Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 91 II 146



91 II 146

22. Beschluss der I. Zivilabteilung vom 22. Juni 1965 i.S. Ramseier
gegen Kauer. Regeste

    Berufung. Prozesserledigung und Kostenregelung bei Rückung der Klage
durch den Berufungsbeklagten während des Berufungsverfahrens. Art. 54,
156, 159 OG; Art. 72 BZP.

Sachverhalt

    A.- Mit Urteil vom 6. Mai 1964 hat der Appellationshof des Kantons
Bern, I. Zivilkammer, erkannt:

    "1. Im Sinne von Art. 49 Abs. 2 OR wird als Genugtuung für den Kläger
gerichtlich festgestellt, dass die in dem vom Beklagten erlassenen Zirkular
vom 23. Mai 1961 enthaltenen Ausdrücke "der intrigante Chefredakteur"
und "Nachrichtenzuhälter" unbefugt und widerrechtlich waren. Sie werden
missbilligt." (Dispositiv 1).

    Die weitergehenden Begehren (mit denen der Kläger u.a. die
Verurteilung des Beklagten zur Bezahlung einer Genugtuungssumme und von
Schadenersatzleistungen in der Höhe von insgesamt ca. Fr. 800 000.--
gefordert hatte) wurden abgewiesen (Dispositiv 2) und die gesamten
Prozesskosten wettgeschlagen (Dispositiv 3).

    B.- Gegen dieses Urteil, das den Parteien am 5. Mai 1965 zugestellt
wurde, hat der Beklagte die Berufung an das Bundesgericht erklärt mit
dem Antrag auf gänzliche Abweisung der Klage.

    C.- Mit Eingabe vom 26. Mai 1965 hat der Kläger dem Bundesgericht
mitgeteilt, er ziehe die Klage vollumfänglich zurück. Hiezu sah er sich
aus folgenden Gründen veranlasst: Wegen der gleichen Ausdrücke, auf
die er seine zivilrechtlichen Schadenersatz- und Genugtuungsansprüche
stützte, hatte der Kläger gegen den Beklagten auch Strafanzeige
wegen Ehrverletzung erstattet. Die Strafkammer des Obergerichts Bern
erklärte den Beklagten mit Urteil vom 23. Dezember 1964 der Beschimpfung
schuldig. Auf Nichtigkeitsbeschwerde des Verurteilten hin hat jedoch der
Kassationshof des Bundesgerichts mit Entscheid vom 9. April 1965 diese
Verurteilung aufgehoben und die Sache zur Freisprechung des Beklagten an
die Vorinstanz zurückgewiesen. Auf Grund dieses Sachverhaltes ist der
Kläger nach seinen Ausführungen zum Schlusse gelangt, es stehe heute
fest, dass kein Straftatbestand vorliege, weshalb die strafrechtliche
Verjährungsfrist (Art. 60 Abs. 2 OR) nicht mehr in Frage komme. Nach
dem somit massgebenden Art. 60 Abs. 1 OR aber sei der geltendgemachte
Schadenersatz- und Genugtuungsanspruch verjährt, da die Klage erst nach
Ablauf der Jahresfrist seit Kenntnis des Anspruchs erhoben worden sei. Die
Streitsache sei daher infolge Klagerückzugs als erledigt abzuschreiben,
wobei die Verjährungsfrage zu berücksichtigen und die kantonalen Kosten
dementsprechend zu liquidieren seien. Da der Beklagte von den kantonalen
Strafgerichten wegen Beschimpfung verurteilt und erst vom Kassationshof
freigesprochen worden sei, habe sich der Kläger in guten Treuen zur
Prozessführung veranlasst sehen dürfen.

    D.- Mit Eingabe vom 31. Mai 1965 vertritt der Beklagte die Auffassung,
durch den vollständigen Klagerückzug habe der Berufungsbeklagte im
Verfahren vor Bundesgericht den Abstand erklärt und sich damit dem
Berufungsbegehren des Berufungsklägers mit Ausnahme der Kostenfrage
angeschlossen. Gestützt hierauf beantragt der Berufungskläger:

    "1. Es sei festzustellen, dass der Berufungsbeklagte im
Berufungsverfahren die Klage gegen den Berufungskläger vollumfänglich
zurückgezogen und damit den Abstand erklärt hat.

    2. Das Urteil des Appellationshofs des Kantons Bern vom 6. Mai 1964
sei aufzuheben und die Sache zur Bestimmung der Prozesskosten an die
kantonale Instanz zurückzuweisen.

    3. Der Berufungsbeklagte sei zu den Prozesskosten des Berufungsklägers
im Verfahren vor Bundesgericht zu verurteilen."

    E.- Der Kläger nimmt demgegenüber mit Eingabe vom 1.  Juni 1965 den
Standpunkt ein, infolge seines Klagerückzuges sei das mit der Berufung
angefochtene Urteil gegenstandslos geworden und die Berufungssache deshalb
am Protokoll abzuschreiben. Die bundesgerichtlichen Kosten seien nach
Gesetz zu liquidieren, während bezüglich der kantonalen Kosten die Sache
an die Vorinstanz zurückzuweisen sei.

Auszug aus den Erwägungen:

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Nach Art. 54 Abs. 2 OG wird durch zulässige Berufung der Eintritt
der Rechtskraft des angefochtenen Urteils im Umfang der Berufungsanträge
gehemmt.

    Die Berufung des Beklagten hatte somit zur Folge, dass das Urteil
des Appellationshofs Bern vom 6. Mai 1964, soweit es zuungunsten des
Beklagten lautete, d.h. in Bezug auf Dispositiv 1, nicht in Rechtskraft
erwuchs. Hinsichtlich der Frage, ob dem Kläger der mit dem angefochtenen
Urteil zugesprochene, im Berufungsverfahren allein noch streitige
Genugtuungsanspruch zustehe, blieb die Streitsache somit rechtshängig.

    Solange die Rechtshängigkeit dauert, steht dem Kläger das freie
Verfügungsrecht über den von ihm mit der Klage geltend gemachten Anspruch
zu (BGE 82 II 83; LEUCH, Kommentar zur bernischen ZPO, 3. Aufl., Art. 397
N. 6; GULDENER, Schweiz. Zivilprozessrecht, 2. Aufl., § 34 Ziff. 1). Im
vorliegenden Falle war der Kläger daher befugt, noch im Verfahren
vor Bundesgericht die Klage zurückzuziehen, d.h. auf sie und damit
materiellrechtlich auf den eingeklagten Anspruch zu verzichten. Dass
nicht er die Berufung erklärt, sondern sich mit dem vorinstanzlichen
Urteil abgefunden hat, ändert nichts.

    Der Klagerückzug beendet den Prozess unmittelbar (LEUCH, aaO). Das
noch nicht rechtskräftig gewordene Urteil einer unteren Instanz fällt mit
dem in der oberen Instanz erklärten Klagerückzug ohne weiteres dahin. Einer
besonderen Feststellung dieses Dahinfallens, wie der Beklagte sie verlangt,
bedarf es daher auch dann nicht, wenn der Kläger im kantonalen Verfahren
obgesiegt hat und die Berufung vom Beklagten erhoben worden ist. Die
Streitsache ist deshalb als durch Klagerückzug erledigt abzuschreiben.

    Die Auffassung des Beklagten, die Abschreibung habe deshalb zu
erfolgen, weil sich der Kläger dem Berufungsbegehren des Beklagten
angeschlossen habe, trifft nicht zu. Massgebend ist, dass der Kläger mit
seiner Abstandserklärung in Ausübung seines Verfügungsrechtes auf den im
Berufungsverfahren noch streitigen Anspruch verzichtet hat.

    Durch den Klagerückzug ist der Rechtsstreit entgegen der Meinung
des Klägers auch nicht gegenstandslos geworden im Sinne von Art. 72
BZP, der nach Art. 40 OG auch auf das Berufungsverfahren anwendbar
ist (nicht publ. Urteil der I. Zivilabteilung vom 15. Dezember 1953
i.S. Fuchs c. Ruf, Erw. 2). Gegenstandslosigkeit im Sinne von Art. 72
BZP liegt vor, wenn der eingeklagte Anspruch aus einem vom Willen
des Anspruchsberechtigten unabhängigen Grunde erlischt, wie z.B. bei
Erfüllung durch den Beklagten oder einen Solidarschuldner, Ablauf der
Schutzfrist bei Patentnichtigkeitsklage (weitere Beispiele bei LEUCH,
op.cit. Art. 203 N. 2).

    Nach der Praxis wird allerdings ein Berufungsverfahren auch dann
als gegenstandslos abgeschrieben, wenn das angefochtene Urteil infolge
Gutheissung einer gleichzeitig erhobenen kantonalen Nichtigkeitsbeschwerde
aufgehoben wird. Ein solches Dahinfallen des angefochtenen Urteils ist aber
dem durch Klagerückzug im Berufungsstadium bewirkten nicht gleichzusetzen.
Denn während der Klagerückzug den Rechtsstreit beendet, nimmt er bei
Aufhebung des angefochtenen Urteils durch die kantonale Nichtigkeitsinstanz
seinen Fortgang. Das Berufungsverfahren kann lediglich deswegen nicht
weitergeführt werden, weil kein anfechtbarer Entscheid mehr vorhanden
ist und das kantonale Verfahren daher bis zum Vorliegen eines solchen
weitergeführt werden muss.

Erwägung 2

    2.- Nach Art. 156 Abs. 1 OG werden die bundesgerichtlichen
Verfahrenskosten in der Regel der vor Bundesgericht unterliegenden
Partei auferlegt; dasselbe gilt gemäss Art. 159 Abs. 2 OG für die
Parteientschädigung. Als unterliegende Partei ist auch der Kläger zu
betrachten, der seine Klage im Berufungsstadium zurückzieht und damit
die Unbegründetheit des von ihm eingeklagten Anspruchs anerkennt.

    Unter Hinweis auf Art. 156 Abs. 3 und Art. 159 Abs. 3 OG meint
der Kläger, die Kosten seien zum Teil dem Beklagten aufzuerlegen; da
dieser von den kantonalen Zivil- und Strafgerichten der Beschimpfung
schuldig befunden worden sei, habe der Kläger sich in guten Treuen zur
Prozessführung veranlasst sehen dürfen.

    Der Umstand, dass eine obere Instanz einen Streitfall anders
beurteilt als die untere, rechtfertigt indessen für sich allein nicht,
von der regelmässigen Ordnung der Kostenpflicht abzuweichen. Hiefür
bedarf es ganz besonderer, aussergewöhnlicher Verhältnisse. Solche sind
im vorliegenden Fall nicht ersichtlich. Die bundesgerichtlichen Kosten
sind daher dem Kläger aufzuerlegen, wobei die Gerichtsgebühr gestützt auf
Art. 153 Abs. 2 OG zu ermässigen ist. Ebenso ist bei der Festsetzung der
Parteientschädigung zu berücksichtigen, dass die Sache durch Klagerückzug
erledigt wird und die Abfassung der Berufungsschrift keinen besonderen
Aufwand erforderte.

Erwägung 3

    3.- Vom Dahinfallen des kantonalen Urteils, soweit es Gegenstand der
Berufung bildete, wird auch der kantonale Kostenspruch erfasst. Die Sache
ist daher zur Vornahme einer neuen, dem Prozessausgang entsprechenden
Kostenregelung an die Vorinstanz zurückzuweisen. Eine Neuverlegung der
kantonalen Kosten durch das Bundesgericht, wie der Kläger sie zunächst
beantragt hatte, kommt nicht in Betracht, da sie gemäss Art. 157
und Art. 159 Abs. 6 OG nur zulässig ist, wenn das Bundesgericht den
angefochtenen Entscheid auf Grund materieller Beurteilung abändert (BGE
85 II 291).