Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 91 IV 141



91 IV 141

38. Urteil des Kassationshofes vom 1. Oktober 1965 i.S. Kunz gegen
Polizeirichteramt der Stadt Zürich. Regeste

    Art. 32 Abs. 1 SVG. Geschwindigkeit.

    1.  Befugnis des Kassationshofes, die Angemessenheit einer
Geschwindigkeit zu überprüfen; Grenzen dieser Prüfung (Erw. 1).

    2.  Bei städtischen Verkehrszentren, die an alle Fahrer besondere
Anforderungen stellen, darf die Frage, welche Geschwindigkeit den
Umständen angepasst sei, nicht nur vom Verhältnis zwischen einzelnen
Fahrern (z.B. vom Vortritt) abhängig gemacht werden (Erw. 2).

Sachverhalt

    A.- Kunz fuhr am Ostermontag 1964, um 17.35 Uhr, mit einem "Volkswagen"
in Zürich von der Wipkingerbrücke her gegen den Escher Wyss-Platz.

    Auf diesem Platz treffen fünf grosse Verkehrsadern sternförmig
zusammen, nämlich von Norden die von Kunz benützte Strasse, von Osten der
Sihlquai und die Limmatstrasse, von Süden die Hardstrasse und von Westen
die Hardturmstrasse. Dazu kommen verschiedene Linien der städtischen
Verkehrs betriebe.

    Kunz, der den Platz in Richtung Hardstrasse überqueren wollte, fuhr
nach der Brücke auf den innern von zwei Fahrstreifen, die rechts an der
grossen Verkehrsinsel vorbeiführen. Auf dem äussern Streifen bewegte sich
eine dichte Autokolonne, die in die Hardturmstrasse abbiegen wollte. Als
Kunz sich mit etwas mehr als 40 km/Std. der Insel näherte, wurde sein
Fahrzeug von einem Personenwagen "Ford Taunus", der vom Sihlquai herkam
und von Margaret Schmid gesteuert war, seitlich gerammt. Es enstand
beträchtlicher Sachschaden.

    B.- Der Einzelrichter in Strafsachen des Bezirksgerichtes Zürich
sprach am 11. Juni 1965 Kunz von der Anschuldigung der Verletzung des
Art. 4 Abs. 1 VRV frei, erklärte ihn dagegen der Übertretung von Art. 32
Abs. 1 SVG schuldig und büsste ihn mit Fr. 20.-.

    C.- Kunz führt Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag, ihn
freizusprechen. Er macht geltend, seine Geschwindigkeit könne nicht als
übersetzt bezeichnet werden.

    D.- Das Polizeirichteramt der Stadt Zürich beantragt, die Beschwerde
abzuweisen.

Auszug aus den Erwägungen:

              Der Kassationshof zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Nach Art. 32 Abs. 1 SVG ist die Geschwindigkeit stets den
Umständen, insbesondere den Strassen- und Verkehrsverhältnissen
anzupassen. Welche Geschwindigkeit jeweils als angemessen zu gelten hat,
ist zwar eine Rechtsfrage, die das Bundesgericht frei überprüfen kann. Es
ist aber zu bedenken, dass die Beantwortung der Frage weitgehend von der
Würdigung der örtlichen Verhältnisse abhängt, die der kantonale Richter im
allgemeinen aus eigener Wahrnehmung kennt. Auch muss diesem ein gewisses
Ermessen eingeräumt werden, weil die Angemessenheit einer Fahrweise sich
naturgemäss nicht genau feststellen, sondern bloss abschätzen lässt. Der
Kassationshof weicht daher von der Ansicht der kantonalen Instanzen über
die Zulässigkeit oder Unzulässigkeit einer Geschwindigkeit nur ab, wenn
es sich aufdrängt (BGE 89 IV 102 Erw. 2).

Erwägung 2

    2.- Das ist hier nicht der Fall. Der Beschwerdeführer bemerkte
nach seinen eigenen Angaben gleich nach der Wipkingerbrücke, dass sich
von links her ein Wagen seiner Fahrbahn näherte. Er glaubte zwar, die
Lenkerin, Margaret Schmid, habe ihn gesehen und werde ihm den Vortritt
lassen. Sicher war er dessen jedoch nicht, weil er, wie er selber sagt, der
durch eine Begleitperson verdeckten Lenkerin nicht ins Gesicht habe sehen
können und sie zudem immer weiter gefahren sei. Ob diese Unsicherheit
den Beschwerdeführer hätte veranlassen sollen, langsamer zu fahren,
kann dahingestellt bleiben. Die Vorinstanz macht ihm deswegen keinen
Vorwurf, sondern übergeht die Frage, weil sie der Auffassung ist, dass
er seine Geschwindigkeit schon im Hinblick auf die ungünstigen Strassen-
und Verkehrsverhältnisse am Escher Wyss-Platz hätte mässigen sollen.

    Diese Betrachtungsweise ist nicht abwegig. Gerade in Fällen wie dem
vorliegenden muss der Richter, dem umfassenden Charakter des Art. 32
Abs. 1 SVG entsprechend, die gesamten Umstände im Auge behalten, darf
die Frage nach der angemessenen Geschwindigkeit folglich nicht nur
vom Verhältnis zwischen einzelnen Fahrern (z.B. vom Vortritt) abhängig
machen. Das ist denn auch der Sinn des angefochtenen Urteils. Es kann
nur dahin verstanden werden, dass der Escher Wyss-Platz an alle Fahrer
besondere Anforderungen stelle und dass deshalb jeder mit Rücksicht auf
die erhöhten Schwierigkeiten der andern vorsichtig fahren müsse, auch
der Vortrittsberechtigte. Die Schwierigkeiten ergeben sich vor allem
daraus, dass dort fünf grosse Verkehrsadern und zudem mehrere Linien der
städtischen Verkehrsbetriebe zusammentreffen. Die Gefahren, die sich aus
einer solchen Häufung von Verkehrswegen auf gleicher Ebene ergeben, waren
zur Zeit der Tat besonders gross, da nach den Zeugenaussagen sehr starker
Verkehr herrschte. Angesichts dieser Umstände durfte die Vorinstanz mit
guten Gründen sagen, der Beschwerdeführer habe Art. 32 Abs. 1 SVG schon
dadurch verletzt, dass er mit einer Geschwindigkeit von über 40 km/Std. auf
den Platz gefahren sei. Dass er sich in einer lockeren Kolonne befand,
lässt sein Verschulden wohl als milder erscheinen, enthob ihn jedoch
sowenig wie alle andern der Pflicht, seine Fahrweise den besonders
schwierigen Verhältnissen auf dem Escher Wyss-Platz anzupassen.

Entscheid:

Demnach erkennt der Kassationshof:

    Die Nichtigkeitsbeschwerde wird abgewiesen.