Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 91 II 68



91 II 68

9. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung vom 9. Februar 1965 i.S. The
Dow Chemical Company gegen Cliché AG und Gebr. Ritter. Regeste

    Berufung im Patentprozess. Auslegung von Art. 67 OG.  Befugnisse
des Instruktionsrichters und der Gerichtsabteilung hinsichtlich
der Anordnung von Beweismassnahmen zur Überprüfung der tatsächlichen
Feststellungen der kantonalen Instanz über technische Verhältnisse und
hinsichtlich der Zulassung neuer Tatsachen und Beweismittel, die sich
auf solche Verhältnisse beziehen. Wann haben die Parteien Gelegenheit,
Beweismassnahmen und die Zulassung neuer Tatsachen und Beweismittel zu
beantragen? Wann ist über solche Anträge zu entscheiden? Art. 67 BZP ist
nicht anwendbar.

Sachverhalt

    Die Beklagte legte gegen das Urteil des Handelsgerichtes des
Kantons Zürich vom 15. Oktober 1963, das ihr Patent Nr. 338'669 mangels
Erfindungshöhe für nichtig erklärte, Berufung ein und beantragte in der
Berufungsschrift u.a. die Ernennung eines neuen chemischen Sachverständigen
durch das Bundesgericht. Der Instruktionsrichter wies diesen Antrag
am 25. Mai 1964 ab und ersuchte die bisherigen Sachverständigen um eine
Ergänzung ihres Gutachtens. Am 25. September 1964 liess er den Parteien
das Ergänzungsgutachten zustellen, und mit Verfügung vom 7. Oktober
1964 gab er ihnen durch Ansetzung einer Frist Gelegenheit, unter den
Voraussetzungen von Art. 67 Ziff. 3 OG und Art. 60 Abs. 1 BZP Anträge
im Sinne dieser Bestimmungen zu stellen. Die Beklagte beantragte hierauf
mit Eingabe vom 27. Oktober 1964 die Anordnung einer Oberexpertise. Der
Instruktionsrichter holte bei den Sachverständigen eine Vernehmlassung ein
und liess sie am 11. Dezember 1964 den Parteien zugehen mit dem Bemerken,
er ordne keine weitern Beweismassnahmen, insbesondere keine Oberexpertise
an. Hierauf beantragte die Beklagte mit Eingabe von 21. Dezember 1964 unter
Berufung auf Art. 67 BZP, die I. Zivilabteilung möge in Abänderung der
Verfügung des Instruktionsrichters vom 11. Dezember 1964 über die Frage
der Erfindungshöhe eine Oberexpertise anordnen. Zu dieser Eingabe holte
der Instruktionsrichter mit Verfügung vom 30. Dezember 1964 für den Fall,
dass sie nicht aus den Akten gewiesen werden sollte, Gegenbemerkungen der
Kläger ein. Am 11. Januar 1965 richtete die Beklagte an den Präsidenten der
I. Zivilabteilung das Gesuch, ihren Antrag vom 21. Dezember 1964 vor der
Berufungsverhandlung der Abteilung vorzulegen. Vom Instruktionsrichter
mit Schreiben vom 13. Januar 1965 u.a. darauf hingewiesen, dass sie
nicht berechtigt sei, den in der Berufungsschrift und in der Eingabe vom
27. Oktober 1964 gestellten und begründeten, der I. Zivilabteilung auf
die Hauptverhandlung hin zur Kenntnis gelangenden Antrag auf Einholung
eines Obergutachtens zum Gegenstand weiterer Eingaben zu machen, hat
sie dem Bundesgericht in der mündlichen Parteiverhandlung beantragt,
vor der Verhandlung über die Sache selbst über ihren Beweisantrag zu
entscheiden. Diesen Begehren wurde nicht entsprochen.

    Das (die Berufung abweisende) Urteil des Bundesgerichtes enthält
über die durch die Beweisanträge der Beklagten aufgeworfenen Fragen des
Verfahrensrechtes folgende

Auszug aus den Erwägungen:

                           Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- ... Art. 67 OG in der Fassung gemäss Art. 118 PatG stellt für
die Streitigkeiten über Erfindungspatente Sonderbestimmungen auf,
die hauptsächlich in zwei Punkten von den allgemeinen Vorschriften
über die Berufung an das Bundesgericht abweichen: Ziffer 1 erlaubt dem
Bundesgericht, in solchen Streitigkeiten die tatsächlichen Feststellungen
der kantonalen Instanz über technische Verhältnisse auf Antrag oder
von Amtes wegen zu überprüfen und zu diesem Zwecke Beweismassnahmen zu
treffen, während es sonst gemäss Art. 43 Abs. 1 OG nur die Anwendung des
Bundesrechtes überprüfen darf und gemäss Art. 63 Abs. 2 OG unter den hier
genannten Vorbehalten an die tatsächlichen Feststellungen der Vorinstanz
gebunden ist, und Ziffer 2 Absatz 2 gestattet den Parteien in Abweichung
von Art. 55 Abs. 1 lit. c OG, mit Bezug auf technische Verhältnisse neue
Tatsachen und Beweismittel vorzubringen, wenn im kantonalen Verfahren keine
Möglichkeit oder kein Grund bestand, sie geltend zu machen. Die übrigen
Ziffern von Art. 67 OG befassen sich mit den Fristen für Anträge im Sinne
von Ziffer 1 und Ziffer 2 Abs. 2 (Ziffer 3), mit dem Beweisverfahren
(Ziffer 4) und mit dem Beizug der Sachverständigen zur Urteilsberatung
(Ziffer 5).

    Wie schon in BGE 85 II 514 ausgeführt, macht Art. 67 OG die
Weiterziehung kantonaler Urteile in Patentprozessen nicht zur
Appellation. Vielmehr bleibt diese Weiterziehung eine Berufung, wie
schon aus der Stellung von Art. 67 OG im Gesetz und aus der Erwähnung
der Berufungsschrift und -antwort in Ziffer 3 Abs. 1 hervorgeht. Die
einzelnen Vorschriften des Art. 67 OG sind daher im Geiste dieses
Rechtsmittels auszulegen. Soweit sie keine Sonderregelung enthalten, sind
die allgemeinen Vorschriften über die Berufung auch in Patentprozessen
anwendbar (vgl. z.B. BGE 85 II 594 f., wonach das Bundesgericht die
erforderlichen tatsächlichen Feststellungen nicht selbständig treffen darf,
sondern die Sache gemäss Art. 64 OG an die Vorinstanz zurückzuweisen hat,
wenn es zur Auffassung gelangt, ein von der Vorinstanz nicht beurteilter
Nichtigkeitsgrund müsse geprüft werden, und BGE

89 II 163

und 173, wonach Art. 63 Abs. 2 OG massgebend bleibt, soweit nicht Art. 67
OG eingreift).

Erwägung 3

    3.- Art. 67 OG bestimmt, das "Bundesgericht" könne Beweismassnahmen
treffen (Ziff. 1, 2 Abs. 1) und für Anträge gemäss Ziff. 2 Abs. 2 (d.h. für
Anträge auf Zulassung neuer Tatsachen und Beweismittel) auf Gesuch
hin eine weitere Frist einräumen (Ziff. 3 Abs. 1 Satz 2). Das bedeutet
nicht, dass nur die für Patentsachen zuständige I. Zivilabteilung des
Bundesgerichts als Gesamtbehörde über diese Befugnisse verfüge. Vielmehr
ist es vorerst Sache des vom Abteilungspräsidenten gemäss Art. 13
OG bezeichneten Instruktionsrichters, über die Anordnung von
Beweismassnahmen und im Zusammenhang damit über Anträge auf Zulassung
neuer Tatsachen und Beweismittel sowie über Gesuche um Einräumung einer
weitern Frist für solche Anträge zu befinden und gegebenenfalls das
Beweisverfahren durchzuführen. Art. 67 OG erwähnt diesen Richter zwar
nicht ausdrücklich. Die Art. 36-65 und 68 BZP, welche gemäss Art. 67
Ziff. 4 OG für die Beweismassnahmen im Sinne von Art. 67 Ziff. 1 und 2
OG entsprechend anwendbar sind, sprechen dagegen an zwei Stellen (Art. 41
und 44 Abs. 4) vom Instruktionsrichter und setzen demnach voraus, dass er
die zur Ermittlung des massgebenden Tatbestandes erforderlichen Vorkehren
trifft.

    Der Instruktionsrichter entscheidet jedoch nicht endgültig, ob
und in welchem Umfang gemäss Antrag einer Partei oder von Amtes wegen
ein Beweisverfahren durchzuführen und ob Anträgen auf Zulassung neuer
Tatsachen und Beweismittel und Gesuchen um Einräumung einer Frist für
solche Anträge zu entsprechen sei. Der abschliessende Entscheid hierüber
steht vielmehr der für die Urteilsfällung zuständigen Gerichtsabteilung
zu. Das folgt schon daraus, dass diese die Berufung umfassend zu prüfen
hat, und wird durch den gemäss Art. 67 Ziff. 4 OG für die Beweismassnahmen
entsprechend anwendbaren Art. 68 BZP bestätigt. Aus dieser Vorschrift
ergibt sich nämlich, dass das "Gericht", womit nach dem Sprachgebrauch
des Gesetzes (vgl. z.B. Art. 15 Abs. 1 und 44 Abs. 4 BZP) die zuständige
Gerichtsabteilung im Gegensatz zum Instruktionsrichter gememt ist, über
die Vollständigkeit der Beweiserhebungen befindet und dass auch nach den
ordentlichen Parteivorträgen auf Anordnung der Abteilung noch Beweise
aufgenommen werden können.

    Das Gericht nimmt zu den vorerst vom Instruktionsrichter geprüften
Fragen der Tatbestandsermittlung von Amtes wegen Stellung. Die betreffenden
Verfügungen des Instruktionsrichters unterliegen nicht etwa einer
förmlichen Weiterziehung an das Gericht, wie Art. 15 Abs. 1 BZP sie mit
Bezug auf Verfügungen über die Zulassung des Beitritts eines Dritten zum
Prozess im Verfahren vor Bundesgericht als einziger Instanz ausnahmsweise
vorsieht.

Erwägung 4

    4.- Nach Art. 67 Ziff. 3 Abs. 1 Satz 1 OG sind Anträge auf Überprüfung
der tatsächlichen Feststellungen der kantonalen Instanz über technische
Verhältnisse und auf Anordnung von Beweismassnahmen im Sinne von Ziff. 1
sowie Anträge auf Zulassung neuer Tatsachen und Beweismittel im Sinne von
Ziff. 2 Abs. 2 in der Berufungsschrift oder -antwort zu stellen und zu
begründen. Anträge auf Zulassung neuer Tatsachen und Beweismittel sind
gemäss Ziff. 3 Abs. 1 Satz 2 auch noch innert der auf Gesuch hin hiefür
eingeräumten weitern Frist zulässig (vgl. BGE 86 II 197 unten). Falls vom
Bundesgericht ein Gutachten angeordnet wurde, sind die Parteien gemäss
Ziff. 3 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 60 Abs. 1 BZP ausserdem befugt,
innert der Frist, die ihnen nach der zuletzt genannten Bestimmung zu
eröffnen ist, die Erläuterung oder Ergänzung des Gutachtens oder eine
neue Begutachtung und die Zulassung neuer Tatsachen und Beweismittel
zu beantragen. Diese Vorschriften bestimmen abschliessend, bei welchen
Gelegenheiten die Parteien im Berufungsverfahren in Patentprozessen
schriftliche Anträge mit Bezug auf die Anordnung von Beweismassnahmen
und die Zulassung neuer Tatsachen und Beweismittel stellen dürfen. Hier
nicht vorgesehene Eingaben zu diesem Gegenstande sind unzulässig. Die
Parteien sind entgegen der Auffassung der Beklagten namentlich nicht
berechtigt, binnen zehn Tagen, nachdem der Instruktionsrichter seine
Beweiserhebungen als abgeschlossen erklärt hat, eine Ergänzung zu
beantragen. Art. 67 BZP, auf den die Beklagte sich beruft, gilt für das
Berufungsverfahren in Patentsachen nicht. Art. 67 Ziff. 4 OG erklärt
für die Beweismassnahmen des Bundesgerichts in diesem Verfahren nur die
Art. 36-65 und 68 BZP als entsprechend anwendbar. Hätte der Gesetzgeber
auch Art. 67 BZP angewendet wissen wollen, so hätte er diese Bestimmung
in Art. 67 Ziff. 4 OG zweifellos neben Art. 68 BZP aufgeführt. Aus der
Nichterwähnung des Art. 67 BZP ist also zu schliessen, dass er in diesem
Verfahren nicht gelten soll. Dieser Schluss rechtfertigt sich um so eher,
als die in Art. 67 Ziff. 4 OG genannten Bestimmungen des BZP für die
Regelung der vom Bundesgericht gemäss Art. 67 OG allenfalls zu treffenden
Beweismassnahmen durchaus genügen und Art. 67 Ziff. 3 OG den Parteien
hinlänglich Gelegenheit bietet, ihre Anträge auf weitere Abklärung des
Tatbestandes schriftlich zur Geltung zu bringen.

    Den Parteien ist dagegen gestattet, in der Berufungsverhandlung die
Anträge, die sie in der Berufungsschrift oder -antwort oder innert der
Fristen gemäss Art. 67 Ziff. 3 Abs. 1 Satz 2 OG oder 60 Abs. 1 BZP gestellt
haben, zu erneuern und sich mit den Verfügungen des Instruktionsrichters
über diese Anträge auseinanderzusetzen. Sie haben jedoch keinen Anspruch
darauf, dass das Gericht zu solchen Ausführungen vor der Verhandlung und
Beratung über die Sache selbst Stellung nehme. Ob weitere Beweismassnahmen
zu treffen und die im Berufungsverfahren vorgebrachten neuen Tatsachen und
Beweismittel zuzulassen seien oder nicht, lässt sich in der Regel nur im
Zusammenhang mit der Behandlung der Sache selbst zuverlässig entscheiden.

    Nach diesen Grundsätzen ist von den schriftlichen Äusserungen der
Beklagten, die den Tatbestand und das Beweisverfahren betreffen, neben
den bezüglichen Ausführungen in der Berufungsschrift nur die Eingabe
vom 27. Oktober 1964 zu beachten, die innert der den Parteien gemäss
Art. 60 Abs. 1 BZP eröffneten Frist einging. Die spätern Eingaben vom
21. Dezember 1964 und 11. Januar 1965 wurden vom Instruktionsrichter mit
Recht als unzulässig bezeichnet. Dem heutigen Begehren der Beklagten, den
in der Berufungsschrift und in der Eingabe vom 27. Oktober 1964 gestellten,
heute mündlich wiederholten Antrag auf Bestellung eines neuen chemischen
Sachverständigen vor der Verhandlung über die Sache selbst zu beurteilen,
war nicht zu entsprechen.