Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 91 II 356



91 II 356

52. Urteil der I. Zivilabteilung vom 16. November 1965 i.S. Texta,
Textilabfall-Handels- und Sortier AG gegen W. Schönfeld K.G. Regeste

    1.  Bestimmung des anwendbaren Rechts beim Kauf (Erw.  1).

    2.  Handelsbräuche, auf die das Gesetz verweist, sind objektives
Recht. Trifft dies nicht zu, so haben Handelsbräuche nur Geltung, wenn und
soweit die Vertragschliessenden sie durch übereinstimmende Willensäusserung
zum Vertragsinhalt machen (Erw. 2-4).

    3.  Wann sind die Voraussetzungen der Teilwandlung gemäss Art. 209
Abs. 1 und 2 OR gegeben? Erw. 5 u. 6.

Sachverhalt

    A.- Die Firma W. Schönfeld K.G. in Regensburg, die mit Textilrohstoffen
Handel treibt, kaufte der Texta, Textilabfall-Handels- und Sortier AG in
St. Gallen wiederholt Kunstseidenfutterabschnitte ab. Nach einem Besuche
Schönfelds bei der Texta umschrieb die Käuferin mit Schreiben vom 30. Juni
1962 an die Verkäuferin eine neue Bestellung wie folgt:

    "1 Ladung von mind. 9-10 000 kg Ihr Los NL 812 neue orig. bunte
Futterseidenabschnitte, im Prinzip ohne weissgestreift, kariert und
gemustert, wiederholt gehabte Qualität sfr. 64.- ... franko Chiasso,
Pressballen bfn. Die Ballen sollen mit dem Zeichen WS und laufender
Nummer versehen sein und dürfen keinerlei Herkunftszeichen tragen. Wir
bitten Sie, uns noch am Tage der Verladung telegraphisch Waggon-Nr.,
Ballenzahl und das Gesamtgewicht bekannt zu geben und uns per Express
ein auf Deutschland ausgestelltes Ursprungszeugnis zu übersenden. .."

    Die Verkäuferin ihrerseits schrieb der Käuferin am gleichen Tage:

    "Wir bestätigen den Besuch Ihres sehr geehrten Herrn
Schönfeld und Ihnen verkauft zu haben: ca. 9-10 000 kg NL 810
neue Kunstseidenfutter-Abschnitte original, Preis 100 kg Fr. 64.-,
frachtfrei Chiasso, Verpackung b. f. n., Qualität bekannt, zu liefern
spätestens Dezember je nach Anfall, wenn möglich früher, Spediteur Andrea
Merzario Int. Spedition, Chiasso, Zahlung gegen Dokumente. Gerichtsstand
St. Gallen. Ohne Ihren gegenteiligen Bericht nehmen wir Ihr Einverständnis
mit obiger Bestätigung an."

    Am 3. Januar 1963 versandte die Texta in Erfüllung dieses Kaufvertrages
34 Ballen Futterseidenabschnitte von zusammen 12'149 t an Merzario nach
Chiasso. Die Käuferin zahlte den Kaufpreis von Fr. 7775.35. Am 18. Januar
1963 verlangte sie indessen die Wandelung des Kaufes mit der Begründung,
die Ware hätte nicht weissgestreifte Ärmelfutterseide sowie gemusterte und
karierte Abschnitte enthalten dürfen. Die Texta stellte sich demgegenüber
auf den Standpunkt, sie habe vertragsgemäss geliefert, nämlich gleiche
Qualität wie früher. Nachdem ein Mitglied ihres Verwaltungsrates den
grössten Teil der Ware in Italien besichtigt hatte, nahm sie 6 Ballen
zurück und erstattete der Käuferin Fr. 1334.80. Sie erklärte sich am
11. März 1963 auch bereit, einen siebenten Ballen zurückzunehmen, falls
er ausschliesslich Ärmelfutter enthalte. In der Folge zeigte sich, dass
das zutraf.

    B.- Die Firma W. Schönfeld K.G. klagte gegen die Texta beim
Handelsgericht des Kantons St. Gallen auf Zahlung von Fr. 11'818.55 nebst
Zins, sowie auf Tragung der seit 1. März 1964 entstandenen Kosten der
Lagerung und Auslagerung der Ware.

    Das Handelsgericht schützte am 16. Februar 1965 die Klage im Umfange
von Fr. 10'132.35 nebst Zins.

    Das Kassationsgericht des Kantons St. Gallen wies eine
Nichtigkeitsbeschwerde, welche die Beklagte gegen dieses Urteil führte,
am 7. Juli 1965 ab.

    C.- Die Beklagte hat das Urteil des Handelsgerichts rechtzeitig
auch mit der Berufung an das Bundesgericht angefochten. Sie beantragt,
die Klage abzuweisen.

    Die Klägerin stellt den Antrag, die Berufung abzuweisen und das
angefochtene Urteil zu bestätigen.

Auszug aus den Erwägungen:

              Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Mangels einer von den Vertragschliessenden getroffenen Rechtswahl
ist auf Schuldverträge das Recht jenes Staates anzuwenden, mit dem
das Rechtsverhältnis räumlich am engsten zusammenhängt. Den engsten
Zusammenhang schafft die für das Rechtsverhältnis charakteristische
Leistung. Das ist beim Kaufe die Leistung des Verkäufers (BGE 77 II 84
Erw. 2, 191, 278; 78 II 80; 79 II 165 f.; 88 II 199 Erw. 1; 89 II 267
Erw. 1 am Anfang).

    Diese war im vorliegenden Falle in der Schweiz zu erbringen,
gleichgültig ob man den Sitz der Beklagten als Erfüllungsort ansieht
(Art. 74 Abs. 2 Ziff. 3 OR) oder ob man annimmt, die Vereinbarung, wonach
die Ware an den von der Klägerin bezeichneten Spediteur Merzario in Chiasso
zu senden sei, habe Chiasso zum Erfüllungsort gemacht. Daher untersteht
das Rechtsverhältnis der Parteien, wie auch das Handelsgericht angenommen
hat, dem schweizerischen Recht. Auf die Berufung ist einzutreten.

    Ob schweizerisches Recht schon deshalb anwendbar wäre, weil sich beide
Parteien im Prozess auf Bestimmungen des schweizerischen Obligationenrechts
berufen haben, braucht nicht entschieden zu werden. Auch die Vorinstanz
hat diese Frage offen gelassen.

Erwägung 2

    2.- Die Beklagte nimmt ihre im kantonalen Verfahren erhobene
Einwendung, die Mängelrüge der Klägerin vom 18. Januar 1963 sei verspätet,
in der Berufungsschrift nicht mehr auf. Sie macht nur noch geltend,
das Handelsgericht habe der Klägerin zu Unrecht unter Hinweis auf
eine im Handel mit Textilien bestehende Übung gestattet, den ganzen
Kauf zu wandeln. Die Begründung des Handelsgerichtes, es seien rund
20% der ganzen Lieferung nicht vertragsgemäss gewesen, weil 7 Ballen
ausschliesslich vertragswidrige Ware enthielten, sei unzutreffend. Die
Beklagte beruft sich auf Art. 209 Abs. 1 OR, wonach der Käufer die
Wandelung nur rücksichtlich der fehlerhaften Stücke verlangen kann,
wenn von mehreren zusammen verkauften Sachen oder von einer verkauften
Gesamtsache bloss einzelne Stücke fehlerhaft sind.

    Diese Bestimmung ist nicht zwingend. Sie wird aber nicht schon
kraft eines abweichenden Handelsbrauches unanwendbar, sondern nur durch
Vereinbarung der Parteien. Handelsbräuche sind nicht objektives Recht,
es sei denn, dass das Gesetz auf sie verweist, was hinsichtlich der in
Art. 209 Abs. 1 OR geregelten Frage nicht zutrifft. Handelsbräuche gelten
auch nicht ohne weiteres als Vertragsinhalt. Sie verpflichten die Parteien
nur dann, wenn diese sich ihnen durch übereinstimmende gegenseitige
Willensäusserung, sei es ausdrücklich, sei es stillschweigend, unterwerfen
(BGE 34 II 640 Erw. 2; 37 II 410; 47 II 163 Erw. 1; 53 II 310 Erw. 1;
83 II 523; 86 II 257).

Erwägung 3

    3.- Das Handelsgericht stellt keine Willensäusserung der Parteien
fest, wonach die Frage, ob der Käufer die Wandelung nur hinsichtlich
der fehlerhaften Ballen verlangen könne, den im Textilhandel geltenden
Bräuchen unterstehen solle. Den Akten können solche Willensäusserungen
nicht entnommen werden. Die Briefe vom 30. Juni 1962, in denen
die Parteien gegenseitig den Vertragswillen kundgaben, nehmen mit
keinem Worte auf Handelsbräuche Bezug. Ferner hat die Klägerin im
kantonalen Verfahren nicht behauptet, die Parteien hätten in diesen
Schreiben oder in der vorausgegangenen Besprechung die Bräuche anwendbar
erklärt. Sie stellt sich auch in der Berufungsantwort nicht auf diesen
Standpunkt. Sie bringt nur vor, die Beklagte selber habe den Bestand
von Handelsbräuchen vorausgesetzt, nämlich in einer Vereinbarung mit der
Klägerin vom 12. November 1963 über die Beiziehung von Sachverständigen
zur Begutachtung der bemängelten Ware und in der Klageantwort vom 5. März
1964. Wer den Bestand von Handelsbräuchen voraussetzt, anerkennt jedoch
nicht notwendigerweise, dass sie durch gegenseitige Willensäusserung
Inhalt des Vertrages geworden seien. Zudem betreffen die beiden von
der Klägerin angerufenen Aktenstellen nicht die Frage, ob der Käufer
die Wandelung nur hinsichtlich der fehlerhaften Ballen oder kraft
Handelsbrauches hinsichtlich der ganzen Kaufsache verlangen könne. Laut
der Vereinbarung vom 12. November 1963 sollten die Sachverständigen
gefragt werden, welche prozentuale Toleranzgrenze handelsüblich sei,
wenn Sortiergut als "im Prinzip" frei von anderer Ware zu liefern sei,
und in der Klageantwort machte die Beklagte geltend, nach den Usanzen in
der Branche sei die Mängelrüge verspätet erfolgt. Das sind die einzigen
Äusserungen über Handelsbräuche, welche die Klägerin der Beklagten
vorzuhalten vermag. Es kann ihnen nicht entnommen werden, die Beklagte
habe anerkannt, in der Frage des Umfanges des Wandelungsrechtes sei ein
Handelsbrauch zum Vertragsinhalt erhoben und damit die Anwendung des
Art. 209 Abs. 1 OR ausgeschaltet worden.

Erwägung 4

    4.- Das Handelsgericht leitet das Recht der Klägerin, wegen der
Mangelhaftigkeit von 7 Ballen den Kauf im ganzen zu wandeln, auch aus
Ziffer IX Abs. 1 der vom Bureau international de la récupération (BIR),
Sektion Textil, zusammengestellten Handelsbräuche betreffend den Abschluss
und die Erfüllung von Kontrakten ab, wonach der Käufer berechtigt sei,
höchstens 10% der gelieferten Partie, aber mindestens einen Ballen zu
sortieren, um das Qualitätsrendement festzustellen. Dem Einwand der
Beklagten, die BIR-Bestimmungen seien für das streitige Geschäft nicht
massgebend, hält das Handelsgericht entgegen, die Beklagte hätte nachweisen
müssen, dass im vorliegenden Falle etwas Abweichendes vereinbart worden sei
oder dass sonst besondere Verhältnisse vorlägen, deretwegen die genannte
Usanz nicht gelte. Die Beklagte behaupte aber nicht, es sei in dieser
Hinsicht eine besondere Vereinbarung getroffen worden, auch die Akten
böten keine Anhaltspunkte für eine dahin gehende Annahme.

    Damit verkennt die Vorinstanz, dass Handelsbräuche auch dann nicht
schon kraft ihres Bestehens verbindlich sind, wenn Fachkreise sie
"kodifiziert" haben. Solche Bestimmungen gelten nur, wenn und soweit
die Vertragschliessenden sie durch übereinstimmende Willensäusserung zum
Vertragsinhalt machten (vgl. z.B. BGE 87 II 237). Dass das im vorliegenden
Falle geschehen sei, hatte gemäss Art. 8 ZGB die Klägerin zu behaupten
und zu beweisen, wenn sie aus den BIR-Bestimmungen etwas ableiten
wollte. Es oblag nicht der Beklagten, darzutun, dass die Parteien eine
von diesen Bestimmungen abweichende Vereinbarung getroffen haben. Die
Klägerin hat aber im kantonalen Verfahren nicht behauptet, sie hätten
beim Vertragsabschluss oder später die Anwendung der BIR-Bestimmungen
vereinbart. Sie behauptet das auch in der Berufungsantwort nicht.

    Ob die Mangelhaftigkeit der 7 Ballen die Klägerin berechtigte, den
ganzen Kauf zu wandeln, beurteilt sich daher nach Art. 209 OR.

Erwägung 5

    5.- Die Klägerin hält die Voraussetzungen bloss teilweiser Wandelung
nicht für erfüllt, weil sie einen unförmigen und unsortierten Haufen
Stoffabfälle gekauft habe und ihr nicht zugemutet werden könne,
die mangelhaften Einheiten, nämlich die vertragswidrigen einzelnen
Stoffabschnitte auszusortieren.

    Darauf kommt indessen nichts an. Die Beklagte mutet der Klägerin
nicht die Ausscheidung des einzelnen vertragswidrigen Stofflappens zu,
sondern nur die Ausscheidung ganzer Ballen, nämlich jener sieben Stück, von
denen feststeht, dass sie ausschliesslich Stoffabschnitte enthielten, die
nicht den vertraglichen Bedingungen entsprachen. Der Einwand der Klägerin,
die Pressballen seien, was Grösse und Form betrifft, willkürlich gebildet
worden, hilft nicht. Die Klägerin hat sich im Bestellschreiben ausdrücklich
die Lieferung in Pressballen ausbedungen. Sie überliess es der Beklagten,
Grösse und Form derselben zu bestimmen, und sie beanstandete sie denn auch
nie. Die Klägerin verkennt also den Sachverhalt, wenn sie sich als Käuferin
eines unförmigen und unsortierten Haufens von Stoffabfällen ausgibt. Nicht
die Lappen, sondern die Ballen sind die "einzelnen Stücke" im Sinne des
Art. 209 Abs. 1 OR, auf die allenfalls die Wandelung zu beschränken ist.

Erwägung 6

    6.- Aus den vorstehend erörterten Gründen ist die Teilwandelung gemäss
Art. 209 Abs. 1 OR - entgegen den Ausführungen im vorinstanzlichen Urteil
- nicht unzulässig. Die Sache ist deshalb zu neuer Beurteilung an das
Handelsgericht zurückzuweisen. Dieses wird in erster Linie feststellen
müssen, ob wirklich nur sieben Ballen mangelhaft waren. Auf welche Weise
es den Zustand der anderen 27 Ballen zu prüfen habe, ist eine Frage des
kantonalen Prozessrechtes. Das Bundesgericht kann das Handelsgericht
nicht anweisen, eine Begutachtung durchzuführen oder bestimmte Zeugen
einzuvernehmen, wie die Beklagte beantragt.

    Falls nur 7 Ballen mangelhaft waren, wird sich fragen, ob sie sich
ohne erheblichen Nachteil für die Klägerin von den andern trennen lassen;
denn das ist gemäss Art. 209 Abs. 2 OR eine weitere Voraussetzung der
Teilwandlung. Die getroffenen Feststellungen erlauben dem Bundesgericht
nicht, diese Frage abschliessend zu beurteilen. Bemerkt sei immerhin,
dass nicht entscheidend ist, welcher Arbeitsaufwand nötig war, um zur
Zeit der Lieferung die Mangelhaftigkeit der 7 Ballen festzustellen. Es
kommt darauf an, ob die Beschränkung der Wandelung auf die nunmehr als
mangelhaft erkannten 7 Ballen die Klägerin erheblich benachteiligen
würde. Diese Ballen sind ausgeschieden, und sechs von ihnen sind sogar
schon zurückgenommen. Unter dem Gesichtspunkt der Schwierigkeit der
Ausscheidung steht also der Teilwandelung nichts im Wege. Diese darf auch
nicht mit der Begründung verweigert werden, die ursprünglich versprochene
Menge von mindestens 9 t Ware sei durch tatsächliche Lieferung und
Bezahlung von 12'149 t auf dieses Quantum erhöht worden. Art. 209 OR
mutet dem Käufer zu, weniger als die vertragliche Menge zu behalten,
wenn ihn das nicht erheblich benachteiligt. Aus dem Umstande, dass die
Beklagte sich nur zur Lieferung von mindestens 9 t verpflichtet hatte,
darf geschlossen werden, diese Menge sei für die Klägerin brauchbar
gewesen und sie habe daher im Zeitpunkt der Wandelung auch die angeblich
mängelfreien 27 Ballen gebrauchen können, falls sie zusammen mindestens
9 t wogen. Dieses Mindestgewicht wiesen sie wahrscheinlich auf, denn die
zurückgenommenen 6 Ballen wogen nach den Angaben, welche die Beklagte im
Schreiben vom 11. März 1963 machte, nur 1'817 t, so dass der siebente
mangelhafte Ballen allein 1'333 t wiegen müsste, damit das Gewicht der
27 angeblich mängelfreien unter 9 t bliebe.

Entscheid:

Demnach erkennt das Bundesgericht:

    Die Berufung wird dahin teilweise gutgeheissen, dass das Urteil des
Handelsgerichtes des Kantons St. Gallen vom 16. Februar 1965 aufgehoben
und die Sache zur Tatbestandsergänzung im Sinne der Erwägungen sowie zu
neuem Entscheid zurückgewiesen wird.