Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 91 IV 107



91 IV 107

31. Entscheid der Anklagekammer vom 21. Juni 1965 i.S. Schweizerische
Bundesanwaltschaft gegen die Staatsanwaltschaften der Kantone Zürich
und Schaffhausen. Regeste

    Art. 264 BStP, Bezeichnung des Gerichtsstandes durch die Anklagekammer
des Bundesgerichts; Verhältnis zu Art. 268 BStP, Nichtigkeitsbeschwerde
an das Bundesgericht; Befugnis der Bundesanwaltschaft zur Anrufung der
Anklagekammer.

    Art. 264 BStP geht Art. 268 BStP vor und gilt für alle
Streitigkeiten, die sich in Strafsachen eidgenössischen Rechts auf die
Frage des interkantonalen Gerichtsstandes beziehen. Insoweit ist die
Nichtigkeitsbeschwerde wegen Verletzung von Bundesrecht ausgeschlossen.

    Auch die Bundesanwaltschaft ist zur Anrufung der Anklagekammer befugt
(Erw. 1).

    Art. 96 Abs. 2 ZG, örtliche Zuständigkeit für die gerichtliche
Beurteilung von Zollvergehen; Verhältnis zu Art. 283 Abs. 1 BStP.

    Art. 96 Abs. 2 ZG schliesst die Anwendung von Art. 283 Abs. 1 BStP aus
(Erw. 2).

Sachverhalt

    A.- Zobrist, wohnhaft in Dietikon (Kanton Zürich), reiste am 17. Januar
1963 mit seinem VW-Bus nach Deutschland. Dort liess er den auf der Reise
schadhaft gewordenen Motor durch denjengen eines Abbruchwagens gleichen
Typs ersetzen. Darauf fuhr er über das Zollamt Bargen (Kanton Schaffhausen)
in die Schweiz zurück, unterliess es jedoch bei der Wiedereinreise,
den in Deutschland erworbenen und in seinem Wagen eingebauten Motor
zur Zollbehandlung anzumelden. Er hinterzog dadurch die Einfuhrabgaben
an Zoll und Warenumsatzsteuer. Am 24. April 1963 büsste ihn deshalb die
Eidgenössische Oberzolldirektion in Anwendung der Art. 74 Ziff. 3, Art. 75
und 91 des Bundesgesetzes über das Zollwesen (ZG) sowie der Art. 52
und 53 des Bundesratsbeschlusses über die Warenumsatzsteuer (WUSTB)
mit Fr. 312.--. Die Strafverfügung blieb unangefochten und erwuchs in
Rechtskraft, doch kam Zobrist der Aufforderung zur Zahlung von Zollbusse,
Gebühren und Einfuhrabgaben nur zum Teil nach. Die Betreibung führte zu
einem Verlustschein. In der Folge beantragte die Direktion des Zollkreises
II am 14. Oktober 1964 beim Bezirksgericht Zürich unter Berufung auf
Art. 98 ZG sowie Art. 317 und 339 des Bundesstrafrechtspflegegesetzes
(BStP), den nichteinbringlichen Bussenbetrag von Fr. 312.-- in 31 Tage
Haft umzuwandeln.

    B.- Das Bezirksgericht Zürich, 3. Abteilung, und am 25.  Januar 1965
auf Rekurs hin auch die I. Strafkammer des zürcherischen Obergerichts
lehnten die Behandlung des Falles ab; zuständig seien die Gerichte des
Kantons Schaffhausen, wo die Übertretung der genannten Bestimmungen
begangen worden sei.

    C.- Die Bundesanwaltschaft erhob Nichtigkeitsbeschwerde mit
dem Antrag, der angefochtene Beschluss des Zürcher Obergerichts sei
aufzuheben und die Sache an die Vorinstanz zurückzuweisen, damit diese
auf das Bussenumwandlungsgesuch eintrete. Allenfalls sei die Beschwerde
als Gesuch von der Anklagekammer gestützt auf Art. 264 BStP zu behandeln.

    D.- Durch Beschluss vom 9. April 1965 überwies der Kassationshof
die Angelegenheit an die Anklagekammer, die sich zu deren Anhandnahme
nach einem Meinungsaustausch zwischen den beiden Behörden gemäss Art. 96
Abs. 2 OG bereit erklärt hat.

    E.- Die Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich beantragt Abweisung,
diejenige des Kantons Schaffhausen Gutheissung des Gesuches der
Bundesanwaltschaft.

Auszug aus den Erwägungen:

Die Anklagekammer zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Seit dem Entscheid i.S. Pedler vom 12. Februar 1947 (BGE 73 IV
54) hat die Anklagekammer im Einverständnis mit dem Kassationshof stets
an der Auffassung festgehalten, dass Art. 264 BStP als Sonderbestimmung
dem Art. 268 BStP vorgehe und für alle Streitigkeiten gelte, die sich
in Strafsachen eidgenössischen Rechts auf die Frage des interkantonalen
Gerichtsstandes beziehen; Art. 264 BStP bilde demzufolge eine Ausnahme von
der Möglichkeit, Urteile in Strafsachen wegen Verletzung von Bundesrecht
mit der Nichtigkeitsbeschwerde anzufechten. Hieran ändert nichts, dass
die Anklagekammer nur angerufen werden kann, solange noch kein Sachurteil
ergangen ist. Diese Einschränkung trifft nicht die Zuständigkeitsordnung,
sondern die Anfechtbarkeit der fraglichen Zuständigkeit schlechthin
(vgl. BGE 70 IV 95). Entgegen der Annahme der Gesuchstellerin ist der
erwähnte Grundsatz auch nicht dadurch eingeschränkt worden, dass in
den Erwägungen zu BGE 87 IV 146 beiläufig bemerkt wurde, solange die
Anklagekammer nach Art. 264 BStP angerufen werden könne, sei jedes
andere eidgenössische Rechtsmittel gegen die Verletzung bundesrechtlicher
Zuständigkeitsvorschriften in Strafsachen ausgeschlossen. Gegenteils wird
dadurch der Vorrang von Art. 264 BStP gegenüber Art. 268 BStP bestätigt.

    Zu Unrecht glaubt die Gesuchstellerin, sie gehöre nicht zum Kreis
derjenigen, die zur Anrufung der Anklagekammer befugt seien. Ihre
Befugnis ergibt sich aus den in der bisherigen Rechtsprechung entwickelten
Richtlinien (zusammengefasst in BGE 88 IV 143/144). Ist der Bundesanwalt
gemäss Art. 279 in Verbindung mit Art. 310 und 311 BStP berechtigt,
das Sachurteil mit der Nichtigkeitsbeschwerde anzufechten, so muss er
auch befugt sein, für die vorweg zu entscheidende Gerichtsstandsfrage
die Anklagekammer anzurufen.

    Die als Nichtigkeitsbeschwerde bezeichnete Eingabe der
Bundesanwaltschaft ist daher gemäss dem Eventualbegehren als Gesuch um
Bestimmung des Gerichtsstandes nach Art. 264 BStP durch die Anklagekammer
zu beurteilen.

Erwägung 2

    2.- Die beantragte Umwandlung der Busse in Haft hat nach Art. 317
BStP der Richter vorzunehmen, "der die Übertretung beurteilt hat
oder hierzu zuständig wäre". Streitig ist, ob für die Bestimmung
dieses Gerichtsstandes gemäss Ansicht der Gesuchstellerin Art. 283
Abs. 1 BStP anwendbar sei, wonach der Verwaltung die Wahl zusteht,
sich entweder an das kantonale Gericht zu wenden, in dessen Bezirk
die Tat begangen worden ist, oder an dasjenige, in dessen Bezirk
der Beschuldigte wohnt. Das Obergericht verneinte die Anwendbarkeit
dieser Bestimmung. Seine Begründung ist zutreffend und schlüssig. Für
Übertretungen fiskalischer Bundesgesetze gelten die allgemeinen
Bestimmungen des Bundesstrafrechtspflegegesetzes nur, "soweit diese
Bundesgesetze und die darauf beruhenden Ausführungsverordnungen keine
besondern Bestimmungen enthalten" (Art. 279 BStP). Das Bundesgesetz über
das Zollwesen vom 1. Oktober 1925 sowie dessen Vollziehungsverordnung (ZV)
enthalten aber in bezug auf die Zuständigkeit eine Sondervorschrift in Art.
96 ZG und 129 ZV. Danach sind für die Beurteilung von im Inland begangenen
Zollvergehen "in der Regel die Gerichte des Kantons" örtlich zuständig,
"wo die strafbare Handlung begangen worden ist". Vorbehalten bleibt
die Befugnis des Bundesrates, einen Straffall dem Bundesstrafgericht
zu überweisen (Art. 96 Abs. 3 ZG und Art. 129 Abs. 4 ZV in Verbindung
mit Art. 281 Abs. 4 BStP). Dasselbe gilt für die Übertretung des
Warenumsatzsteuerbeschlusses (Art. 53 WUStB). Diese Sonderregelung
schliesst entgegen der Meinung der Gesuchstellerin die Anwendung von
Art. 283 BStP aus. Dass sie älteren Rechts ist, ändert hieran nichts. Der
in Art. 279 BStP enthaltene Vorbehalt nimmt ältere Gesetze nicht aus;
vielmehr wird ausdrücklich darauf Rücksicht genommen. Ebensowenig steht
dieser Betrachtungsweise im Wege, dass Art. 96 Abs. 2 ZG nur die örtliche
Zuständigkeit regelt. Sie weicht deshalb nicht weniger von Art. 283
BStP ab, der die gleiche Frage anders ordnet. Endlich kann das streitige
Wahlrecht auch nicht daraus abgeleitet werden, dass nach Art. 96 Abs. 2 ZG
der Begehungsort für die örtliche Zuständigkeit nur "in der Regel" gelten
soll. Denn ob und wie hievon abgewichen werden kann, ist wiederum nicht
nach Art. 283 BStP, sondern im Rahmen derjenigen Bestimmung zu befinden,
welche die Regel aufstellt. Diese würde ihren Sinn verlieren, wenn nach
Auffassung der Gesuchstellerin der Verwaltung gleichwohl die freie Wahl
zwischen dem Gerichtsstand des Tatortes und demjenigen des Wohnortes des
Beschuldigten nach Art. 283 BStP offen bliebe. Es ist deshalb der von
der Verwaltung oder von der Bundesanwaltschaft angerufenen kantonalen
Behörde vorbehalten, nicht nur den Begehungs- oder Wohnort und allenfalls
andere Umstände festzustellen (vgl. BGE 82 IV 125), sondern auch zu
entscheiden oder durch die Anklagekammer des Bundesgerichts nach Art. 264
BStP entscheiden zu lassen, ob Gründe vorliegen, die ein Abweichen vom
ordentlichen Gerichtsstand des Begehungsortes gemäss Art. 96 Abs. 2 ZG
rechtfertigen. Dabei vermögen die geltend gemachten Vorteile, die jedem
Wohnsitzgerichtsstand eigen sind, nicht zu genügen. Erforderlich sind
Besonderheiten, die begriffsgemäss als im Gegensatz zur "Regel" stehend,
aussergewöhnlich erscheinen und deshalb auch eine entsprechende Ausnahme
hinsichtlich der örtlichen Zuständigkeit begründen; so beispielsweise,
um dem Beschuldigten die Möglichkeit einzuräumen, sich vor einem Gericht
seiner Muttersprache verantworten zu können oder um ihm durch die
Beurteilung an seinem Wohnort statt am Tatort einen unverhältnismässigen
Aufwand an Zeit, Kosten und Umtrieben zu ersparen.

    Im vorliegenden Fall sind derartige besondere Gründe weder genannt
noch erkennbar. Es muss deshalb beim ordentlichen Gerichtsstand sein
Bewenden haben, was zur Abweisung des Gesuches und Zuteilung der Sache
an den Kanton Schaffhausen führt.