Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 91 IV 177



91 IV 177

47. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 25 Oktober 1965
i.S. Jugendamt des Kantons Zürich gegen S. Regeste

    Art. 91 Ziff. 1 StGB.

    Vollzugsschwierigkeiten sind kein Grund, die angeordnete, aber durch
Flucht des Zöglings vereitelte Anstaltseinweisung aufzuheben (Erw. 2).

    Hinweis auf Hilfs- oder Ersatzmassnahmen, die in einem solchen Falle
in Betracht kommen (Erw. 4).

Sachverhalt

                       Aus dem Tatbestand:

    S. ist der uneheliche Sohn der in Zürich wohnhaften Schweizerbürgerin
G. S. und des in Köln ansässigen deutschen Staatsangehörigen R. Unter
Vormundschaft gestellt wuchs S. in fremden Familien und Heimen auf. Seine
Erziehung bereitete Schwierigkeiten. Wegen wiederholter Entwendung
von Motorfahrzeugen zum Gebrauch, Fahrens ohne Führerausweis und eines
Diebstahls ordnete das Jugendgericht des Bezirkes Zürich am 22. März 1962
gegen den damals 17-jährigen S. gestützt auf Art. 91 Ziff. 1 StGB die
Einweisung in eine Erziehungsanstalt an. S. war schon auf den 20. Dezember
1961 vorsorglich in die Anstalt eingewiesen worden, entwich aus dieser
jedoch am 13. März 1962, wurde am 26. März 1962 wieder verhaftet und
am 31. März 1963 bedingt entlassen. Wegen schlechter Führung musste
die bedingte Entlassung am 7. August 1963 widerrufen werden. Erst am
13. Januar 1964 konnte S., nachdem er sich vorher in Deutschland und
Frankreich herumgetrieben hatte, in der Unterwelt Zürichs gefasst und in
die Anstalt zurückgeführt werden. Bereits einen Monat später entwich er
aus dieser ein zweites Mal, um vorerst seinen Vater in Köln aufzusuchen
und dann bald in Zürich bald in Paris aufzutauchen. Wovon er lebte, blieb
ungeklärt. Er wurde vielfach in Begleitung eines Mädchens beobachtet,
das sich als Animierdame und Stripteasetänzerin betätigte.

    Am 13. Mai 1965 hob das Jugendgericht des Bezirkes Zürich auf Antrag
der Jugendanwaltschaft die im März 1962 verfügte Anstaltseinweisung
auf, weil jede Weiterführung der genannten Massnahme sinnlos geworden
sei. Den gegen diesen Entscheid erhobenen Rekurs des Jugendamtes wies
das Obergericht am 6. August 1965 ab.

    Hiegegen führt das Jugendamt des Kantons Zürich Nichtigkeitsbeschwerde
mit dem Antrag, die Verfügung der Anstaltseinweisung aufrecht zu erhalten
und vollziehen zu lassen.

Auszug aus den Erwägungen:

                       Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- Nach Art. 91 Ziff. 1 Abs. 2 StGB hat der in eine Erziehungsanstalt
eingewiesene Jugendliche so lange dort zu bleiben, als es seine Erziehung
erfordert, jedoch mindestens ein Jahr. Hat er das zweiundzwanzigste Jahr
zurückgelegt, so wird er entlassen.

    Das Obergericht verkennt diese Bestimmung, wenn es im wesentlichen
wegen Vollzugsschwierigkeiten einen Grund zur Aufhebung der fraglichen
Massnahme erblickt. Nicht nur gibt das Gesetz - selbst bei weitester
Auslegung - für eine derartige Entscheidung keine Handhabe, sondern es
fehlt ihr auch die sachliche Rechtfertigung. Aus welchen Gesichtspunkten
der Gesetzgeber die Entlassung eines Zöglings nach zurückgelegtem
22. Altersjahr vorsieht, ist hier entgegen der Auffassung der Vorinstanz
unwesentlich, ebenso kann die Frage offen gelassen werden, ob diese
Bestimmung auch für denjenigen gelte, der wie S. sich dauernd der
gegen ihn angeordneten Massnahme entzogen hat, sodass von "entlassen" im
eigentlichen Sinne kaum mehr gesprochen werden kann. Der Beschwerdegegner
hat die erwähnte, für eine Anstaltserziehung bestimmte Altersgrenze noch
nicht erreicht. Wie schon entschieden worden ist (BGE 76 IV 225 Erw. 2),
kann aber ein Jugendlicher selbst dann noch in eine Erziehungsanstalt
eingewiesen werden, wenn infolge seines Alters für den dortigen Aufenthalt
nur noch weniger als ein Jahr zur Verfügung steht. Umsomehr muss auch die
Rückversetzung möglich sein. Die Schwierigkeiten, die sich im Hinblick
auf den Auslandsaufenthalt des S. für den Vollzug ergeben, entheben den
Richter nicht von seiner Verantwortung. Abgesehen davon, dass die Annahme
der Landesabwesenheit nach den Feststellungen der Jugendanwaltschaft nicht
mehr sicher zutreffen soll, sind solche Schwierigkeiten kein Grund, nicht
zu tun, was nach dem Gesetz getan werden muss. Anders entscheiden hiesse
diejenigen bevorzugen, die es verstehen, durch Ausreissen und Flucht ins
Ausland der Anstaltseinweisung zu entgehen.

Erwägung 3

    3.- Dafür, dass die Aufhebung der Massnahme aus sachlichen Gründen
sinn- und zwecklos geworden wäre, liegt nichts vor. Zwar schliesst
die Vorinstanz aus den bei den Akten liegenden Briefen des Vaters an
die Jugendanwaltschaft auf eine intensive Anteilnahme am Schicksal
seines Sohnes, worin eine gewisse Gewähr dafür erblickt werden dürfe,
S. könnte sich zukünftig auch in Freiheit halten. Indessen deutet nichts
darauf hin, dass sich die angegebene Anteilnahme tatsächlich günstig
auszuwirken begonnen habe. Aus den Aufzeichnungen der Jugendanwaltschaft
ergibt sich gegenteils, dass S. am 14. August 1965, also kurz nach dem
vorinstanzlichen Urteil, mit seiner Freundin von Paris herkommend wieder
in die Schweiz einreiste, in Dirnenlokalen und auf Strichplätzen Zürichs
verkehrte und sich wahrscheinlich von seiner Weggefährtin aushalten
liess. Diese Hinweise sind allerdings, weil neu, nach Art. 273 Abs. 1
lit. b BStP unbeachtlich und müssten zuerst von der Vorinstanz überprüft
werden. Jedenfalls aber fehlt jeder Nachweis dafür, dass die Gründe, die
mit Recht zur Einweisung des S. in die Erziehungsanstalt geführt haben,
dahingefallen seien und dass unter dem Einfluss des Vaters oder sonstwie
irgendwelche Besserung eingetreten wäre. Das allein ist entscheidend. Bei
diesem Sachverhalt durfte die angeordnete Erziehungsmassnahme keinesfalls
einfach als sinn- und zwecklos fallen gelassen werden.

Erwägung 4

    4.- Die Vorinstanz wird daher, wenn ihr nicht schon die angeführten
neuen Beobachtungen der Jugendanwaltschaft als genügend erscheinen,
zunächst durch weitere Erhebungen, nötigenfalls auf dem Rechtshilfeweg,
zu klären haben, wie es mit dem jungen Manne steht. Ergibt es sich,
dass die sittliche Gefährdung oder Verwahrlosung andauert, so wird zu
entscheiden sein, was mit ihm zu geschehen habe. Dabei kämen folgende
Massnahmen in Betracht:

    a) Die einfache Rückversetzung in die Anstalt, die nach den
wiederholten Entweichungen allerdings kaum zum Ziele führen dürfte;

    b) die Rückversetzung mit Trennung von den übrigen Eingewiesenen
gemäss Art. 91 Ziff. 3 StGB;

    c) eine besondere, beispielsweise psychiatrische Behandlung nach
Art. 92 StGB, wenn sich eine solche im Hinblick auf den Geisteszustand
oder die sittliche Entwicklung als nötig erweisen sollte;

    und schliesslich als ultima ratio

    d) die Versetzung in eine Strafanstalt gemäss Art. 93 Abs. 2
StGB. Nach dieser Bestimmung kann der Jugendliche in eine Strafanstalt
versetzt werden, wenn er sich als unverbesserlich erweist oder wenn sein
Verhalten eine Gefahr für die Erziehung der übrigen Zöglinge bedeutet. Als
unverbesserlich darf auch derjenige betrachtet werden, der trotz strenger
Aufsicht wiederholt aus der Erziehungsanstalt entweicht (vgl. BGE 85 IV
16), sodass sich die Einweisung, weil geschlossene Erziehungsanstalten
noch fehlen, für die Erziehungsaufgabe als aussichtslos erweist. Im
übrigen bleibt die Versetzung in eine Strafanstalt Massnahme und hat
nicht Strafcharakter.

    Sollte S. in der Schweiz nicht zu fassen sein, so könnte dessen
Auslieferung aus dem gegenwärtigen Aufenthaltsland auf dem Wege der
Rechtshilfe verlangt werden. Was Deutschland im besonderen anbelangt,
wohin sich S. jeweils verzieht, so würde dort - wie eine Rückfrage bei der
Sektion für Auslieferung und internationale Rechtshilfe der Eidgenössischen
Polizeiabteilung ergab - einem dahingehenden Gesuch Folge gegeben.

Entscheid:

               Demnach erkennt der Kassationshof:

    Die Nichtigkeitsbeschwerde wird gutgeheissen, der angefochtene
Entscheid aufgehoben und die Sache zu neuer Entscheidung im Sinne der
Erwägungen an die Vorinstanz zurückgewiesen.