Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 91 II 153



91 II 153

24. Urteil der II. Zivilabteilung vom 12. Oktober 1965 i.S. X. gegen X.
Regeste

    Anfechtung der Ehelichkeit, Art. 253ff ZGB.

    Verspätete Klageerhebung, mit wichtigen Gründen entschuldigt,
Art. 257 Abs. 3: der Ehemann erfährt erst nach Jahren, dass er infolge
früherer Operation zeugungsunfähig war; Anforderungen an beförderliches
Vorgehen. Ist die Anrufung des Aussöhnungsversuchs (im Kanton Bern)
durch Abs. 3 gedeckt, so hat der Kläger für die Anhebung der Klage beim
Gericht die Klagefrist gemäss Art. 153 Abs. 4 bern. ZPO (in Verbindung
mit Art. 253 Abs. 1 ZGB), also drei Monate zur Verfügung.

Sachverhalt

    A.- Mit Urteil vom 9. August 1955 sprach das Bezirksgericht die
Scheidung der Ehe X.-Y. gestützt auf Art. 139 ZGB aus und stellte
dabei fest, dass die vor und während der Dauer der Ehe geborenen Kinder
A. (geb. 1944), B. (1946) sowie die Zwillinge C. und D. (19. April 1953)
bereits unter Vormundschaft stehen. Im August 1944 hatte sich der Ehemann
X. wegen Tuberkulose des rechten Hodens in Basel der Semikastration
rechts unterziehen müssen, und am 1. April 1948 war im Inselspital
in Bern der linke Nebenhoden wegen tuberkulöser Entzündung entfernt
worden. Nach mehrjähriger Verwahrung zufolge strafrechtlicher Verurteilung
wurde X. am 26. April, allenfalls im Juni oder Juli 1962 - der genaue
Zeitpunkt ist nicht klargestellt - aus der Strafanstalt Thorberg bedingt
entlassen. Er behauptet, er sei erst dort von zwei Mithäftlingen darauf
aufmerksam gemacht worden, dass die beiden Operationen ihn möglicherweise
zeugungsunfähig gemacht hätten. Am 9. Oktober 1962 bescheinigte ihm die
chirurgische Universitätsklinik Bern auf sein Gesuch hin, dass er seit der
Operation von 1948 zeugungsunfähig sei. X. unterbreitete dieses Zeugnis
der Fürsorgedirektion des Kantons Bern in der Meinung, dass diese ihn
von seinen Verpflichtungen gegenüber den Kindern C. und D. befreie. Die
Fürsorgedirektion teilte ihm am 18. Oktober 1962 mit, sie werde ihn nach
weiteren Abklärungen zu einer Besprechung vorladen. X. suchte daraufhin
einen Anwalt auf, der am 22. Oktober 1962 beim Gerichtspräsidenten von
W. um Ansetzung eines Termins für den Aussöhnungsversuch zwecks Anfechtung
der Ehelichkeit der Zwillinge nachsuchte. Die Verhandlung vom 9. November
1962 verlief fruchtlos, sodass der Gerichtspräsident dem Kläger die
Klagebewilligung erteilte. Am 19. Dezember 1962 reichte der Anwalt für X.
gegen dessen frühere Ehefrau und die beiden Zwillinge C. und D. X. beim
Amtsgericht Klage auf Anfechtung der Ehelichkeit der letzteren ein.

    Die Mutter und der Vormund der Kinder widersetzten sich der Klage. Das
Amtsgericht ordnete zwei Begutachtungen an, die ergaben, dass der Kläger
infolge der Operation von 1948 zeugungsunfähig ist und damit nicht der
Vater der 1953 geborenen Zwillinge sein kann. Mit Urteil vom 19. Juni
1963 hiess das Amtsgericht daher die Klage gut, aberkannte den Zwillingen
die Ehelichkeit und stellte fest, dass sie aussereheliche Söhne ihrer
Mutter sind.

    B.- Dieses Urteil zog der Prozessvertreter der Zwillinge an den
Appellationshof des Kantons Bern weiter mit dem Antrag auf Abweisung der
Anfechtungsklage wegen verspäteter Einreichung. Die Mutter der Kinder
focht das Urteil nicht an. Am 10. Februar 1965 hat der Appellationshof
das Urteil des Amtsgerichts bestätigt.

    C.- Mit der vorliegenden Berufung halten die beklagten Söhne,
vertreten durch den Amtsvormund, am Antrag auf Abweisung der Klage fest;
eventuell wird Rückweisung zur Aktenergänzung beantragt. Der Kläger trägt
auf Bestätigung des Urteils an.

Auszug aus den Erwägungen:

              Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Dass der Kläger wegen der festgestellten Zeugungsunfähigkeit
seit 1948 unmöglich der Vater der beklagten Zwillinge sein kann (Art. 254
ZGB), ist nicht streitig, sondern nur, ob der Kläger die Anfechtungsklage
rechtzeitig erhoben hat.

    Die ordentliche Anfechtungsfrist beträgt gemäss Art. 253 ZGB drei
Monate vom Zeitpunkt an, da der Ehemann von der Geburt Kenntnis erhalten
hat. Diese Frist war vorliegend längst abgelaufen. Die Nachfrist von
drei Monaten, welche gemäss Art. 257 Abs. 1 und 2 ZGB gewährt wird,
wenn der Klageberechtigte arglistig zur Unterlassung der Anfechtung
bewogen wurde, kommt nicht in Betracht. Der Umstand, dass die Mutter des
Kindes einen Ehebruch in der kritischen Zeit bestritten hat, ist nach der
Praxis unter diesem Gesichtspunkte bedeutungslos (BGE 61 II 301 und 71 II
259). Hingegen wird - und das ist prozessentscheidend - gemäss Art. 257
Abs. 3 eine Anfechtung noch zugelassen, wenn die Verspätung mit wichtigen
Gründen entschuldigt wird. Dabei wird indessen eine dreimonatige Nachfrist
analog Abs. 2 nicht in Gang gesetzt. Die Klage muss nunmehr mit aller nach
den Umständen möglichen Beschleunigung erhoben werden (BGE 85 II 311 und
dortige Zitate.) Daher ist zu untersuchen, bis zu welchem Zeitpunkt dem
Kläger wichtige Gründe zur Unterlassung der Anfechtungsklage zuzubilligen
sind und ob er alsdann mit der nach den Umständen möglichen Beschleunigung
geklagt hat. Wo das Gesetz den Richter auf die Würdigung der Umstände oder
auf wichtige Gründe verweist, hat er gemäss Art. 4 ZGB seine Entscheidung
nach Recht und Billigkeit zu treffen.

Erwägung 2

    2.- Wichtige Gründe zur verspäteten Klageeinreichung liegen nach
der Rechtsprechung vor, wenn der Kläger bis anhin keine zureichende
Veranlassung zu Zweifeln an der Ehelichkeit eines Kindes und zur Anhebung
der Anfechtungsklage hatte. Blosse Zweifel ohne bestimmte Anhaltspunkte
bilden indessen keine Grundlage zur Anfechtungsklage mit ihren sehr
strengen Anforderungen. Es geht nicht an, einem Klageberechtigten die
Klageerhebung zuzumuten, bevor er die erforderlichen tatsächlichen
Grundlagen zur Klage besitzt. Insbesondere genügt blosse Ungewissheit
des Ehemannes hinsichtlich seiner Zeugungsfähigkeit nicht als Fundament
zur Anfechtungsklage; es kann von ihm nicht verlangt werden, auf Grund
blosser Zweifel und Befürchtungen die Klage einzureichen und es darauf
ankommen zu lassen, ob das gerichtlich anzuordnende Beweisverfahren die
nach Artikel 254 ZGB erforderliche Klagegrundlage zu liefern vermöge. Wohl
können aber die Umstände so liegen, dass der Kläger gehalten ist, sich
über den Tatbestand Gewissheit zu verschaffen, und dass das Unterlassen
einer Abklärung als unentschuldbar erscheint (BGE 71 II 259 f., 83 II 175).

Erwägung 3

    3.- Im vorliegenden Falle hat der Kläger glaubhaft dargetan,
dass er nach der zweiten Operation von 1948 nicht über den Verlust
seiner Zeugungsunfähigkeit aufgeklärt worden ist und dass ihn nur der
Fortbestand der potentia coeundi interessierte. Nach der ärztlichen
Meinungsäusserung im Gutachten der chirurgischen Universitätsklinik Bern
vom 2. September 1963 ist es "durchaus nicht immer Usus, Patienten über
alle möglichen Aspekte einer Erkrankung zu orientieren, wenn sie nicht
ausdrüchlich danach fragen. Im allgemeinen interessieren sich Patienten
mit Erkrankungen der Geschlechtsorgane in erster Linie darum, ob sie ihre
Männlichkeit und ihre Potenz behalten, vor allem wenn sie bereits Vater
eines oder mehrerer Kinder sind". Dazu kommt, dass sich der Kläger noch
im Jahre 1959 gegen eine Namensänderung der Kinder wehrte, was er wohl
bei Zweifeln an seiner Vaterschaft nicht getan hätte.

    Gewisse Zweifel wurden in ihm erst in der Anstalt Thorberg durch
Äusserungen von Mitgefangenen erweckt, als ihm diese von einer möglichen
Zeugungsunfähigkeit sprachen. Die Berufungskläger haben nun die Rückweisung
der Sache zur Ergänzung des Tatbestands dahin beantragt, dass die näheren
Umstände abzuklären seien, unter denen der Kläger von Mithäftlingen solche
Informationen erhielt und wann genau er aus der Anstalt entlassen worden
sei. Beim Kläger seien damals konkrete Zweifel erweckt worden, welche
geeignet gewesen seien, ihn zu sofortigen Nachforschungen zu veranlassen.

    Diesem Antrag ist nicht zu entsprechen. Es ist nicht behauptet worden,
dass diese Mithäftlinge etwa medizinische Sachverständige gewesen
seien. Wenn ein Verwahrungsgefangener, der auf bedingte Entlassung
hofft, gestützt auf solche Äusserungen von Mitgefangenen nicht sofort
die Direktion, den Anstaltsgeistlichen oder andere Anstaltsorgane mit
der Angelegenheit behelligt, sondern mit der Abklärung bis nach seiner
Entlassung zuwartet, ist das hinreichend entschuldbar. Nach der Entlassung
hatte sich der Kläger in erster Linie um Arbeit, ein geordnetes Leben und
Wiedereingliederung in die menschliche Gesellschaft zu kümmern. Es war
ihm nicht zuzumuten, seine Tätigkeit sofort auf die Anfechtungsklage
zu konzentrieren, deswegen herumzureisen und Ärzte und Behörden in
Anspruch zu nehmen. Um sofort einen Anwalt beizuziehen, fehlten ihm
offenbar die Mittel. Seine eigenen Nachforschungen bei den Ärzten, die
ihn vor mehr als 10 Jahren behandelt hatten, waren für den einfachen,
mit krimineller Vergangenheit belasteten Mann offenbar nicht leicht. Ob
er schon am 26. April oder erst im Juni oder Juli 1962 aus der Anstalt
entlassen wurde, ist nicht entscheidend. Wenn er erst am 9. Oktober
1962 darauf gekommen ist, das einzig Richtige vorzukehren, nämlich in
der chirurgischen Klinik der Universität Bern durch eine nochmalige
Untersuchung seine Zeugungsunfähigkeit feststellen und sich bescheinigen
zu lassen, so ist ihm das in Würdigung seiner besonderen Situation nicht
als unentschuldbare Säumnis anzurechnen. Erst von jetzt an schöpfte er
einen starken und hinreichend begründeten Verdacht; nun hatte er Anlass,
mit tunlichster Beschleunigung die Klage einzureichen.

    Nach Kenntnisnahme dieses Sachverhaltes hat sich der Kläger wenige Tage
später (irrtümlich) an die bernische Fürsorgedirektion gewandt, und als er
von dieser einen etwas ausweichenden Bescheid erhielt, sofort einen Anwalt
konsultiert, der dann schon am 22. Oktober 1962 als ersten Schritt zur
Anfechtungsklage ein Ladungsansuchen für einen Aussöhungsversuch stellte.
Dieser endete am 9. November 1962 vor dem Gerichtspräsidenten mit der
Erteilung der formellen Klagebewilligung. Bis dahin sind dem Kläger mit
der Vorinstanz in gerechter und billiger Würdigung aller Umstände keine
Vorwürfe wegen unentschuldbarer Saumseligkeit zu machen.

Erwägung 4

    4.- Es könnte sich nur noch fragen, ob dem Kläger daraus ein
Vorwurf gemacht werden kann, dass er bzw. sein Anwalt die schriftliche
Klage dann erst am 19. Dezember 1962 eingereicht hat. Nach dem zitierten
bundesgerichtlichen Entscheid (BGE 85 II 312 oben) müsste ein Zuwarten von
7 Wochen nach der nachträglichen Entdeckung der Anfechtungsgrundlagen bis
zur Klageeinreichung (beim Friedensrichter) durch ganz besondere Umstände
gerechtfertigt sein. Nun werden jedoch nach der bundesgerichtlichen
Rechtsprechung die Fristen, binnen deren nach Bundesrecht eine Klage
bei Gefahr der Verwirkung eingereicht werden muss, schon durch ein
Gesuch um Durchführung eines Aussöhungsversuches eingehalten, wenn ein
solcher nach kantonalem Prozessrecht nötig oder zulässig ist und nach
dem Scheitern des Versuches entweder der Sühnebeamte die Streitsache
von Amtes wegen an das Gericht weiterzuleiten hat oder der Kläger
zur Vermeidung von Rechtsnachteilen gehalten ist, den Richter binnen
bestimmter, vom kantonalen Prozessrecht gesetzter Frist anzurufen, und
er es auch tatsächlich binnen dieser Frist tut (BGE 74 II 15, 81 II 538,
82 II 590, 85 II 315, 89 II 307). Nach der bernischen ZPO berechtigt die
Klagebewilligung zur Anhebung der Klage während der Klagefrist. Diese
beträgt normalerweise 6 Monate; in Streitigkeiten über Ansprüche jedoch,
für welche eine kürzere als die 6-monatige Verwirkungsfrist gilt, ist
die Klagefrist auf die Dauer dieser Verwirkungsfrist verkürzt (Art.
153 Abs. 2-4 ZPO). Die primäre Verwirkungsfrist für die Anfechtungsklage
ist diejenige nach Art. 253 Abs. 1 ZGB, also drei Monate; sie ist kürzer
als die prozessuale Klagefrist nach Art. 153 Abs. 1 bern. ZPO. Also läuft
dem Kläger vom erfolglosen Aussöhnungsversuch an für die Klageeinreichung
diese dreimonatige Frist nach Art. 253 Abs. 1 ZGB, die hier kraft
kantonalen Prozessrechts zur Anwendung kommt (so auch LEUCH, ZPO Art. 153
N. 3). Im heutigen Falle hatte der Kläger also vom 9. November 1962 an 3
Monate Zeit zur Einreichung der Klage. Mit der Einreichung am 19. Dezember
hielt er die Frist ein.

    Selbst wenn man übrigens annähme, der Kläger sei vom Aussöhnungsversuch
an ungeachtet der verkürzten Klagefrist des Art. 153 Abs. 4 bern. ZPO
zu möglichst beförderlichem Vorgehen verpflichtet gewesen, so müsste
ihm mit der Vorinstanz zugebilligt werden, dass er bzw. sein Anwalt
diesem Erfordernis genügte. Der Kläger erlitt am 15. November 1962 einen
Unfall, der ihn einen Monat ans Bett fesselte; sein Anwalt war nach den
Feststellungen der Vorinstanz vom 14. November bis zum 14. Dezember
1962 in Thun durch einen Schwurgerichtsprozess in Anspruch genommen;
beide Umstände erschwerten die Fühlungnahme zwischen Anwalt und Klient
sehr erheblich. Nach dem 14. Dezember waren dann binnen fünf Tagen die
Klageschrift verfasst und die Beweismittel geordnet. Unter diesen Umständen
kann weder dem Kläger noch seinem Anwalt Saumseligkeit vorgeworfen werden.
Der Vorwurf wäre selbst dann nicht gerechtfertigt, wenn, wie die Beklagten
behaupten, der Anwalt nur bis zum 23. November durch das Schwurgericht
beansprucht gewesen sein sollte.

    Erweist sich mithin die Berufung zweifellos als unbegründet, ist sie
gemäss Art. 60 Abs. 2 OG ohne öffentliche Beratung zu erledigen.

Entscheid:

Demnach erkennt das Bundesgericht:

    Die Berufung wird abgewiesen und das Urteil des Appellationshofes
des Kantons Bern vom 10. Februar 1965 bestätigt.