Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 90 I 328



90 I 328

50. Auszug aus dem Urteil vom 16. Dezember 1964 i.S. Müller und
Hollenstein gegen Güterstrassenunternehmen "Obere Neulanden" und
Regierungsrat des Kantons St. Gallen. Regeste

    Eigentumsgarantie; Enteignung.

    Offentliches Interesse als Voraussetzung der Enteignung. Erschliessung
von Bauland als Aufgabe im öffentlichen Interesse. Das öffentliche
Interesse wird durch gleichlaufende private Interessen nicht
ausgeschlossen, solange diese nicht offensichtlich die Oberhand
haben. Abänderbarkeit von Strassen- und Baulinienplänen.

Sachverhalt

    Der Gemeinderat von Wil stellte am 22. August 1958 einen Strassen- und
Baulinienplan für das Gebiet Neulanden auf. Der Plan wurde am 28. Dezember
1959 vom Baudepartement des Kantons St. Gallen genehmigt und trat damit
in Kraft. Er sieht vor, den Südabhang des Nieselberges durch drei von
der bestehenden Neulandenstrasse abzweigende, mehr oder weniger waagrecht
verlaufende Quartierstrassen A, B und C zu erschliessen.

    Am 31. Januar 1962 ersuchten Müller, Hollenstein und drei weitere
Eigentümer von Grundstücken im Bereich der Quartierstrasse A den
Gemeinderat, den Plan zu überprüfen und auf die Ausführung dieser Strasse
zu verzichten. Der Gemeinderat wies das Gesuch am 19. März 1962 ab. Die
Gesuchsteller rekurrierten dagegen an den Regierungsrat. Sie reichten im
Rekursverfahren ein vom Stadtplaner Hans Marti in Zürich in ihrem Auftrag
erstelltes Gutachten ein. Dieses gelangt zum Schluss, die mittlere Strasse
B. weise einen zu geringen Abstand von der unteren Strasse C auf; werde die
Strasse B so weit hangaurwärts verschoben, als zur Erzielung genügender
Bauplatztiefen zwischen ihr und der Strasse C notwendig sei, so lasse
sich durch die neue Strasse Al zugleich die Strasse A einsparen, die zu
wenig Bauland erschliesse, weil sie talseits an Grundstücken vorbeiführe,
die bereits durch die Neulandenstrasse erschlossen seien.

    Der Regierungsrat wies den Rekurs am 19. Februar 1963 ab. Er führte
dazu aus, die von einem Fachmann ausgearbeitete Lösung der Rekurrenten
sei rein planerisch gesehen vorteilhaft, indem sie die nicht sehr günstig
angelegte Strasse A ausschalte und durch die Strasse Al grundsätzlich zwei
Bautiefen erschliesse. Diesem anerkennenswerten Umstand stünden indes
wesentliche Tatsachen gegenüber, die gegen eine Änderung sprächen. Der
Vorschlag Marti nehme auf die bestehenden und im Vertrauen auf die
Rechtmässigkeit des Strassenplanes neu geschaffenen Eigentumsverhältnisse
keine Rücksicht. Das Grundstück Hirschy würde durch die Strasse Al fast
in der Mitte durchschnitten, so dass eine vernünftige Überbauung desselben
in Frage gestellt wäre. Hirschy habe einen legitimen Anspruch darauf, sein
Grundstück nach dem rechtskräftigen Strassenplan zu überbauen. Die Strasse
bleibe für die talwärts gelegenen Bauparzellen und die Parzelle Forrer
die einfachste und topographisch am besten geführte Erschliessungsstrasse.

    Hirschy, Forrer und Bischoff, die Eigentümer von Grundstücken an
der projektierten Strasse A sind, ersuchten den Gemeinderat am 19. März
1963, es sei diese Strasse zu erstellen. Der Gemeinderat beschloss am
19. April/14. Juni 1963, es sei die Strasse A gemäss dem vorliegenden
Projekt, das er genehmigte, als 3,5 m breite Güterstrasse zu bauen. Müller
und Hollenstein zogen diesen Beschluss an den Regierungsrat weiter,
der ihren Rekurs am 22. Oktober 1963 abwies.

    Am 20. November 1963 liess der Gemeinderat durch das Bezirksamt
Wil Müller und Hollenstein mitteilen, das Güterstrassenunternehmen
"Obere Neulanden" fordere die Abtretung von Land für den beschlossenen
Strassenbau. Beide Grundeigentümer erhoben dagegen Einsprache. Der
Bezirksrat legte die Einsprachen dem Regierungsrat zur Entscheidung
vor. Der Regierungsrat hat sie am 2. März 1964 abgewiesen. Er hat Müller
verpflichtet, rund 103 m2 vom Grundstück Kat. Nr. 1829 und rund 150 m2 von
Kat. Nr. 1908 dem Güterstrassenunternehmen "Obere Neulanden" zur Erstellung
der Erschliessungsstrasse abzutreten; desgleichen hat er Hollenstein
verhalten, dem Unternehmen rund 4 m2 vom Grundstück Kat. Nr. 1645
abzutreten. Er hat dazu ausgeführt, der Entscheid des Gemeinderates vom 19.
April/14. Juni 1963 über die Erstellung der Strasse sei mit der Abweisung
des dagegen gerichteten Rekurses der nunmehrigen Einsprecher rechtskräftig
geworden. Der Rekursentscheid vom 22. Oktober 1963 lege eingehend dar,
dass und weshalb dem obwaltenden Bedürfnis nach einer Erschliessungsstrasse
in den Oberen Neulanden nur unter Inanspruchnahme von Boden der Parzellen
Kat. Nr. 1829, 1908 und 1645 in befriedigender Weise Rechnung getragen
werden könne. Es erübrige sich daher, auf diese Frage zurückzukommen.

    Müller und Hollenstein führten gegen diesen Entscheid staatsrechtliche
Beschwerde wegen Verletzung des Art. 4 BV und der Eigentumsgarantie. Das
Bundesgericht hat die Beschwerde abgewiesen, soweit es darauf eingetreten
ist.

Auszug aus den Erwägungen:

                       Aus den Erwägungen:

    1./2. - (Prozessuales. Ob die Rüge des mangelnden öffentlichen
Interesses nicht verspätet sei, weil sie an den Entscheid des
Regierungsrates vom 22. Oktober 1963 oder an denjenigen vom 19. Februar
1963 anzuknüpfen gewesen wäre, kann offen bleiben, da sie, wie sich im
Folgenden ergibt, ohnehin einer materiellen Prüfung nicht standhält.)

Erwägung 3

    3.- Das verfassungsmässige Erfordernis des öffentlichen Interesses ist
nach der Rechtsprechung (vgl. Urteile vom 4. Februar 1959 i.S. Aeberhardt,
Erw. 2, und vom 6. Februar 1963 i.S. Schneider, Erw. 1), erfüllt,
wenn zwei Voraussetzungen gegeben sind: das Unternehmen, welches
das Enteignungsrecht in Anspruch nimmt, muss seiner Zwecksetzung und
tatsächlichen Wirksamkeit nach dem öffentlichen Wohle dienen; die zu
enteignende Sache muss sodann für das Unternehmen und seine Betätigung
im Dienste des öffentlichen Wohles notwendig sein (BLUMENSTEIN, Die
verfassungsmässigen Grundlagen des Expropriationsdekrets, MBVR 46 S. 210;
EGER, Enteignung von Grundeigentum, 3. Aufl. Bd. 1 S. 21 f.). Dabei genügt
es nicht, dass die abzutretende Sache für die Durchführung des Unternehmens
geeignet wäre; ihre Erwerbung muss vielmehr unumgänglich sein, um das im
öffentlichen Interesse liegende Ziel zu erreichen. Das ist freilich nicht
nur dann anzunehmen, wenn das Unternehmen ohne die Sache überhaupt nicht
durchführbar wäre, sondern schon dann, wenn es ohne sie nicht zweckmässig
oder nur mit einem unverhältnismässigen Mehraufwand ausgeführt werden
könnte (BLUMENSTEIN, aaO, S. 213; FLEINER, Institutionen, 8. Aufl., S. 311;
IMBODEN, Schw. Verwaltungsrechtsprechung, 2. Aufl. S. 298 c; JELLINEK,
Deutsches Verwaltungsrecht, 3. Aufl., S. 404). Diese unmittelbar aus
der Verfassung fliessenden Grundsätze kommen auch in der Umschreibung
der Voraussetzungen der Enteignung in Art. 1 Abs. 2 des st. gallischen
Enteignungsgesetzes zum Ausdruck.

    a) Gemäss den Erwägungen des Entscheides vom 22. Oktober 1963,
auf die der angefochtene Entscheid verweist, dient die geplante
Strasse A nicht nur den Interessen eines Privaten, sondern der
Erschliessung mehrerer Grundstücke. Die Erschliessung von Bauland
aber bildet eine Aufgabe, die im öffentlichen Interesse liegt (BGE 88
I 253 mit Verweisungen). Es kann allerdings nicht übersehen werden,
dass die Erstellung von Erschliessungsstrassen zugleich auch die
privaten Interessen der Anstösser fördert, die deshalb regelmässig zu
Kostenbeiträgen herangezogen werden. Das spricht indes so lange nicht
gegen das Vorhandensein eines öffentlichen Interesses, als die in der
gleichen Richtung laufenden privaten Interessen nicht offensichtlich
die Oberhand haben (BGE 88 I 253 mit Verweisungen). Bei Strassenbauten
steht das öffentliche Interesse im Allgemeinen so lange im Vordergrund,
als es mehrere Grundstücke zu erschliessen gilt oder die Erschliessung
im Hinblick auf die Schaffung einer grösseren Zahl von Wohn- oder
Arbeitsstätten erfolgt. Die projektierte Strasse A erschliesst eine Reihe
von Bauplätzen auf der Talseite der Strasse. Der Regierungsrat konnte
daher mit Fug davon ausgehen, es handle sich um ein im öffentlichen
Interesse liegendes Unternehmen.

    b) Eine andere Frage ist es, ob es nicht möglich wäre, die erwähnten
Grundstücke dem Verkehr zu erschliessen, ohne das verlangte Land in
Anspruch zu nehmen. Die Beschwerdeführer bestreiten das und machen geltend,
die vom Stadtplaner Marti vorgeschlagene Strasse Al vermöchte bei kleinerem
Landbedarf mehr Parzellen zu erschliessen als die Strasse A, die teilweise
über ihre Grundstücke führt. Entgegen ihrer Meinung ist diese Frage dem
Regierungsrat nicht entgangen. Der Entscheid vom 22. Oktober 1963, auf den
sich der angefochtene Entscheid beruft, erklärt dazu, die Linienführung
der Strasse sei durch den vom Kanton genehmigten rechtskräftigen
Strassen- und Baulinienplan vom 22. August 1958/28. Dezember 1959, der
von den Rekurrenten erfolglos angefochten worden sei, festgelegt. Der
Regierungsrat nimmt damit auf den Entscheid vom 19. Februar 1963 Bezug,
worin er den Vorschlag auf Ersatz der Strasse A durch die vom Stadtplaner
Marti vorgesehene Strasse Al abgelehnt hat.

    Bei Prüfung der dagegen erhobenen Einwendungen fällt in Betracht,
dass ein Strassen- und Baulinienplan entgegen den Ausführungen der
kantonalen Instanz nicht (materiell) rechtskräftig wird; er ist vielmehr
grundsätzlich jederzeit abänderbar. Im Interesse der Rechtssicherheit haben
die Planungsbehörden sich jedoch bei der Änderung der Pläne Zurückhaltung
aufzuerlegen. Der Plan dient nicht nur dazu, die bauliche Entwicklung
eines Gebietes im öffentlichen Interesse in bestimmte Bahnen zu lenken;
er soll zugleich auch den einzelnen Grundeigentümern gestatten, ihr Land
bestmöglich auszunützen. Beiden Aufgaben wird der Plan nur dann gerecht,
wenn er eine gewisse Beständigkeit aufweist (BONNARD, La jurisprudence
récente du Tribunal fédéral en matière de garantie de la propriété,
ZBJV 101 S. 133). Ein Plan ist deshalb nur aus gewichtigen Gründen
abzuändern. Ob solche vorliegen, haben die Planungsbehörden in Abwägung
der sich gegenüberstehenden Interessen nach pflichtgemässem Ermessen
zu entscheiden.

    Das Bundesgericht übt keine Ermessenskontrolle aus: Es greift nur
ein, wenn die zum Sachentscheid berufene kantonale Behörde ihr Ermessen
missbraucht oder überschritten, das heisst willkürlich gehandhabt
hat (vgl. BGE 88 I 252, 294; 89 I 196). Die Rüge der Missachtung
der Eigentumsgarantie erschöpft sich daher insofern im Vorwurf der
Verletzung des Art. 4 BV. Dieser Einwand ist hier nicht gerechtfertigt. Der
Regierungsrat anerkennt zwar die technischen Vorteile der vorgeschlagenen
neuen Lösung; er erachtet das Interesse an der Aufrechterhaltung des
bestehenden Planes aber als gewichtiger. Trotz der Bedeutung, die dem
Gebote der Rechtssicherheit nach dem Gesagten im Planungsrecht zukommt,
mag es als fragwürdig erscheinen, diesen Gesichtspunkt unter den gegebenen
Umständen derart in den Vordergrund zu rücken; es lässt sich aber nicht
sagen, die Betrachtungsweise des Regierungsrates sei völlig unsachgemäss
und schliesse einen Ermessensmissbrauch in sich. Die Beschwerde erweist
sich damit auch in diesem Punkt als unbegründet.