Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 91 IV 2



91 IV 2

2. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 19. März 1965 i.S. Taupe
gegen Staatsanwaltschaft des Kantons Graubünden. Regeste

    Art. 69 StGB. Das Verhalten nach der Tat, das einen besondern Haftgrund
darstellt und für die Verhaftung oder Haftbelassung tatsächlich massgebend
war, ist für die Haft auch dann kausal, wenn sie durch ein anderes Benehmen
des Beschuldigten nicht hätte abgewendet oder verkürzt werden können,
sondern ohne den besondern Haftgrund aus einem allgemeinen angeordnet
oder aufrechterhalten worden wäre.

Sachverhalt

    A.- Taupe und Schönherr, die beide tags zuvor bei Feldkirch illegal in
die Schweiz gekommen waren, drangen in der Nacht vom 29./30. September 1964
in Trimmis bei Chur in die Gebäude der Baustoffwerke Trimmis AG ein, wo sie
mit einem Schneidbrenner und einer Bohrmaschine den Kassenschrank öffneten,
dem sie über Fr. 10'500.-- entnahmen. Am 1. Oktober 1964 wurden die beiden
Österreicher in Zürich, wo sie sich wegen ihres Geldbesitzes des Diebstahls
verdächtig machten, wegen Flucht- und Kollusionsgefahr in Untersuchungshaft
versetzt. Nachdem Taupe am 7. Oktober und Schönherr am Tage darauf nach
anfänglichem Leugnen den Einbruchdiebstahl in Trimmis gestanden hatten,
wurden sie am 12. Oktober in die Strafanstalt Sennhof in Chur übergeführt;
dort blieben sie bis zur gerichtlichen Beurteilung in Haft. Taupe gelang
am 25. Oktober anlässlich des Sonntagsgottesdienstes die Flucht, doch
konnte er am Abend des folgenden Tages wieder verhaftet werden.

    B.- Das Kantonsgericht von Graubünden verurteilte Taupe am 18. Dezember
1964 unter anderem wegen qualifizierten Diebstahls zu 18 Monaten Zuchthaus,
abzüglich die von 7. bis 25. Oktober 1964 erstandene Untersuchungshaft,
und zu fünf Jahren Einstellung in der bürgerlichen Ehrenfähigkeit sowie
zu 15 Jahren Landesverweisung.

    C.- Taupe führt gegen dieses Urteil Nichtigkeitsbeschwerde. Er
verlangt, dass ihm die vom 7. Oktober bis zur gerichtlichen
Hauptverhandlung ausgestandene Haft auf die Freiheitsstrafe voll
angerechnet werde.

    D.- Die Staatsanwaltschaft Graubünden beantragt Abweisung der
Beschwerde.

Auszug aus den Erwägungen:

Der Kassationshof zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Nach Art. 69 StGB ist dem Verurteilten die Untersuchungshaft auf
die Strafe anzurechnen, wenn die Haft unabhängig vom Verhalten des Täters
nach der Tat angeordnet oder aufrechterhalten wurde; sie ist dagegen
nicht anzurechnen, wenn das Verhalten des Täters nach der Tat für die
Verhängung oder Fortdauer der Haft entscheidend war (BGE 76 IV 24).

    a) Die Kollusions- und Fluchtgefahr, deretwegen Taupe am 1. Oktober
in Zürich in Untersuchungshaft gesetzt worden ist, ergab sich nicht
aus einem bestimmten Verhalten nach der Tat, sondern die Gefahr der
Kollusion wurde wegen des noch nicht abgeklärten Diebstahlverdachts und
die Fluchtgefahr im Hinblick darauf, dass Taupe als Ausländer keinen
festen Wohnsitz in der Schweiz hatte, von Gesetzes wegen vermutet (§
49 lit. a und b zürch. StPO). Die Verhaftung des Beschwerdeführers und
seine Haftbelassung nach dem Geständnis vom 7. Oktober wie auch die
nach seiner Überführung nach Chur von den Bündner Behörden auf Grund
von § 83 der bündnerischen StPO erlassene Haftverfügung stützten sich
auf allgemeine, abstrakte Gründe, welche die Anrechnung der Haft nicht
ausschliessen. Nur soweit Taupe anfänglich einen Diebstahl leugnete, hat
er durch ein Verhalten nach der Tat das Verfahren erschwert und damit die
Untersuchungshaft verlängert, weshalb ihm das Kantonsgericht, was nicht
angefochten wird, die Haft vom 1. bis 7. Oktober nicht angerechnet hat.

    b) Der Beschwerdeführer hält die Nichtanrechnung der nach der
Entweichung vom 25./26. Oktober bis zur gerichtlichen Beurteilung
ausgestandenen Untersuchungs- und Sicherheitshaft für unzulässig, weil
keine Anzeichen dafür vorlägen, dass die Haft, wenn er den Fluchtversuch
nicht unternommen hätte, aufgehoben oder abgekürzt worden wäre; aus der
Haftbelassung des Mitbeschuldigten Schönherr, der keine Flucht unternahm,
ergebe sich vielmehr, dass auch Taupe in Haft behalten worden wäre, weshalb
sein Verhalten für die nachfolgende Haft nicht kausal gewesen sein könne.

    Diese Auffassung hält nicht stand. Gewiss wurde in BGE 90 IV
70 ausgeführt, für die Nichtanrechnung genüge, "dass die Haft mit
dem Verhalten des Beschuldigten ursächlich zusammenhange, d.h. dass
dieser sie durch ein anderes Benehmen hätte abwenden oder verkürzen
können". Damit wurde der zwischen der Haft und dem Verhalten des
Beschuldigten erforderliche Kausalzusammenhang, wie er bisher verstanden
worden ist, nicht neu umschrieben. In BGE 90 IV 69 f. werden unter
Ziff. 1 lediglich Erwägungen aus früheren Entscheidungen, auf die im
einzelnen verwiesen wird, zusammengefasst. Der erwähnte Satz, auf den
sich der Beschwerdeführer beruft, bezog sich in BGE 81 IV 23, dem er
entnommen ist, nur auf Fälle, in denen das Verhalten des Beschuldigten
kein Haftgrund im Sinne des kantonalen Prozessrechtes ist, sondern die
Haft nur mittelbar, durch Verzögerung des Verfahrens, zur Folge hat,
wie dann, wenn der Beschuldigte im Untersuchungsverfahren die Auskunft
verweigert, die Tat leugnet, irreführende Angaben macht oder wenn er, um
dem Strafvollzug zu entgehen, offensichtlich trölerisch ein Rechtsmittel
einlegt oder aufrechterhält. In diesen Fällen kann gesagt werden, der
Beschuldigte hätte die Haft durch ein anderes Benehmen verkürzen oder
abwenden können. Das heisst aber nicht, dass jedes Verhalten nach der
Tat nur dann für die Haft kausal sei, wenn ohne dieses Verhalten die
Verhaftung unterblieben oder eine bereits bestehende Haft aufgehoben
oder verkürzt worden wäre. Nach der Rechtsprechung des Kassationshofes
ist der Kausalzusammenhang nicht allgemein an eine solche Voraussetzung
geknüpft, insbesondere dann nicht, wenn der Täter durch sein Verhalten
einen besonderen Haftgrund setzt. Es kommt dann vielmehr einzig darauf an,
ob das Verhalten des Täters tatsächlich massgebender Grund dafür war, dass
er verhaftet oder in Haft behalten worden ist. Wird diese Frage bejaht, so
hat der Beschuldigte im Sinne des Art. 69 StGB die Haft herbeigeführt oder
verlängert, und sie darf daher für solange, als die Dauer der Haft auf sein
Verhalten zurückzuführen ist, ihm nicht auf die Strafe angerechnet werden,
gleichgültig, ob neben dem konkreten noch ein abstrakter Haftgrund bestand
und ob die Verhaftung oder Haftbelassung ohne den besondern Haftgrund
aus dem allgemeinen angeordnet worden wäre (BGE 73 IV 94 ff.). Hievon
abzugehen und in Fällen, in denen die Haft sowohl mit einem abstrakten
als auch mit einem konkreten Haftgrund gerechtfertigt werden kann, den
ursächlichen Zusammenhang zwischen der Haft und dem vom Beschuldigten zu
vertretenden Verhalten stets auszuschliessen, hätte zur Folge, dass es auf
den Grund, aus dem die Haft in Wirklichkeit verfügt oder beibehalten wurde,
nicht mehr ankäme und dass die Haft ohne Rücksicht auf das Benehmen des
Beschuldigten immer angerechnet werden müsste. Das widerspräche dem Zweck
des Art. 69 StGB, der verhindern will, dass die Haft, zu der der Täter
absichtlich Anlass gegeben hat, angerechnet werde. Es wäre auch nicht zu
rechtfertigen, dass der eine Täter, der z.B. durch Verdunkelungsmassnahmen
der Strafverfolgung entgegenzuwirken oder durch Flucht sich der Strafe
zu entziehen sucht, in den Genuss der Haftanrechnung käme, während sie
dem andern, der die Untersuchung durch Leugnen, Auskunftsverweigerung
u. dgl. erschwert, versagt bliebe.

    Der Umstand, dass im vorliegenden Falle die allgemeine
Fluchtgefahr neben der besondern, wie sie sich aus dem Fluchtversuch
des Beschwerdeführers ergab, fortbestand und die Haft darum mit grosser
Wahrscheinlichkeit auch ohne diesen Fluchtversuch aufrechterhalten worden
wäre, schliesst daher nicht aus, dass vom 26. Oktober an nicht mehr
die abstrakte, sondern die konkrete Fluchtgefahr massgebender Grund für
die Fortdauer der Haft war. Es wäre auch keineswegs unbillig, Taupe die
Folgen seines Verhaltens tragen zu lassen, dem Mitbeschuldigten Schönherr,
der keinen Fluchtversuch unternahm, dagegen die Haft anzurechnen.