Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 91 II 260



91 II 260

40. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung vom 30. September 1965
i.S. H.B. gegen Bürgerliches Fürsorgeamt B. Regeste

    Unterstützungspflicht von Geschwistern. Rückgriff des
Gemeinwesens. Art. 328/329 ZGB.

    Verwirkung des Ersatzanspruchs des Gemeinwesens wegen ungebührlichen,
einen Rechtsmissbrauch in sich schliessenden Zuwartens mit der
Geltendmachung? Das ist zu verneinen, wenn das Gemeinwesen den
unterstützungspflichtigen Verwandten tunlich bald ausfindig gemacht
und gemahnt hat, auch wenn es erst nach längeren Verhandlungen zur
gerichtlichen Klage kam.

Sachverhalt

                       Aus dem Tatbestand:

    A.- Der Beklagte H. B. ist der in günstigen Verhältnissen lebende
Bruder der zu 75% invaliden Ch. B., welche die eidg. Invalidenrente und
einen kantonalen Invalidenfürsorgebeitrag bezieht und zusätzlich von der
Klägerschaft (Fürsorgeamt B.) mit Fr. 104.-- monatlich unterstützt werden
muss. Dieses Amt gelangte im März 1962 brieflich an H. B. mit dem Begehren
um Ersatz dieser Beiträge gemäss Art. 329 Abs. 3 ZGB. Der Beklagte kam
dem Ansuchen für die Zeit vom März bis August 1962 nach, verweigerte
dann aber weitere Leistungen vom September 1962 an. Eine Besprechung
vom Dezember 1962 war ergebnislos, ebenso der vom Fürsorgeamt in den
Monaten April bis August 1963 mit dem Vertreter des Beklagten geführte
Briefwechsel. Am 28. August 1963 erhob das Fürsorgeamt gerichtliche Klage
a) auf Erstattung der vom September 1962 bis zum August 1963 geleisteten
Beiträge von insgesamt Fr. 1174.50 und b) auf Ersatz der von nun an
laufenden Beiträge, beginnend mit dem Monat September 1963.

    B.- Die Direktion des Innern des Kantons Basel-Landschaft schützte
das Begehren b) in vollem Umfange, das Begehren a) dagegen nur zur Hälfte,
nämlich für das letzte Halbjahr vor der Klageanhebung. In gleicher Weise
entschied der von beiden Parteien angerufene Regierungsrat.

    C.- Die vom Beklagten eingelegte Berufung an das Bundesgericht geht
auf gänzliche Abweisung der Klage. Mit seiner Anschlussberufung verlangt
dagegen das Fürsorgeamt die volle Zusprechung auch des Begehrens a).

    Das Bundesgericht weist die Berufung des Beklagten ab, und es schützt
die Anschlussberufung der Klägerschaft aus folgenden

Auszug aus den Erwägungen:

                           Erwägungen:

    Mit der Anschlussberufung hält das Fürsorgeamt daran fest, dass der
Beklagte ihm die an Ch. B. erbrachten Fürsorgeleistungen für die ganze
Zeitspanne vom 1. September 1962 bis Ende August 1963 und nicht nur vom 1.
März 1963 an zu ersetzen habe. Der geforderte Betrag von Fr. 1174.50
(statt der in kantonaler Instanz zugesprochenen Fr. 587.--), also im
Monatsdurchschnitt etwas weniger als Fr. 100.--, liegt im Rahmen dessen,
was dem Beklagten bei seinen günstigen Erwerbsverhältnissen zuzumuten
ist. Die Vorinstanzen haben jedoch den Erstattungsanspruch des Gemeinwesens
auf das letzte Halbjahr vor der Klageanhebung begrenzt und sich dabei
auf den vom Bundesgericht ausgesprochenen Grundsatz berufen, wonach
das Gemeinwesen Erstattungsansprüche gegenüber unterstützungspflichtigen
Verwandten des Armengenössigen tunlich rasch geltend machen soll, sobald es
von der Person des Unterstützungspflichtigen und von seiner Vermögens- und
Erwerbslage Kenntnis hat, und nicht beliebig lange mit der Geltendmachung
solcher Ansprüche für vergangene Unterstützungsperioden zuwarten darf,
ansonst eine völlige oder teilweise Verwirkung des Rückgriffsanspruches
eintritt, dieser Anspruch also abzulehnen oder zu kürzen ist (BGE 74
II 19 ff., 76 II 113 ff.). Dabei schliessen sich die Vorinstanzen der
baselstädtischen Praxis an, wonach die Ersatzansprüche des Gemeinwesens
in der Regel auf das der Klage vorausgegangene Halbjahr zu begrenzen
sind, sofern der Pflichtige nicht eine weitergehende Verzögerung selber
verschuldet hat (vgl. E. JENNY, Die Verwandtenunterstützung im Spiegel
der regierungsrätlichen Praxis des Kantons Basel-Stadt, in den Basler
Juristischen Mitteilungen 1959 S. 163 ff., besonders S. 189/90).

    Indessen ist, wie schon in den angeführten Präjudizien, davon
auszugehen, dass der auf Subrogation beruhende Ersatzanspruch des
Gemeinwesens gemäss Art. 329 Abs. 3 ZGB ebenso wie der privatrechtliche
Unterstützungsanspruch des Bedürftigen selbst an und für sich keiner
andern zeitlichen Beschränkung als der Verjährung binnen fünf Jahren
nach Art. 128 Ziff. 1 OR unterliegt. Eine Verwirkung tritt nur
dann ein, wenn die Geltendmachung solcher Ansprüche in einer als
rechtsmissbräuchlich erscheinenden Weise, also nach den gegebenen
Umständen ungebührlich, verzögert wird, so dass dem Pflichtigen
die Nachzahlung nicht mehr oder nur in vermindertem Masse zuzumuten
ist. So verhält es sich hier keineswegs. Die angeführten Präjudizien
verlangen nicht unverzügliches Vorgehen des Gemeinwesens auf dem Weg
der gerichtlichen Klage, sobald ihm die Person und die Finanzlage
des Berechtigten bekannt sind oder leicht ausfindig gemacht werden
können. Die am Kopf des Urteils BGE 74 II 19 stehende Inhaltsangabe,
wonach der Ersatzanspruch "nur bei unverzüglicher Anhebung der Klage"
zu schützen wäre, ist zu eng; die zugehörigen Erwägungen verlangen
bloss, dass die Armenbe.hörde nicht zuwarte "mit der Ausübung ihrer
Rückgriffsrechte" ("les organes d'assistance ne sauraient ... tarder
à exercer leurs droits de recours"). Es steht keine Klagebefristung in
Frage, sondern es kann sich für die Armenbehörde nur darum handeln, die
Möglichkeit eines Rückgriffs auf Verwandte des Bedürftigen, für den sie
sorgt, tunlich bald und gründlich zu prüfen und, wenn sie zur Bejahung
einer Unterstützungspflicht gelangt, sie dem Pflichtigen gegenüber
ebenfalls ohne übermässiges Zuwarten zur Geltung zu bringen. Das kann
auf verschiedene Weise geschehen; etwa vorerst durch Darlegung ihres
Standpunktes, worauf es, wenn der Angesuchte sich nicht ohne weiteres
zu Erzatzleistungen bereit findet, allenfalls noch zu Aussprachen, zu
einem Briefwechsel und zu aussergerichtlichen Verhandlungen über eine
gütliche Einigung kommen kann, nach deren Scheitern dann freilich nur die
gerichtliche Klage übrig bleibt. Hier hat das Gemeinwesen seinen Anspruch
ungesäumt beim Pflichtigen angemeldet. Diese Art der Geltendmachung war
geeignet, einer Anspruchsverwirkung wegen Rechtsmissbrauches einstweilen
vorzubeugen. Denn der Pflichtige erhielt dadurch Kenntnis von dem
beabsichtigten Rückgriff und hatte daher Veranlassung, sich auf eine ihm
obliegende Nachzahlung einzurichten. Seit dem 1. Juni 1962 wusste er, dass
das Fürsorgeamt ihn als unterstützungspflichtig ansah; er bezahlte hierauf
denn auch die geforderten Beträge für die Zeit vom 1. März bis 31. August
1962. Bis zur Klageeinreichung versuchte das Fürsorgeamt immer wieder,
ihn zur Wiederaufnahme seiner Leistungen zu bewegen. Es beantwortete auch
bereitwillig die ihm vom Vertreter des Beklagten gestellten Fragen, soweit
es dazu in der Lage war. Nicht Saumseligkeit des Fürsorgeamtes, sondern
die vom Beklagten und seinem Vertreter eingeschlagene Verzögerungstaktik
hat dazu geführt, dass die Klage dann erst im August 1963 angehoben
wurde. Der Beklagte war schon vom Anfang der in Frage stehenden, mit dem
1. September 1962 beginnenden Zahlungsperiode an bestens unterrichtet über
den ihm drohenden Rückgriff. Unter diesen Umständen kann dem Fürsorgeamt
nichts vorgehalten werden, was es rechtfertigen würde, die sachlich
wohlbegründeten Ersatzansprüche auch nur zum Teil als verwirkt zu erklären.