprokurator des Kantons Bern gegen Häberli. Regeste

    1.  Art. 68 Ziff. 1 StGB, 247 Abs. 1 und 2 BStP. Die Möglichkeit,
mehrere strafbare Handlungen eines Beschuldigten in getrennten Verfahren
zu verfolgen und zu beurteilen, darf nicht dazu benutzt werden, das
materielle Recht zu umgehen.

    2.  Art. 41 Ziff. 1 Abs. 2 StGB. Gemeint sind Verbrechen und Vergehen
überhaupt, nicht bloss Strafhandlungen wie die zur Beurteilung stehenden,
für welche der bedingte Strafvollzug gewährt wird.

    In erster Linie massgebend für den Entscheid über den bedingten
Strafvollzug ist immer die Spezialprävention; Gründe der allgemeinen
Abschreckung können lediglich mitbestimmend sein. Das gilt auch für Fälle
von Fahren in angetrunkenem Zustand.

Sachverhalt

    A.- Das Strafamtsgericht Bern verurteilte am 9. Januar 1964 Häberli
wegen fortgesetzter Veruntreuung, die er in den Jahren 1956-1961 im Betrage
von Fr. 4500.-- begangen hatte, sowie wegen Führens eines Motorfahrzeuges
in angetrunkenem Zustand und wegen Fahrens ohne Führerausweis zu neun
Monaten Gefängnis. Es gewährte dem Verurteilten den bedingten Strafvollzug
und setzte ihm vier Jahre Probezeit.

    Zum bedingten Aufschub der Strafe führte das Gericht aus, dass er
zwar nur für die Veruntreuung in Betracht käme, nicht auch für die
Verkehrsdelikte, da der Beschuldigte bereits zum zweiten Male wegen
Fahrens in angetrunkenem Zustand vor dem Richter stehe. Die Verweigerung
des bedingten Strafvollzuges hätte aber zur Folge, dass er wegen der
Veruntreuung eine etwa zehnmal höhere Strafe verbüssen müsste, als dies
der Fall wäre, wenn bloss die beiden Verkehrsdelikte zur Beurteilung
stünden. Die neuerliche Verurteilung wegen Fahrens in angetrunkenem
Zustand hindere daher den Richter nicht, den Vollzug der hauptsächlich
wegen der Veruntreuung verhängten Gesamtstrafe bedingt aufzuschieben.

    B.- Der Staatsanwalt des Mittellandes erklärte gegen dieses Urteil
die Appellation, die der Generalprokurator des Kantons Bern mit Bezug
auf das Strafmass und den bedingten Strafvollzug aufrechterhielt.

    Das Obergericht des Kantons Bern beschloss am 7. April 1964, die
Verfahren wegen Veruntreuung einerseits und wegen Fahrens in angetrunkenem
Zustand und ohne Führerausweis andererseits zu trennen.

    Es begründete die Trennung damit, dass diese nach Art. 102 des Gesetzes
über das Strafverfahren anzuordnen sei, sobald wesentliche Nachteile der
Vereinigung zutage treten. Im vorliegenden Fall bestünde dieser Nachteil
darin, dass für die Gesamtstrafe der bedingte Strafvollzug verweigert
werden müsste, obwohl er für die wegen der Veruntreuung auszufällende
Strafe ohne Überschreitung des Ermessens möglich sei. Der Trennung des
Verfahrens stehe auch das eidgenössische Recht nicht entgegen, da das
StGB und der BStP den kantonalen Richter nicht verpflichteten, sämtliche
Handlungen, derentwegen ein Beschuldigter gleichzeitig verfolgt werde,
im gleichen Verfahren zu beurteilen; Art. 68 Ziff. 1 StGB sei nicht eine
Norm des Verfahrens, sondern der Strafzumessung.

    Durch getrennte Urteile vom 7. April 1964 verurteilte das Obergericht
darauf den Beschuldigten wegen fortgesetzter Veruntreuung zu sechs
Monaten Gefängnis und wegen Fahrens in angetrunkenem Zustand und ohne
Führerausweis zu einer Zusatzstrafe von 30 Tagen Gefängnis und Fr. 50.-
Busse. Für die erste Freiheitsstrafe gewährte es den bedingten Vollzug;
für die zweite lehnte es ihn ab.

    C.- Der Generalprokurator führt gegen das Urteil über die Veruntreuung
Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag, es soweit aufzuheben, als es den
bedingten Strafvollzug gewähre, und die Sache zu dessen Verweigerung an
das Obergericht zurückzuweisen.

    Der Verurteilte beantragt, die Beschwerde abzuweisen.

Auszug aus den Erwägungen:

Aus den Erwägungen:

    Wie das Obergericht unter Hinweis auf BGE 84 IV 11 ausführt,
bleibt es beim Zusammentreffen mehrerer Strafhandlungen dem kantonalen
Prozessrecht überlassen, ob die Handlungen im gleichen oder in getrennten
Verfahren zu verfolgen und zu beurteilen sind. Das heisst nicht,
dass die Trennung der Verfahren zur Umgehung des materiellen Rechts
benützt werden dürfe. Art. 102 der bern. StPO kann nicht Trennungen
gestatten, die darauf abzielen, die Anwendung des materiellen Rechts
zu verhindern (BGE 69 IV 158). Unter welchen Voraussetzungen der
Vollzug einer Gefängnisstrafe aufgeschoben werden darf, bestimmt sich
ausschliesslich nach den Grundsätzen des Bundesrechts, dessen Anwendung
gesichert bleiben muss (Art. 247 Abs. 1 und 2 BStP). Daran hat sich das
Obergericht im vorliegenden Fall nicht gehalten. Es hat im Verfahren
über die Verkehrsstrafhandlungen den bedingten Strafvollzug verweigert,
in demjenigen über die Veruntreuung dagegen gewährt, während er je nach
den Voraussetzungen entweder in beiden Verfahren zu gewähren oder nicht
zu gewähren war.

    Der bedingte Strafaufschub setzt insbesondere voraus, dass Vorleben und
Charakter des Verurteilten erwarten lassen, er werde durch diese Massnahme
von weiteren Verbrechen oder Vergehen abgehalten (Art. 41 Ziff. 1 Abs. 2
StGB). Das Gesetz macht somit die Massnahme nicht bloss von der Erwartung
abhängig, dass der Verurteilte keine Strafhandlung von der Art, die zur
Beurteilung steht und für welche der bedingte Strafvollzug gewährt wird,
mehr begehe, sondern dass er durch die Warnungsstrafe von Verbrechen und
Vergehen schlechthin abgehalten werde. Das Wohlverhalten, das von ihm
gestützt auf die Massnahme erwartet wird, muss sich auf alle Lebensgebiete
erstrecken. Die Aussicht auf eine Besserung, die auf bestimmte deliktische
Betätigungen beschränkt ist und nicht die gesamte Gesinnung und Einstellung
des Verurteilten gegenüber der Rechtsordnung erfasst, vermag den bedingten
Strafvollzug nicht zu rechtfertigen (BGE 85 IV 121 f.).

    Fragen kann sich höchstens, ob in bezug auf das Fahren in angetrunkenem
Zustand (Art. 59 MFG, Art. 91 SVG) deswegen eine Ausnahme zu machen sei,
weil Art. 41 Ziff. 1 StGB mit Rücksicht auf die Häufigkeit und besondere
Gefährlichkeit dieser Verkehrsstrafhandlung erlaubt, aus generalpräventiven
Gründen an die Gewährung des bedingten Strafvollzuges besonders strenge
Anforderungen zu stellen (BGE 88 IV 6, 90 IV 263). Allein in erster Linie
massgebend für den Entscheid über den bedingten Strafaufschub bleibt
immer die Spezialprävention; Gründe der allgemeinen Abschreckung können
lediglich mitbestimmend sein (BGE 73 IV 80, 87; 74 IV 138; 79 IV 69;
80 IV 14). Darum besteht auch kein hinreichender Anlass, das Fahren in
angetrunkenem Zustand mit Bezug auf die Voraussicht künftigen allgemeinen
Wohlverhaltens besonders zu behandeln. Im vorliegenden Falle sind die
Aussichten auf eine bessernde Wirkung des bedingten Strafvollzuges ohnehin
derart schlecht, dass auf Überlegungen der Generalprävention nichts mehr
ankommt (was näher ausgeführt wird).